Frankreich
Die Bedrohung bleibt, die Angst schwindet langsam
Am Freitag, den 13. November 2015, verübten islamistische Attentäter eine Anschlagsserie auf beliebte Freizeitadressen der Pariser: eine Konzerthalle, ein Fußballstadion während des Freundschaftsspiels Deutschland-Frankreich und ein belebtes Ausgehviertel in der Nähe des Platzes der Republik. Die Wunden verheilen nur langsam. Vier Jahre später hat sich das Sicherheitsempfinden zwar verbessert, die Terrorgefahr ist in ganz Frankreich jedoch weiterhin präsent.
Fluctuat, nec mergitur, „Sie wankt, aber geht nicht unter“ – So lautet seit Ende des 19. Jahrhunderts der Wappenspruch der Stadt Paris, entlehnt von ihren florierenden Handelsschiffern. Die Devise steht ebenfalls sinnbildlich für den 13. November 2015, als die französische Weltmetropole und ihre Bewohner durch die verheerendsten Anschläge in ihrer Geschichte mit 131 Opfern mitten ins Herz getroffen wurden. Bereits zu Beginn des Jahres 2015 waren u.a. große Teile der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdound mit ihr die bekanntesten Zeichner Frankreichs Opfer eines Terroranschlags geworden. Die neue Redaktion trat kürzlich beim Straßburger World Forum for Democracyerstmals seit Januar 2015 im Rahmen einer Debatte über Pressefreiheit wieder öffentlich auf. Wie steht es jedoch um die Sicherheit der Bevölkerung und was hat sich nach Charlie Hebdound dem 13. November 2015 im Land verändert?
Unmittelbar nach den Anschlägen rief der damalige Staatspräsident François Hollande den Ausnahmezustand aus. Auch wurden zahlreiche innen- und außenpolitische Maßnahmen ergriffen, um die Sicherheit Frankreichs zu gewährleisten. So startete die französische Luftwaffe unmittelbar nach den Anschlägen erste Angriffe in Syrien und der Flugzeugträger Charles de Gaulle wurde an die syrische Küste verlegt. Ebenso berief sich Frankreich erstmals auf den in den EU-Verträgen enthaltenen „Bündnisfall“ (Artikel 42 (7) EUV). Dieser besagt, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats andere EU-Staaten dazu verpflichtet sind, den anrufenden Mitgliedstaat zu unterstützen - jedoch nicht zwingend militärisch. Dieser Bitte kam Deutschland nach eingehenden Debatten im Bundestag im Dezember 2015 nach.
Verschärfte Sicherheitsmaßnahmen
Auch im Alltag waren die Sicherheitsmaßnahmen gegen Terrorismus im Rahmen des „Plan Vigipirate“ für die französischen Bürger und Pariser Stadtbewohner spürbar: Taschen- oder gar Identitätskontrollen beim Betreten von Universitäten, Theatern und Geschäften und eine merkliche Aufstockung des Sicherheitspersonals, Abschaffung von Schließfächern in Bahnhöfen, transparente Müllsäcke im öffentlichen Raum und maximale Vorkehrungen beim Fund herrenloser Gepäckstücke zum Leidwesen vieler Reisender. Das Stadtbild bestimmten ebenfalls patrouillierende französische Soldaten mit Sturmgewehren vor der Brust und dies vor allem an Orten mit erhöhtem Schutzbedarf wie Bahnhöfe, Flughäfen, große Metro-Stationen oder jüdischen Versammlungsorten. Im Januar 2015 wurden 10.000 Soldaten im Rahmen der „Opération Sentinelle“ eine Schutzmission der Bürger übertragen, die Hälfte von ihnen war in Paris eingesetzt. Wenngleich der Einsatz des Militärs im Inland aus deutscher Sicht doch sehr gewöhnungsbedürftig ist, wurde er von Parisern und Touristen mit Verweis auf ein erhöhtes Sicherheitsempfinden durchaus begrüßt.
In der Folge wurde auch der „Plan Vigipirate“ reformiert und auf drei Alarmstufen erweitert. Die gängigste unter ihnen, die weiterhin vor allem in Großstädten gilt, ist die erste Stufe, „Vigilance“ (Wachsamkeit“). Sie beschreibt eine permanent erhöhte, jedoch diffuse Bedrohung und umfasst rund hundert Schutzmaßnahmen. Nachdem der Ausnahmezustand des 13. November zuerst über zwei Jahre hinweg sechsmal hintereinander ohne großen Widerstand verlängert wurde, verabschiedete das Parlament im Oktober 2017 ein „Gesetz zur Stärkung der Inneren Sicherheit und zur Bekämpfung des Terrorismus“. Der Ausnahmezustand war damit zwar aufgehoben, wesentliche Elemente und Befugnisse wurden jedoch dauerhaft in das neue Gesetz übernommen. Dies stieß bei vielen Kritikern des Ausnahmezustandes auf teils vehemente Proteste. Der mittlerweile amtierende Staatspräsident Emmanuel Macron hatte jedoch erreicht, dass der im Jahr 1978 vom damaligen Präsidenten Valérie Giscard d’Estaing ins Leben gerufen Anti-Terror-Plan nach Aussagen von Experten erstmals im Parlament debattiert, kontrolliert und durch eine Abstimmung demokratisch legitimiert wurde. Vor den Anschlägen 2015 und des Anschlags am französischen Nationalfeiertag 2016 in Nizza hätten solche Maßnahmen bei den sonst so freiheitsliebenden Franzosen kaum eine Mehrheit gefunden. Die Zeiten hatten sich leider geändert.
Sicherheitsgesetz mit Folgen
Das neue Sicherheitsgesetz räumte dem Staat und dessen Vertreter in der Folge wesentliche Befugnisse und Eingriffsmöglichkeiten ein, die durchaus demokratische Grundrechte Einzelner einschränken. Hierunter fallen beispielsweise Hausdurchsuchungen bei Terrorverdacht (mit richterlicher Erlaubnis), die Schließung von Kultstätten bei Verdacht auf Hassrede, die Einrichtung von Schutzzonen inkl. Kontrollen bei Massenveranstaltungen mit Terrorrisiko, sowie Personenkontrollen und Durchsuchungen in einem Radius von 20 Kilometern in Grenznähe sowie rund um Flughäfen, Seehäfen und Bahnhöfen. Dies schließt namentliche Kontrollen von Personen mit „objektiv ausländischer Nationalität“ in einem Radius von 10 Kilometer ab Landesgrenze ein. Die Tageszeitung Le Monde schätzte damals, dass ein Gebiet mit rund zwei Dritteln der Landesbevölkerung von solchen potentiellen Kontrollen betroffen sei.
Staatspräsident Macron rechtfertigte 2017 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Notwendigkeit des neuen Gesetzes: „Unsere Herausforderung besteht darin, die Franzosen effektiv gegen die andauernde und vielgestaltige terroristische Bedrohung im Rahmen des allgemeinen Rechts zu schützen. Die Maßnahmen, die dieses Recht in beschränkter Zahl vorsieht, sind zielgerichtet, verhältnismäßig und ausschließlich am Ziel der Prävention und der Bekämpfung des Terrorismus ausgerichtet.“
Die Frage, ob solche erhöhten Sicherheitsvorkehrungen nun tatsächlich zu mehr Sicherheit führen (von einer Abnahme der Kleinkriminalität einmal abgesehen) oder bei dauerhaften Anwendung vielmehr die Rechte Einzelner einschränken, möchte die Autorin bewusst offenlassen. Unumstritten ist hingegen, dass eine Häufung terroristisch und oftmals auch islamistisch motivierter Anschläge in Frankreich seit 2015 wirksame Antworten und eine noch engere Kooperation nationaler und internationaler Behörden erfordern. Umso mehr, als dass die Gefahr besteht, dass islamistische Einzelkämpfer, sogenannten lone wolfs, mit abnehmenden Einfluss des Islamischen Staats und insbesondere nach dem Tod ihres Anführers Abu Bakr al-Baghdadi womöglich zunehmendnach Europa zurückkehren. Die Gefahr von Einzeltätern steige, die nach der Spaltung europäischer Gesellschaften streben, argumentiert der bekannte französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel in seinem Buch „La Fracture“ (dt. „Der Bruch“).
Diffuse Bedrohung durch Terrorismus
Paris 2015, Nizza 2016, Straßburg 2018, Lyon 2019 – die Liste ließe sich für Frankreich noch um zahlreiche weitere Attentate, ob verübt oder vereitelt, ergänzen. Erst vergangene Woche verübte ein ehemaliger Anhänger des rechtsextremen Rassemblement National ein Attentat auf eine Moschee in Bayonne, Anfang Oktober verletzte ein Polizist Kollegen in der Pariser Polizeipräfektur tödlich. Der Kampf gegen islamistisch motivierten Terror sowie den sogenannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak gehört für Frankreich weiterhin zu den politischen Prioritäten. So erklärt sich auch die scharfe Verurteilung der türkischen Militäroperation in Syrien durch Staatspräsident Macron sowie seine provokante Infragestellung der Effizienz der NATO. Schließlich wird die Sicherheit Frankreichs auch in Nordsyrien verteidigt, hätte Peter Struck wahrscheinlich hinzugefügt.
Wenngleich das globale Sicherheitsempfingen der Franzosen in Umfragen trotz allem weiterhin zunimmt, bleibt die diffuse Bedrohung durch Terrorismus, ob politisch oder religiös motiviert, bestehen. Auch der vierte Jahrestag der Paris-Attentate auf das Bataclan, am Stade de France sowie die Restaurants um Le Petit Cambodgewird dies vielen Franzosen noch einmal in Erinnerung rufen. Den ganzen Tag über sind Gedenkveranstaltungen an verschiedenen Orten in Paris geplant. Viele Bürgerinnen und Bürger werden wahrscheinlich der imposanten Marianne-Statue, eine Personifikation der französischen Nation, auf dem Place de la Républiqueerneut ein Blumenmeer zu Füßen legen. Die Wunden verheilen langsam, die Erinnerung bleibt präsent.
Carmen Descamps ist European Affairs Managerin im Regionalbüro der Friedrich-Naumann Stiftung in Brüssel.