Israel
„Die Mehrheit der Israelis sind nicht bereit einander zu hassen“
Am Donnerstag erschütterte ein weiterer Terroranschlag Israel. Die Terrorwelle, die mit einem Anschlag am 22. März 2022 begann, hat bereits 14 Leben gekostet. Am Mittwoch hatte dazu die israelische Regierungskoalition ihre knappe Mehrheit (61 von 120 Stimmen) in der Knesset verloren, nachdem Idit Silman, Knessetabgeordnete der Partei Jamina von Premierminister Naftali Bennet, die Regierung in die Opposition unter Benjamin Netanjahu verlassen hatte. Freiheit.org hat mit Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Stiftungsbüros in Jerusalem, über die Bedeutung der neuen Terrorangst und Instabilität im Land gesprochen.
Sie waren gestern wenige Hundert Meter vom Anschlagsort in Tel Aviv entfernt. Wie haben Sie die Lage wahrgenommen?
Die Menschen auf der Straße waren sehr beunruhigt, man sah das Adrenalin in den Augen. Die Polizeipräsenz auf den Straßen war allgegenwärtig, sei es mit Streifenwagen oder auf Motorrädern. In Jerusalem wurden schnell wie in anderen Landesteilen mobile Checkpoints eingerichtet und der Verkehr stärker kontrolliert. Durch die erhöhten Sicherheitskontrollen und Polizeipräsenz staute sich in Jerusalem dann der Verkehr am Damaskus-Tor, an dem sich im Ramadan viele Muslime nach dem Fastenbrechen treffen. Die Angst kann schwer kanalisiert werden, weil die Anschläge der letzten Wochen, die in verschiedenen Städten stattfanden, von Tätern mit ganz unterschiedlichem Hintergrund verübt wurden. Seit der zweiten Intifada Anfang der 2000er - Jahre gehören Terroranschläge aber für viele auch zum traurigen Alltag.
Was bedeuten die Anschläge für das Leben von Israelis und Palästinensern?
Die Angst vor Terroranschlägen ist in den Alltag zurückgekommen. Auch wenn sehr wenige Täter gemordet haben, schüren die Anschläge das Misstrauen und erhöhen auch den Druck auf die gesamte palästinensische Bevölkerung. Mahmoud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, hat den Anschlag schnell verurteilt. Aber die israelische Armee hat gleichzeitig weitere Einheiten in das Westjordanland entsendet. In der Chatgruppe unseres ME2.0 Forums, zu dem seit über zehn Jahren palästinensische wie israelische Unternehmerinnen und Unternehmer gehören, sprach man sich gleich Mut zu, sich nicht von den Ereignissen die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zerstören zu lassen. Denn auch jüdische Extremisten nutzen die Terrorangst für ihre politischen Ziele. Yair Lapid, der israelische Außenminister und Vorsitzende unserer liberalen Partnerpartei Yesh Atid – wie die deutsche FDP Mitglied der Liberalen Internationalen - stellte sich gegen ein Zerreißen der israelischen Gesellschaft, die zu über 20 % aus Arabern besteht, in dem er twitterte: „Wir sind entschlossen zu beweisen, dass die große Mehrheit der Israelis nicht bereit ist, einander zu hassen. Echte israelische Patrioten ziehen ihr Land nicht in Extremismus und Gewalt“. Aber im anhaltenden Ramadan liegen auch in Jerusalem die Nerven blank und wir können nur hoffen, dass sich hier in den kommenden Wochen keine weitere Gewalt entlädt.
Die israelische Regierung hat am Mittwoch ihre knappe Mehrheit eingebüßt. Droht die Regierung in der aktuellen Krise zusammenzubrechen?
Die Menschen in Israel haben eine größere Resilienz oder Krisenfestigkeit als in vielen europäischen Ländern, was sie übrigens mit den Palästinensern eint. Die vorherige Parlamentsmehrheit von einer Person für die Regierungskoalition hat sich am vergangenen Mittwoch zu einer Pattsituation verändert. Aber auch vor dem Wechsel der rechten Abgeordneten Idit Silman zum oppositionellen Likud musste die Regierung um jede Stimme kämpfen. Bei jedem Gesetzesvorhaben gab es Abweichler auf beiden Seiten. Oppositionsführer Benjamin Netanjahu hat dagegen auch keine Mehrheit für eine Alternativkoalition unter seiner Führung. Deswegen erlebt die komplexeste Regierung der israelischen Geschichte jetzt eine echte Krise, sollte aber nicht zu vorschnell abgeschrieben werden. Durch die Krise ist deutlich geworden, dass die Regierung aktuell nicht allein auf der internationalen Bühne als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine glänzen kann, sondern ein größeres Augenmerk auf die Binnenpolitik und die Befriedung des israelisch - palästinensischen Konflikts richten muss.