Naher Osten
Der Nahe Osten am Wendepunkt
Nach langen Jahren, in denen die Situation im Nahen Osten weitgehend hoffnungslos festgefahren schien, überschlagen sich gegenwärtig die Ereignisse in unserer geographischen Nachbarregion. Ganz aktuell weckt die Aussicht auf einen unmittelbar bevorstehenden Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas in der Region und weltweit Hoffnungen auf ein Ende des Kriegs, die Freilassung der Geiseln und einen Neuanfang in Gaza. Die Anzeichen einer politischen Neuordnung sind nicht zu übersehen: Vom Waffenstillstand zwischen Libanon und Israel, der militärischen Niederlage und Schwächung der Hisbollah bis zum überraschenden Zusammenbruch des Assad-Regimes in Syrien, allesamt Entwicklungen, die den Niedergang der sogenannten „Achse des Widerstands“ einläuten. Politisch nährt die Wahl eines reformorientierten Präsidenten im Libanon zudem die Hoffnung auf einen umfassenden Neuanfang in diesem krisengebeutelten und geschichtsträchtigen Land.
Inmitten dieses dramatischen Wandels blicken wir auf die Chancen und Herausforderungen, die mit einem politischen Transformationsprozess in der Region einhergehen. Vor diesem Hintergrund sprechen wir mit Jörg Dehnert, dem Regionalbüroleiter MENA der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Amman, über die Dynamik der aktuellen Entwicklungen und die Perspektiven für eine friedlichere und stabilere Zukunft.
FNF: Herr Dehnert, eine gebannte Weltöffentlichkeit wird Zeugin rasanter Veränderungen in der MENA-Region. Wie schätzen Sie die aktuelle Dynamik und Ihre Auswirkungen für den Nahen Osten ein? Wie erklären Sie sich den Zeitpunkt dieser teilweise überraschenden und zeitlich überlappenden Entwicklungen?
Jörg Dehnert: Zunächst einmal bedeuten die von Ihnen aufgeführten Entwicklungen, insbesondere der zustande gekommene Waffenstillstand in Gaza, trotz seiner erstmal zeitlichen Begrenzung die Hoffnung auf eine Perspektive für ein Ende der Leidenszeit der Zivilbevölkerung in der Region des Nahen Ostens, das ich als „MENA-Pentagon“ bezeichnen möchte, also dem „Länderfünfeck“ bestehend aus Israel, Palästina, Libanon, Syrien und Jordanien.
Ganz besonders freut es mich für die Geiseln, die sich seit über einem Jahr unter unmenschlichen Bedingungen in den Händen der Hamas befinden, und deren Familien sowie für die unschuldige Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens. Beide Gruppen haben zweifellos am schlimmsten leiden müssen. Ich wünsche ihnen, dass sie dieses Trauma irgendwie überwinden und wieder nach vorne schauen können.
Für die von Ihnen angesprochene Dynamik gibt es meiner Meinung nach drei Hauptgründe: Zum Ersten hat der Wahlausgang in den USA diese Entwicklung begünstigt und auch forciert. Die neue Trump Administration hat nicht nur klargemacht, dass sie das Ende dieses Konfliktes fordert und notfalls auch vor drastischen Mitteln nicht zurückschreckt. Auch hat sie, wie man aus der Anhörung Marco Rubios, dem potentiellen Außenminister, gestern im Senat entnehmen konnte, eine klar pro-israelische Position bezogen. Die Hamas hat es versäumt, unter der nun ausscheidenden und ihren Interessen offener gegenüberstehenden Biden-Regierung eine für sie günstigere Lösung zu vereinbaren. Wäre sie früher zu Kompromissen bereit gewesen, wäre der Druck auf die Netanyahu Regierung, die den Biden-Plan auch versucht hatte zu verzögern, erheblich gestiegen. Um nun eine noch schlechtere Lösung zu vermeiden, hat sie sich nun anscheinend Kompromissbereiter gezeigt.
Zum Zweiten ist es Israel gelungen, die Terrororganisationen und Proxies des Mullah-Regimes in Teheran, Hamas und Hisbollah, entscheidend zu schwächen. In diesem Zusammenhang ist auch klargeworden, dass die militärischen Kapazitäten beider Terrororganisationen doch ziemlich überschätzt wurden von den meisten westlichen Experten. Darüber hinaus haben die israelischen Militäraktionen gegen und im Iran, dem dortigen Regime die Grenzen bzw. ihre eigene Verletzlichkeit aufgezeigt. Zwar gab es zweimal militärische Gegenaktionen des Iran gegen Israel, die aber mehr gesichtswahrend als abschreckend waren. Letztendlich hat der Iran seinen Proxies Hisbollah im Libanon und auch das Assad Regime in Syrien eine entscheidende und ausschlaggebende Unterstützung versagt.
Und sicherlich hat drittens nicht ganz zuletzt eine auf allen Seiten eingesetzte Ermüdung der Kräfte wie auch die stärker werdende innenpolitische Kritik in den Konfliktländern zu dieser Entwicklung beigetragen.
Welche kurz- und langfristigen Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die direkt betroffenen Länder und die weitere Region?
Bei allen Unwägbarkeiten, die sich aus der dynamischen Situation ergeben, kann folgendes konstatiert werden. Die jüngsten Entwicklungen eröffnen, sofern sie nicht nur temporär, d.h. für einen kurzen Zeitraum, sondern längerfristig Bestand haben, und auch nur dann, Chancen hin zu mehr Demokratie, Menschenrechten und wirtschaftlichem Aufschwung. Wie gesagt, wenn sich diese Tendenz verstetigen sollte. Dabei ist es wichtig, dass die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen, Lösungen und Entscheidungen von demokratisch legitimierten Personen und Organen vor Ort entwickelt und getroffen- und nicht von außen diktiert werden.
Der Libanon hat mit dem neuen Präsidenten und der hoffentlich bald vom Parlament bestätigten Regierung eine gute Chance, mit internationaler Unterstützung, und hier explizit Unterstützung und nicht Einmischung oder Belehrungen, einen politischen Neuanfang hin zu einer stabileren Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen. Dabei wird es besonders darauf ankommen, alle Bevölkerungsgruppen, insbesondere die Schiiten in diesen Prozess und Entwicklung miteinzubinden. Die internationale Unterstützung und Hilfe sollte allerdings dahingehend konditioniert werden, dass die Hisbollah nie wieder den Libanon und seine Bevölkerung in Geiselhaft nehmen kann. Sollte dies nicht gelingen, wird es für den Libanon meiner Meinung keinen Erfolg geben.
Ähnlich kann eine Entwicklung in Gaza und der Westbank erfolgen. Dort muss allerdings abgesehen von allen anderen notwendigen Maßnahmen zunächst massiv internationale humanitäre Hilfe geleistet werden, um das unsägliche Leid der Zivilbevölkerung so schnell wie möglich zu lindern. Nur so kann man die Menschen dort vor Ort für ein Engagement und Zustimmung für die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen gewinnen. Auch hier gilt, die Hamas darf in diesem Prozess keine Rolle spielen. Für Lösungsansätze des israelisch-palästinensischen Konflikts gelten meiner Meinung nach zwei Grundvoraussetzungen:
Solange Israel nicht eine unzweideutige Existenzgarantie der arabischen Staaten und die Unverletzlichkeit der Grenzen erhält, solange wird es keinen Palästinenserstaat geben. Und wenn Israel basierend auf dieser Garantie nicht akzeptiert, dass die Palästinenser einen eigenen unabhängigen und souveränen Staat mit Staatsgebiet erhalten, solange wird es für Israel keinen Frieden geben.
Was Syrien anbelangt, so bin ich da wesentlich weniger optimistisch. Man hört und liest in den Medien sehr viel über die angebliche Offenheit und Toleranz der neuen Machthaber. Spricht man jedoch mit Sicherheitsexperten aus der Region oder in der Region stationiertem internationalen Sicherheitspersonal, so ergibt sich ein völlig anderes Bild. Es herrscht weiterhin große Gewalt gegenüber innenpolitischen Gegnern und eine rigorose Sharia-Gesetzesanwendung in bestimmten Regionen Syriens trotz offiziell anderslautenden Verlautbarungen. Auch die politischen Interessen Israels hinsichtlich der Golanhöhen und er Türkei bezüglich der Kurden in Nordsyrien lassen einiges befürchten. Auch ist unklar, welche Rolle die syrische Diaspora, immerhin befinden sich mittlerweile über 8 Millionen Syrer außerhalb ihres Heimatlandes, spielen kann oder soll. Innerhalb Syriens gibt es unterschiedliche, teilweise sich feindlich und darüber hinaus bewaffnet gegenüberstehende Gruppen, die alle ihr „Stück vom Kuchen“ abgekommen wollen. Wer unter diesen Bedingungen wie für Recht und Ordnung, und weiter für welches Recht in welcher Ordnung sorgen soll, ist ebenfalls bis jetzt ungeklärt. Auch ist unklar, welche Rolle die bisherigen quasi Schutzmächte Iran und Russland spielen werden. Zwar haben sie den Sturz des Assad Regimes schlussendlich nicht verhindert und keine Unterstützung zukommen lassen. Ob sie aber bereit sind, sich völlig aus der Entwicklung herauszuhalten, ist doch sehr zweifelhaft.
Mittendrin als indirekt beteiligtes Land ist Jordanien. Nach dem Libanon hat es die höchste Flüchtlingsrate der Welt in Bezug auf die eigene Bevölkerung. Nicht nur befinden sich 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge im Land, sondern auch ca. 400.000 Iraker und nicht zu vergessen haben nahezu 70% der Jordanier palästinensische Wurzeln. Hinzu kommen die Grenzen zu Syrien, Irak und Saudi-Arabien, die weiteres Konfliktpotential bergen. Größtes Problem und Sorge Jordanien sind die derzeitigen Entwicklungen in Syrien und der Westbank. Einen weiteren Flüchtlingsstrom kann das Haschemitische Königreich weder politisch, noch ökonomisch oder sozial verkraften. In der derzeitigen Konfliktlage hat der jordanische König es durch geschickte Diplomatie und staatsmännisches Geschick verstanden, die Lage stabil und sicher zu halten. Diese Stabilität, die Jordanien im Übrigen auch während des Arabischen Frühlings und der Zeit danach im Gegensatz zu den anderen arabischen Ländern ausgezeichnet hat, darf keinesfalls verloren gehen. Neben Israel ist Jordanien das derzeit einzige Land in der MENA-Region, das sich geopolitisch an den Westen gebunden hat. Israel und die USA haben dies erkannt und ihre Politik dementsprechend ausgerichtet. Von Europa und Deutschland kann man dies leider nicht konstatieren.
Der Nahe Osten ist die unmittelbare Nachbarregion Europas, deren strategische Bedeutung für Sicherheit und Stabilität nicht zu unterschätzen ist. Welche konkreten Handlungsoptionen ergeben sich aus Ihrer Sicht für Europa und Deutschland, um die Region in dieser kritischen Weggabelung zu unterstützen?
Europa und vor allem Deutschland haben in den arabischen Ländern nach dem 7. Oktober viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit durch die von den arabischen Ländern als einseitig empfundene Parteinahme im israelisch-palästinensischen Konflikt verloren. Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die deutschen Entwicklungshilfeorganisationen entsprechend aus. Hauptgrund war eine rein werteorientierte Außenpolitik, die Deutschland dem Vorwurf der Doppelstandards und Realitätsferne einbrachte. Die USA hatten es da mit ihrer traditionellen Interessenpolitik wesentlich einfacher. Europa und Deutschland müssen ihre Interessen klarer und vor allem deutlich formulieren, artikulieren und dann auch konsequent verfolgen. Das mag dann nicht jedem Gesprächspartner, in diesem Fall Ländern oder Regierungen gefallen, aber man bleibt glaubwürdig.
Konkret auf die Situation in MENA bezogen, sollten wir zunächst einmal zuhören, was die Mehrheit der Bevölkerungen als große Herausforderung sehen, welche Bedürfnisse sie haben. Eine mittel- oder langfristige Stabilität wird in der Region nur dann eintreten, wenn die notwendigen Reformen und Entscheidungen nicht an den Bevölkerungen vorbei oder gegen sie getroffen werden. Das bedeutet, dass wir uns vor allem vor Belehrungen und Vorgaben hüten sollten. Wir müssen schauen, welche Kräfte, Personen, Bewegungen oder Parteien unsere Interessen und Werte im Sinne von Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft vertreten, und diese dann gezielt unterstützen. Das bedeutet, ihnen zu helfen, ihre Konzepte umzusetzen. Dabei geht es nicht in erster Linie finanzielle Unterstützung, sondern um Beratung und Moderation und Förderung wichtiger zukünftiger Entscheidungsträger. Wir sollten aber auch klar und deutlich artikulieren, was und mit wem Dinge nicht gehen. Also nochmal, die eigenen Interessen unzweideutig erläutern.
Was kann eine politische Stiftung wie die Friedrich-Naumann-Stiftung in einem solchen Transformationsprozess konkret beitragen, um demokratische und liberale Kräfte zu stärken?
Wie wir nach dem Fall der Mauer in ganz Osteuropa gesehen haben, sind die Konzepte und Lösungsansätze für die Transformationsprozesse, nicht von der Politik oder Politkern entwickelt worden, sondern kamen aus NGOs oder Think Tanks. Die Politiker haben diese Konzepte dann übernommen, teilweise in Kompromissen modifiziert und letztendlich entschieden und umgesetzt. Dies trifft im Übrigen auch auf die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu.
Ein zweiter wichtiger Bestandteil einer stabilen Demokratie ist eine starke und funktionierende Zivilgesellschaft, engagierte und interessierte Bürger. Eine Demokratie ohne Demokraten funktioniert nicht, wie wir ebenfalls an bestimmten Beispielen sehen können. Und genau an diesen Punkten muss die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung ansetzen. Schließlich sind die deutschen politischen Stiftungen vor allem aus diesem Grund entstanden, Stärkung der Zivilgesellschaft und Bürger für Demokratie durch die Instrumente der Politischen Bildung, des Politikdialogs und der Politikberatung zu interessieren und sie zu animieren, sich dafür zu engagieren.
Als Stiftung müssen wir also in den Ländern, Personen, Organisationen und Parteien identifizieren, die unsere, d.h. liberale Demokratievorstellungen teilen und vertreten, und diese unterstützen. Hier gilt der gleiche Grundsatz wie schon zuvor, keine Belehrungen und Erklärungen, wie die Welt funktioniert, sondern die Partner in ihrem Bestreben zu unterstützen, ihnen zu helfen und ihnen auch die Plattformen, regional wie international zu geben, ihre Vorstellungen zu artikulieren. Wir können ihnen insbesondere dabei helfen, diese Konzepte auch in die Diskussion in Europa und Deutschland einzubringen.
Einen ganz besonderen Schwerpunkt sollten wir in dieser Arbeit auf die junge Generation legen. Im Gegensatz zu Deutschland, das die drittälteste Bevölkerung der Welt hat, herrscht eine größere gesellschaftliche Dynamik und es können Politikansätze für die die Lösung zukünftiger Probleme anstelle eher Status-Quo orientierter Konzepte erfolgen. Hier liegt eine sehr große Chance, diese jungen Menschen für Demokratie als zwar nicht perfektes aber dennoch bisher bestes und erfolgreiches politisches System zu begeistern und zu überzeugen.
Vielen Dank, Herr Dehnert, für Ihre Zeit und Ihre Einschätzungen zu diesen entscheidenden Entwicklungen in der Region.