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Antisemitismus
Israel: Ein Land zwischen Trauma und Hoffnung

 besuchte sie das Kibbutz Be'eri, das am 7. Oktober 2023 Opfer des brutalen Angriffs der Hamas wurde.

Besuch des Kibbutz Be'eri, das am 7. Oktober 2023 Opfer des brutalen Angriffs der Hamas wurde.

© FNF

Eines wird einem unweigerlich bewusst, wenn man in diesen Tagen nach Israel reist: Der 7. Oktober 2023 ist für Israelis kein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit. Der Tag, an dem über 3.000 schwerbewaffnete Hamas-Kämpfer das Land überfielen, ist allgegenwärtig. Ob in privaten Gesprächen, im politischen Diskurs oder bei den wöchentlichen Samstagabend-Demonstrationen der Angehörigen der Geiseln – der „schwarze Schabbat“ und seine weitreichenden Folgen dominieren das öffentliche Leben. Die Zeit scheint am 7. Oktober 2023 stehen geblieben zu sein, als die Hamas das größte Massaker an Juden seit der Shoah verübte und das Sicherheitsversprechen Israels an die eigenen Bürger in Frage stellte. Für viele Israelis markiert dieses Datum daher einen Wendepunkt zwischen „Vorher“ und „Nachher“. Diese allgegenwärtige Präsenz des 7. Oktobers war auch der erste Eindruck, den wir bei unserer Reise anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages (27. Januar), bei unserer Ankunft in Israel Ende Januar spürten.

Anlässlich des Gedenktages begleiteten Annett Witte, die Geschäftsführerin der Friedrich-Naumann-Stiftung, und ich das Filmteam des Kinofilms „Die Ermittlung“, um diesen eindrucksvollen Film auch dem israelischen Publikum näherzubringen. Der Film adaptiert das gleichnamige Theaterstück von Peter Weiss, das der deutsch-jüdische Autor Mitte der 1960er Jahre verfasste. In seinem Werk verarbeitet Weiss Zeugenaussagen und Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses. In unmissverständlich klarer Sprache, konfrontiert der Film Täter und Opfer und lässt das Grauen in Auschwitz spürbar werden.

Unser Aufenthalt anlässlich der Filmvorführungen bot uns zudem die Möglichkeit, mit liberalen Freunden und Partnern zusammenzutreffen und uns vor Ort ein Bild von der aktuellen Stimmung im Land zu machen. Schnell wurde uns bewusst, dass auch unser Anliegen – die deutsch-israelischen Beziehungen im Bewusstsein und Gedenken an die Schrecken der Vergangenheit zu würdigen und weiter auszubauen – untrennbar mit der israelischen Gegenwart und dem Trauma des 7. Oktober verbunden ist. Mehr noch: Mir scheint, dass in keinem anderen Land Vergangenheit und Gegenwart so eng miteinander verwoben sind und das kollektive Selbstverständnis der Menschen so prägen wie in Israel.

Diese tiefe Verbindung wurde besonders deutlich, als wir am Morgen nach unserer Ankunft im Kibbutz Be’eri vor den ausgebrannten Skeletten zerstörter Häuser standen und erschüttert den Berichten unserer Führerin folgten – eine Überlebende des Massakers vom 7. Oktober. Mehr als 100 Bewohner dieser kleinen Ortschaft wurden an diesem Tag brutal ermordet. Innerhalb weniger Stunden verlor die Kibbutz-Gemeinschaft zehn Prozent ihrer Mitglieder – darunter Kinder, Frauen und ältere Menschen. Weitere 50 Bewohner wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Kibbutz Be’eri
© FNF

Während wir von den verzweifelten Fluchtversuchen der Kibbutzbewohner hörten und von Eltern, die ihre Kinder in letzter Hoffnung vor den mordenden Angreifern versteckten, drängten sich uns allen Assoziationen zu den Gräueltaten anderer Epochen auf. Ob spontane Pogrome gegen Juden in Osteuropa oder die systematische Verfolgung und spätere Vernichtung durch das NS-Regime während des Zweiten Weltkriegs – vieles, was wir hörten, rief Bilder wach, von denen wir geglaubt hatten, sie gehörten für immer der Vergangenheit an.

Nur zehn Autominuten vom Kibbuz entfernt lag die nächste Station des Grauens: das Gelände des Nova-Musikfestivals. Hier fanden am 7. Oktober 364 junge Menschen den Tod – nach brutalen Menschenjagden, Massenvergewaltigungen und gezielten Exekutionen durch Hamas-Terroristen. Dutzende weitere wurden in den Gazastreifen verschleppt.

Unterwegs sahen wir auch die mobilen Raketenschutzbunker an Bushaltestellen – ein vermeintlicher Zufluchtsort, der sich für viele Festivalbesucher in eine tödliche Falle verwandelte. Diese Betonbunker, überfüllt und mit nur einer einzigen Öffnung, boten keinen wirklichen Schutz. Die Angreifer nutzten dies aus, warfen Handgranaten in die engen Räume und feuerten gezielt auf die Menschenmenge, die sich darin zusammendrängte. Die wenigen, die diesen Massakern entkamen, waren jene, die sich unter den Leichen anderer Opfer versteckten und tot stellten.

Anlässlich des Holocaust-Gedenktages in dieser Woche begleitete die Friedrich-Naumann-Stiftung die Premiere von “Die Ermittlung” in Israel. Regisseur @rpkahl zeigte sich bewegt, seinen Film an diesem Tag dem israelischen Publikum vorstellen zu können.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung begleitete die Premiere von “Die Ermittlung” in Israel. Regisseur RP Kahl zeigte sich bewegt, seinen Film an diesem Tag dem israelischen Publikum vorstellen zu können.

© FNF

Als Regisseur RP Kahl am Abend vor der Vorführung seines Films im Tel Aviver Programmkino Cinemateque eine kurze Ansprache hielt, überwältigten ihn die Emotionen. Zum einen wohl angesichts der besonderen Bedeutung dieses Moments – am Internationalen Holocaust-Gedenktag in Israel vor einem israelischen Publikum den Film präsentieren zu dürfen. Zum anderen stand er noch sichtlich unter dem Eindruck der erschütternden Erlebnisse an den Orten des Grauens, die er zuvor besucht hatte. Seine aufrichtigen Worte und spürbare Ergriffenheit, die ihn zeitweise am Weiterreden hinderten, wurden vom Publikum mit ermutigendem Applaus gewürdigt.

Im Anschluss an den Film fand eine lebhafte Fragerunde mit dem Filmteam statt, darunter Regisseur RP Kahl, Produzent Alexander van Dülmen sowie die Schauspieler Rony Herman und Axel Sichrovsky. Die Zuschauer teilten persönliche Geschichten über Angehörige, die Auschwitz überlebt hatten, und es entstand eine intensive Diskussion über die Bedeutung der Veröffentlichung des Films. Während der Diskussion wurde mir nochmal bewusst, wie wichtig dieses Filmprojekt ist. Als politische Stiftung, die für die Werte der Freiheit und der offenen Gesellschaft, der Menschenrechte und der Toleranz eintritt, ist es unsere Aufgabe, zu verhindern, dass sich die Barbarei, für die „Auschwitz“ steht, jemals wiederholen kann. Das ist aber nicht nur eine historische Verantwortung unserer Stiftung, das ist eine historische Verantwortung aller Deutschen. Wir haben kein Recht zu glauben, die Beschäftigung mit dieser Geschichte sei überflüssig geworden.

In den drei Tagen vor Ort konnten wir uns in vielen Gesprächen mit israelischen und internationalen Gesprächspartnern über die Erinnerung an den Holocaust, die historische Verantwortung und die deutsch-israelischen Beziehungen austauschen. In all diesen Gesprächen wurde aber auch immer wieder deutlich, wie tief das Land gespalten ist. Während die rechtsgerichteten Kräfte das Massaker vom 7. Oktober vor allem dem Versagen der Sicherheitsbehörden zuschreiben, sieht die Opposition ein Versagen der politischen Führung, allen voran bei Ministerpräsident Netanjahu und seinen extremistischen Ministern. Einer der größten Streitpunkte, der das Land weiterhin tief spaltet, bleibt die Frage, wie die Befreiung der Geiseln herbeigeführt werden soll und wie das zukünftige Verhältnis zu den Palästinensern und den anderen Staaten der Region auszusehen hat. Dabei wurde auch immer wieder deutlich, dass es die aktuelle Regierung nicht vermocht hat, strategische Allianzen in der Region zu entwickeln und eine realistische Diskussion über die Zukunft des Gazastreifens und dem Verhältnis zu den Palästinensern zuzulassen. Viele Gesprächspartner mahnten daher immer wieder an, die militärischen Erfolge in eine kohärente politische Strategie umzusetzen und so die Hamas-Herrschaft im Gazastreifen zu beenden.

Besonders eindrücklich war unser Besuch bei dem Institute for National Security Studies, dem führenden sicherheitspolitischen Think-Tank Israels und einem Partner der Stiftung. Der Leiter des Instituts, Tamir Hayman führte uns die sicherheitspolitischen Herausforderungen für Israel in der Region vor Augen. In Syrien bleibt die Gefahr, dass eine extremistische religiöse Ideologie die Oberhand gewinnt oder zumindest autoritäre Führungsmuster übernommen werden. Zudem könnte der Iran durch die Schwächung der eigenen Proxy Struktur in der Region verleitet sein, den Bau von eigenen Atomwaffen voranzutreiben. Ein Szenario, dass nicht nur israelische Sicherheitsinteressen massiv verändern würde, sondern die Machtbalance der gesamten Region verschieben könnte. Das zeigt: Die Erfolge gegen die Stellvertreter Irans haben das regionale Gleichgewicht zwar neu ausgestaltet, bringen aber auch neue Risiken mit sich.

Es ist daher von entscheidender Bedeutung, die deutsch-israelischen Beziehungen weiter zu vertiefen, bestehende Dialoge zu stärken, liberale Kräfte zu ertüchtigen und neue Brücken des Verständnisses zu bauen. Doch darüber hinaus braucht es einen klaren Blick nach vorn: Israel und die Region benötigen neue Impulse für Frieden und Stabilität. Die Erlebnisse dieser Reise haben uns einmal mehr gezeigt, wie tief die Wunden des 7. Oktober sind – aber auch, wie groß die Hoffnung und die Sehnsucht nach einer sicheren und friedlichen Zukunft ist. Es liegt an uns allen, diesen Weg mitzugehen und ihn mitzutragen.

Bei Medienanfragen kontaktieren Sie bitte:

Florian von Hennet
Florian von Hennet
Leiter Kommunikation, Pressesprecher
Telefon: + 4915202360119
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