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Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Ein guter Tag für den Rechtsfrieden

Bundesverfassungsgericht
© picture alliance/dpa | Uli Deck

Rechtsprechung ist nicht immer leicht verständlich. Sie kann kompliziert und ihr Ergebnis manchmal frustrierend sein. Deshalb streiten Juristen leidenschaftlich über Paragrafen und deren Auslegung. Deshalb erlässt der Gesetzgeber neue Gesetze und ändert bestehende. Das Recht muss neuen Entwicklungen angepasst werden und mit der Zeit gehen. Denn wer hätte 1949, als das Grundgesetz verabschiedet wurde, schon an heutige Herausforderungen durch digitale Überwachung oder Cyberkriminalität denken können.

Es gibt jedoch fundamentale Grundsätze in unserer Rechtsordnung, die bereits im Römischen Reich eingeführt wurden und bis heute Bestand haben. Dazu gehört das sprichwörtliche „in dubio pro reo“: Im Zweifel für den Angeklagten. Und dazu gehört „ne bis in idem“: Nicht zweimal in derselben Sache. Dieser Grundsatz verbietet es, einen Täter für dieselbe Tat zweimal zu bestrafen – und er verbietet, dass jemand, der einmal verurteilt oder freigesprochen wurde, wegen derselben Tat wiederholt strafverfolgt wird. Kurzum: Wer freigesprochen wurde, bleibt freigesprochen.

Vor zwei Jahren beschlossen die Bundestagsfraktionen der damaligen Großen Koalition aus Union und SPD, dass dieser Grundsatz wegen eines Einzelfalls aufgegeben werden müsse. Das neue „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“ sollte es Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, Ermittlungen gegen zuvor rechtmäßig freigesprochene Verdächtige in Fällen schwerwiegender Verbrechen wie Mord oder Völkermord wiederaufzunehmen. Voraussetzung war, dass neue Beweismittel darauf hindeuten, dass der einst Freigesprochene möglicherweise doch der Täter sein könnte.

Das mag nachvollziehbar und gerecht klingen, ist aber aus guten Gründen verfassungswidrig. Das entschied das Bundesverfassungsgericht diese Woche in einem mit Spannung erwarteten Urteil. Es ist eine Entscheidung, die auf Unverständnis treffen mag. Es ist aber auch eine Entscheidung, die richtig ist. Denn Freisprüche dürfen in einem Rechtsstaat nicht grundsätzlich „Freisprüche auf Widerruf“ sein. Wenn das Damoklesschwert einer möglichen Strafverfolgung dauerhaft über einem Menschen schwebt, ist ein Leben in Würde und Freiheit kaum mehr möglich. Ein nur bedingt gültiger Freispruch wäre entwertet. Rechtssicherheit und die Gleichheit vor dem Gesetz verkämen zur Farce. Deshalb darf nach geltendem Recht nur in wenigen eng begrenzten Ausnahmefällen ein mit einem Urteil rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren wiederaufgenommen werden, beispielsweise bei einem Geständnis des Freigesprochenen oder anderen grundlegenden Fehlern. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil betont, dass dies auch weiterhin möglich sein muss. Voraussetzung dafür ist, dass das ursprüngliche Urteil unter schwerwiegenden Mängeln getroffen wurde und die Anforderungen an ein gesetzlich normiertes rechtsstaatliches Verfahren deutlich verletzt wurde. Es kann daher unter sehr engen Voraussetzungen   ein grundlegender Verfahrensfehler oder ein späteres Geständnis des Täters zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens führen. Entscheidend ist jedoch, dass es nicht um ein allgemeines Beweisermittlungsverfahren mit offenem Ausgang geht, was ja gerade bei einem Geständnis des freigesprochenen Täters nicht der Fall ist, sondern das rechtsstaatliche Grundsätze nicht beachtet wurden.

Hätte das vom Verfassungsgericht gekippte Gesetz dagegen Bestand gehabt, bliebe jeder nach rechtsgeleiteten Verfahren Freigesprochene in Fällen von Mord oder Völkermord ein dauerhaft Beschuldigter. Er müsste sich jederzeit wieder vor Gericht verantworten, wenn der Staat es verlangt. Um die Konsequenz zu verstehen, sollte man nicht nur die Perspektive eines zu Unrecht freigesprochenen Täters, sondern auch die eines zurecht freigesprochenen Unschuldigen einnehmen. Ist dieser einmal freigesprochen worden, bestünde Zeit seines Lebens die Gefahr, dass ein neuer vermeintlicher Beweis vorgelegt wird – und sei es eine allein aus Opportunität gemachte Zeugenaussage. Sobald der einst Freigesprochene wieder vor Gericht gestellt wird, wirkt es so, als ob seine Schuld nun doch bewiesen sei. Aber das wäre sie nicht. Denn ab diesem Zeitpunkt müsste das gesamte Verfahren mit einer umfassenden Beweisaufnahme zu Vorfällen, die Jahre oder sogar Jahrzehnte zurücklägen von vorne beginnen. Und selbst mit den zusätzlichen Beweismitteln, wie zum Beispiel einer neuen Zeugenaussage, wäre die Schuld des Beschuldigten nicht automatisch bewiesen. Im schlimmsten Fall könnte ein zurecht freigesprochener Unschuldiger aufgrund von Verfahrensfehlern oder einer weiterhin undurchsichtigen Beweislage doch noch zu Unrecht verurteilt werden.

Wie das Doppelbestrafungsverbot, so wäre auch das Rückwirkungsverbot von dem neuen Gesetz betroffen. Das Rückwirkungsverbot besagt, dass Gesetze, die zu einem späteren Zeitpunkt erlassen wurden, nicht auf vergangene Ereignisse angewendet werden dürfen. Rückwirkungsverbot und Doppelbestrafungsverbot schützen vor willkürlicher staatlicher Strafverfolgung. Sie sind auch deshalb im Grundgesetz verankert, weil man Lehren aus dem Rechtsmissbrauch während des Nationalsozialismus gezogen hat. Damals wurden Urteile gegen unliebsame Personen nachträglich geändert, um sie härter bestrafen zu können. Neue Gesetze wurden rückwirkend auf unterdrückte und verfolgte Gruppen angewendet. Diese Vorgehensweisen sind mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar.

Die im Grundgesetz verankerten Rechte bilden das Fundament unserer Demokratie. Sie gelten für Menschen, die vor Gericht ein rechtskräftiges Urteil erhalten haben, genauso wie für jeden anderen. Das Prinzip „ne bis in idem“ ist Teil dieser Rechte. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Grundsatz bestätigt. Um die Entscheidung wurde intensiv gerungen, wie das Sondervotum von zwei Richtern mit abweichender Meinung zeigt. Und auch in der Gesellschaft mag es viele verständliche emotionale Vorbehalte geben. Es war dennoch ein guter Tag für den Rechtsfrieden in Deutschland.

 

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Dieser Artikel erschien erstmals am 03. November 2023 bei der Frankfurter Allgemeine Einspruch.