Serbien und Montenegro
Eine Ehe auf Zeit
Vor zwanzig Jahren, am 4. Februar 2003, wurde die „Staatenunion Serbien und Montenegro“ gegründet. Der Staatenbund ersetzte die seit 1992 bestehende Bundesrepublik Jugoslawien, die nach den Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien (im Juni 1991), Mazedonien (im September 1991) und Bosnien und Herzegowina (im März 1992) übriggeblieben war. Mit der Neugründung wurde der Name „Jugoslawien“ endgültig von der europäischen Landkarte getilgt.
Der Gründung des neuen Staates – Staatsrechtler diskutieren bis heute, ob es sich um einen Bundesstaat oder Staatenbund handelte – war eines der dunkelsten und blutigsten Kapitel europäischer Nachkriegsgeschichte vorausgegangen: allein der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 forderte etwa 100.000 Tote. In den Jahren 1998 und 1999 griff die NATO in den Bürgerkrieg zwischen Serben und Albanern in der autonomen Provinz Kosovo ein, um einen Genozid an der albanischstämmigen Bevölkerung zu verhindern. Auch wenn sich Kosovo erst im Jahr 2008 für unabhängig erklärte, lag die administrative und militärische Kontrolle seit dem Ende des Kosovokrieges 1999, also während der gesamten knapp dreieinhalbjährigen Existenz Serbien-Montenegros, bei den Vereinten Nationen.
Totgeburt von Anfang an
Schon bei der Gründung der Staatenunion 2003 wurde ihr Ende vorweggenommen: so ließ sich Milo Đukanović, Premierminister der Teilrepublik Montenegro und heute Präsident des Landes, zusichern, nach drei Jahren eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit durchführen zu dürfen. Auch sonst standen die Vorzeichen von Anfang an auf Trennung: so wurde beispielsweise im serbischen Landesteil der Serbische Dinar als Zahlungsmittel genutzt, in Montenegro und Kosovo hingegen der Euro. Das serbisch-montenegrinische Parlament tagte in Belgrad, das Verfassungsgericht hatte seinen Sitz in Montenegros Hauptstadt Podgorica, dem ehemaligen Titograd.
Nur rund einen Monat nach Ausrufung der Staatenunion wurde am 12. März 2003 der reformorientierte serbische Ministerpräsident Zoran Đinđić in Belgrad auf offener Straße ermordet. Die Hintermänner wurden nie ausfindig gemacht, Spekulationen reichen von der montenegrinischen Zigarettenmafia bis hin zur Familie Slobodan Miloševićs, den Đinđić im Jahr zuvor an das Den Haager Kriegsverbrechertribunal ausgeliefert hatte. Unter seinem Nachfolger, dem serbisch-nationalistischen Vojislav Koštunica, wurde den Montenegrinern das zugesagte Unabhängigkeitsreferendum erlaubt, dass bei einem Quorum von 55 Prozent mit 55,5 Prozent zugunsten einer Sezession Montenegros ausging. Am 3. Juni 2006 spaltete sich Montenegro offiziell ab, seitdem existieren Montenegro und Serbien als zwei voneinander unabhängige Staaten. Serbien verlor damit auch seinen Zugang zum Mittelmeer und ist seitdem ein Binnenstaat.
Montenegro ist mit ca. 620.000 Einwohnern, von denen viele in Belgrad wohnen, einer der bevölkerungsärmsten Staaten Europas. Selbst Kosovo hat rund dreimal so viele Einwohner als der kleine Adriastaat. Auch im zweiten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit zieht sich die Frage, was eigentlich die montenegrinische Identität ausmacht, durch die politische und gesellschaftliche Kultur des Landes: lediglich 45 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als „Montenegriner“, rund 30 Prozent als „Serben“. In einer Umfrage im Jahr 2014 gaben 41 Prozent der Staatsbürgerinnen und -bürger Montenegrinisch als Muttersprache an, 39 Prozent Serbisch. Immerhin zwölf Prozent gaben „Montenegrinisch und Serbisch“ an, da es sich um „dieselbe Sprache“ handele. Seit 2007 ist Montenegrinisch offizielle Amtssprache des Landes, für die zwei neue Buchstaben „erfunden“ wurden, um als eigenständige Sprache zu gelten. Zudem existiert neben der serbisch-orthodoxen Kirche eine von anderen orthodoxen Kirchen nicht anerkannte montenegrinisch-orthodoxe Kirche. Die Identität des noch jungen Staates ist mithin nach wie vor „Work in Progress“.
Zwei Staaten auf unterschiedlichen Pfaden
Auch wenn sich Montenegro als NATO-Mitglied und EU-Kandidat zuletzt zunehmend euroatlantisch ausrichtet, bleibt Serbien wirtschaftlich und innenpolitisch der dominante Faktor. Der „große Bruder“, wie Serbien sich selbst gern sieht, ist mit Abstand größter Handelspartner des Landes und vertritt seine Interessen, indem es mehr oder minder subtil über pro-serbische Parteien in der montenegrinischen Innenpolitik mitmischt. So erlaubt Serbien allen Montenegrinern, die dies wünschen, die doppelte Staatsbürgerschaft. Umgekehrt ist es für Serben aber nicht ohne weiteres möglich, die montenegrinische Staatsbürgerschaft anzunehmen, aus Angst, Montenegro könnte noch weiter „serbisiert“ werden.
In den vergangenen Jahren, in denen in Serbien vermehrt Rückschritte in Sachen Rechtstaatlichkeit und zunehmend nationalistische Ausfälle zu beobachten waren, entwickelte sich Montenegro langsam aber stetig zum Musterknaben in Sachen EU-Integration. Doch der Einfluss Belgrads ist nach wie vor groß: immer wieder schmieden pro-westliche und pro-serbische Parteien Koalitionen gegeneinander und bringen Regierungen zu Fall. So auch im Herbst 2022, als die eigentlich pro-westliche Regierung in Podgorica über einen Vertrag stürzte, der der serbisch-orthodoxen Kirche Eigentumsrechte in Montenegro einräumte. Im März 2023 steht mit den Präsidentschafts- und wahrscheinlich auch Parlamentswahlen die nächste Richtungsentscheidung im Land zwischen Adria und Balkan an.
Markus Kaiser ist Projektleiter Westbalkan der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Belgrad.