Türkei
„Entscheidung der Hohen Wahlkommission ist gesetzeswidrig“
Die Wahl des Istanbuler Oberbürgermeisters wird am 23. Juni wiederholt, das entschied die Hohe Wahlkommission (YSK) im Mai. Die umstrittene Entscheidung hat für viel Diskussionsstoff gesorgt. Viele Kritiker sind der Meinung, die Richterbehörde habe sich dem Druck der Erdoğan-Regierung gebeugt.
Freiheit.org hat wenige Tage vor der Wahlwiederholung mit dem ehemaligen Präsidenten (2007-2015) des Verfassungsgerichtes, Haşim Kılıç, gesprochen. Neben der Wahlwiederholung wurde auch die kürzlich mit viel Pomp vorgestellte sogenannte Justizreform thematisiert.
Freiheit.org: Die Entscheidung der Hohen Wahlkommission (YSK), die Wahlen zum Oberbürgermeister von Istanbul zu annullieren und zu wiederholen, stößt sowohl im In- als auch im Ausland auf heftige Kritik. Es bleibt weiterhin ein großes Rätsel, warum nur die Wahl zum OB wiederholt wird, wo doch in denselben Wahlumschlag neben dem für die OB-Wahl, auch die Stimmzettel für die Bezirksbürgermeister, die Stadtratsmitglieder und die Ortsvorsteher gesteckt wurden. Wie bewerten Sie diese Entscheidung aus juristischer Perspektive?
Haşim Kılıç: Es ist schwierig, die Entscheidung der YSK auf juristischer Grundlage zu beurteilen. Das Hauptargument für die Annullierung, dass einige Vorsitzende der siebenköpfigen Wahlräte, die an jeder der über 30.000 Urnen eingesetzt wurden, keine Beamte waren, konnte die Öffentlichkeit nicht wirklich überzeugen. An zwei Punkten verdient diese fragwürdige Entscheidung nachhaltige Kritik:
a) Die Wähler haben an jenem Tag vier Stimmen abgegeben und sie gemeinsam in einen Wahlcouvert gesteckt. Falls der Vorsitzende des Wahlrats, wie behauptet, gesetzeswidrig eingesetzt wurde, dann müssten – neben der Stimme für den Oberbürgermeister – auch die anderen Stimmen annulliert werden. Kurz gesagt: Entweder sind alle Stimmen gesetzeswidrig zustande gekommen und somit zu annullieren, oder sie sind alle gesetzeskonform, ein Dazwischen gibt es nicht. Es ist auch nicht überzeugend, wenn die YSK argumentiert, keine der beiden Streitparteien habe einen Einspruch gegen die anderen Stimmen eingelegt. Selbst dann hätte die YSK von Amtes wegen auch die übrigen Stimmzettel in den Wahlcouverts für nichtig erklären müssen. Die Tatsache, dass die YSK nur eine von vier Stimmen annulliert hat, begründet große Fragezeichen hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit.
b) Selbst das Argument für die Annullierung ist höchst fragwürdig. In der schriftlichen Erklärung ist nicht hinreichend beschrieben, inwiefern das Wahlergebnis oder der Wählerwille durch den Einsatz von Nicht-Staatsdienern beschädigt beziehungsweise verletzt wurde. Durch ihre Entscheidung hat die YSK zur Entstehung von demokratiefeindlichen Spekulationen und Theorien beigetragen.
Das Hauptargument der YSK in der 250-seitigen schriftlichen Begründung lautet, an 754 der insgesamt über 30.000 Wahlurnen in Istanbul hätten wahlgesetzwidrig keine Beamten die Wahlräte geleitet. Diese Entscheidung der YSK steht jedoch im Widerspruch zu früheren Entscheidungen der selben Kommission, in denen es stets hieß, interne Fehler der lokalen Wahlbehörden dürften den Wählerwillen nicht verletzen. Mit diesem Argument waren beim Verfassungsreferendum von 2017 ungestempelte Wahlcouverts für gültig erklärt worden. Wie erklären Sie sich diese widersprüchliche Argumentation der Wahlkommission?
Ich bin nicht der Meinung, dass dieser Schritt der YSK im Widerspruch zu anderen Entscheidungen steht. Sowohl die Entscheidung während des Referendums zum Präsidialsystem 2017, ungestempelte Wahlcouverts für gültig zu erklären, als auch die jetzige Annullierung der OB-Wahlen von Istanbul ist gesetzeswidrig. In beiden Fällen wurde nicht, wie vorgegeben, der Wählerwille geschützt, sondern das Recht des Individuums auf freie Wahl verletzt. Bei beiden Entscheidungen hat die YSK ihre eigene Neutralität verloren.
Trotz aller Probleme der Türkei im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Pressefreiheit schien das Wahlprozedere in der Vergangenheit stets den westlichen Demokratie-Standards gerecht zu werden. Doch nicht zuletzt wegen der Istanbul-Entscheidung wird die Rolle der YSK immer mehr in Frage gestellt. Kritiker befürchten, dass von nun an jede Wahl oder Abstimmung von der einen oder anderen Seite angefochten werden könnte. Gibt es bei der YSK einen Umbaubedarf?
Das wichtigste Ergebnis der Annullierung der OB-Wahlen von Istanbul ist leider die Tatsache, dass von nun an sämtliche Wahlen in der Türkei mit Skepsis und Fragezeichen begegnet werden. Solange diese Fragezeichen in den Köpfen der Menschen fortbestehen, werden außer-demokratische Ideen an Kraft gewinnen. Sowohl der Aufbau als auch die Anzahl der Mitglieder der YSK muss geändert werden. Durch die Erhöhung ihrer Mitglieder muss für mehr Pluralismus gesorgt werden, das Abstimmungsprozedere muss reformiert werden.
Vor einigen Tagen hat Präsident Erdoğan 256 Einzelmaßnahmen im Rahmen der Justizreform vorgestellt. Diese sollen unter anderem die Jurisdiktion in der Türkei schneller und effektiver machen sowie die Meinungs- und Pressefreiheit besser schützen. Wie bewerten Sie diesen Maßnahmenkatalog im Hinblick auf die Probleme der Türkei auf dem Feld der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit? Wieso bedurfte es aus Sicht der Regierung überhaupt einer Justizreform, wo doch Präsident Erdogan regelmäßig den hohen Stand von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei betont?
Die in der Justizreform vorgestellten Lösungsvorschläge sind zutreffend und richtig. Die angesprochenen Themen sind allesamt Projekte, die seit Jahren in der Justiz diskutiert werden und deren Umsetzung gewünscht wird. Lösungsvorschläge, die die Probleme und das Arbeitsvolumen der Justiz angehen, werden von allen Schichten der Bevölkerung begrüßt. Doch es bedarf auch seriöser Schritte zur Gewährleistung der Rechtssicherheit, ohne die der Rechtsstaat nicht existieren kann. Daher ist es lebenswichtig, dass eine neutrale und unabhängige Judikative geschaffen wird, so wie in unserer Verfassung vorgesehen. Über die Jahre wurden alle notwendigen Gesetze geschaffen. Das Problem liegt darin, dass ein neutrales und unabhängiges Justizwesen samt Personal, das für die Interpretation, Implementierung und Umsetzung dieser Gesetze zuständig sein soll, weiterhin nicht existiert.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Anklagen wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung enorm zugenommen. Laut Angaben des Justizministeriums wurden zwischen 1986 und 2017 knapp 14.000 Menschen unter diesem Vorwurf angeklagt, etwa 12.000 davon allein während der dreijährigen Amtszeit Erdoğans als Präsident. Im Maßnahmenpaket findet sich jedoch keine Änderung, die dieses Problem angeht. Wie bewerten Sie diesen Umstand?
Der Anstieg der Fälle von Präsidentenbeleidigungen sollte sowohl juristisch als auch politisch bewertet werden. Zunächst sollte erklärt werden, dass kein Gesetz dieser Erde die Beleidigungen von Menschen, ganz egal ob Präsident oder nicht, schützt. Doch seit dem Übergang zum Präsidialsystem hat der Präsident in der Türkei seine Neutralität verloren. Der Anstieg bei den Präsidentenbeleidigungen ist auf die Änderung des politischen Systems zurückzuführen. Es ist Aufgabe der Justiz, die Trennlinie zwischen Präsidentenbeleidigung und Meinungsfreiheit klar zu ziehen. Für den Anstieg der Fälle kommt der Tatsache eine große Rolle zu, dass die Justiz es nicht geschafft hat, diese Trennlinie klar zu ziehen.
Verstehen Sie oder teilen Sie sogar die (in der Türkei oft heftig kritisierte) Auffassung vieler EU-Parlamentarier, wonach die Türkei noch immer nicht die Forderung der EU nach rechtsstaatlichen Reformen erfüllt habe, ohne die an eine Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger nicht zu denken sei?
Die Auffassung der EU-Parlamentarier, wonach die Türkei die rechtsstaatlichen Reformen nicht erfüllt habe, teile ich nicht und finde diesen Vorwurf zudem unfair. Die Türkei hat in den Jahren 2003-2010 erhebliche Schritte unternommen, um die Rechtsstandards der EU in ihr eigenes Gesetzeswerk zu integrieren. Doch auch hier begegnet uns das Problem, dass Repräsentanten des türkischen Justizsystems dieses Gesetz nicht gebührend einsetzen, was wiederum zu Problemen auf dem Feld der Meinungsfreiheit führt.