75 Jahre Grundgesetz
75 Jahre Grundgesetz: In guter Verfassung?
Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Wie steht es um seine Wehrhaftigkeit in Zeiten von Populismus, Extremismus und Krisen? Inwieweit garantiert es Stabilität für zukünftiges Regierungshandeln? Wie stark sind die Institutionen? Welche Konsequenzen müssen wir aus den Entwicklungen hin zu illiberalen Demokratien in manchen europäischen Nachbarländern für die hiesige Demokratie ziehen? In der neuen Publikation „75 Jahre Grundgesetz: Wie demokratiefest ist unsere Verfassung?“ stellen sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, sowie weitere namhafte Expertinnen und Experten diesen und anderen Fragen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erläutert ihre Überlegungen zum Jubiläum und stellt die weiteren Beiträge vor.
Das Grundgesetz wird am 23. Mai 2024 75 Jahre alt. Konzipiert als Antwort auf die Krise der Weimarer Republik und die Verbrechen der NS-Diktatur, gelang mit ihm der Übergang von Unfreiheit in Freiheit. Die starke Stellung des Parlaments, dem als Instrumentarium das Misstrauensvotum (Art. 67 GG) sowie die Vertrauensfrage (Art. 68 GG) zur Verfügung stehen, ist ein entscheidender Pfeiler unserer Demokratie. Gleiches gilt für die Ewigkeitsgarantie gewisser Verfassungsprinzipien wie Volkssouveränität, Rechtsstaat und Menschenwürde. Besondere Bedeutung kommt den Grundrechten zu, die in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes verankert sind und nach denen sich – anders als in der Weimarer Reichsverfassung, in der Grundrechte durch einfaches Recht eingeschränkt werden konnten – einfaches Recht messen muss. Mit Artikel 1 Absatz 1 wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde an den Beginn der Verfassung gestellt, sie bindet wie auch die weiteren Grundrechte jede staatliche Gewalt. Nie mehr sollten Menschen zu Objekten des Staates werden.
Das Grundgesetz hat sich in den 75 Jahren seines Bestehens als zukunftsweisendes Verfassungskonzept erwiesen, auf dessen Basis und in dessen Geiste in der Bundesrepublik Weichenstellungen überzeugend vorgenommen werden konnten.
Dem schmalen Band, der die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 zu einem demokratischen, freiheitlichen Verfassungsstaat machte, sieht man seine Bedeutung nicht an. Gerade einmal 146 Artikel umfasst das Grundgesetz, wie es aufgrund der deutschen Teilung zunächst vorläufig genannt wurde. Aber der Inhalt wiegt schwer: Das Grundgesetz begrenzt Staatsmacht und verankert die Grundrechte als verbindliche, einklagbare Rechte, zuallererst als Abwehrrechte gegen staatliches Handeln. Es ist seit 75 Jahren ein Bollwerk gegen Verfassungsfeinde und Menschenrechtsverächter, gegen den Missbrauch staatlicher Macht und gegen den Aufstieg von Autokraten.
Zur Akzeptanz des Grundgesetzes
Ist unser Land „in guter Verfassung“? Die Frage, die die große Liberale Hildegard Hamm-Brücher schon vor einigen Jahren stellte, gilt immer noch. Gibt es in Deutschland so etwas wie einen „Verfassungspatriotismus“ als Grundhaltung? In einer aktuellen Umfrage des Instituts CIVEY nennt eine relative Mehrheit, dabei ein knappes Drittel der Befragten das Grundgesetz als den Aspekt, auf den sie in Deutschland besonders stolz sind. Prinzipiell ist das ein durchaus ermutigendes Signal aus der Bevölkerung, auch wenn zu denken gibt, dass die Zustimmung bei den jüngsten Befragten deutlich geringer ausfällt – also gerade bei der Gruppe, auf deren Haltung es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ankommen wird. Ähnlich bedenklich ist zudem die – relativ – geringe Zustimmung der Personengruppe zwischen 50 und 64 Jahren.
Auffällig ist auch die deutlich geringere Zahl an Nennungen für das Grundgesetz im Osten des Landes, wo hingegen das Votum „Auf gar keinen“ leicht am häufigsten genannt wird und wo man annähernd gleich häufig auf „Regionen und Landschaften“ stolz ist.
Verfassungspatriotismus ist für manche vielleicht ein etwas sperriger Begriff, aber machen wir uns bewusst, dass er die Absage an einen überzogenen Nationalismus ausdrückt, und dafür den unsere Verfassung tragenden Institutionen eine große Bedeutung für unsere Demokratie gibt: Dem Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung und der Justiz, dem repräsentativen Parlament und dem Föderalismus zur Begrenzung zentraler Staatsmacht.
Die Notwendigkeit eines „Stabilitäts-Checks“
Die 1949 vorgefundene Ausgangslage hat sich über die letzten sieben Jahrzehnte gewandelt. Das Parteiensystem hat sich immer weiter aufgefächert, Grüne, die Linke, zuletzt die AfD, sind wichtige Akteure im politischen System geworden. Die 2013 in Folge der Eurokrise 2009 gegründete AfD bekam in den letzten Jahren immer größeren Zulauf. Insbesondere die Migration, die Corona-Pandemie und die russische Invasion in die Ukraine beförderten neue Ängste, die viele Menschen zu den vermeintlich einfachen Lösungen der Populisten aus dem extrem rechten Rand trieben. Die AfD findet in den Umfragen in den östlichen Bundesländern großen Zuspruch. Damit unterstützt ein Fünftel (oder mehr) der Bevölkerung eine Partei, die vom Bundesverfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall zu Recht eingestuft wird, wie das Oberverwaltungsgericht Münster 2024 bestätigte, und in den Bundesländern Thüringen, Sachsen und Brandenburg als gesichert rechtsextrem eingestuft ist.
Aufrütteln müssen Befragungen, die erkennen lassen, dass viele der Befragten die extremistische Ausrichtung der Partei bewusst in Kauf nehmen, um ihre Unzufriedenheit zu artikulieren. Neben Parteien bilden sich angesichts einer Vielzahl von Krisensituationen und daraus resultierender Gefühle der Überforderung zunehmend Gruppen, die teilweise für ihre Meinungskundgabe Mittel ergreifen, die die in einer liberalen Demokratie legitimen Mittel der Meinungs- und Versammlungsfreiheit deutlich überschreiten.
Angesichts dieser Entwicklungen brauchen wir einen „Stabilitäts-Check“ für das Grundgesetz: Wie wehrhaft ist es gegenüber Demokratiefeinden? Welche konkreten Gefahren drohen der liberalen Demokratie in Deutschland durch hohe Zustimmungswerte, Wahlergebnisse oder in Zukunft gar Regierungsbeteiligungen von Parteien, die zum Teil verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen? Wie ist der Rechtsstaat konkret bedroht? Inwieweit ist das Grundgesetz wehrhaft gegenüber extremistischen Bestrebungen in Parteien? Inwieweit garantiert es Stabilität für zukünftiges Regierungshandeln? Wie stark sind die Institutionen? Welche Konsequenzen müssen wir aus den Entwicklungen hin zu illiberalen Demokratien in manchen europäischen Nachbarländern für die hiesige Demokratie ziehen?
Zu all diesen Fragen haben wir Fachleute um Meinungsbeiträge gebeten, die Sie in unserer Publikation „75 Jahre Grundgesetz: Wie demokratiefest ist unsere Verfassung?" finden.
Die Beiträge unserer Publikation "75 Jahre Grundgesetz - Wie demokratiefest ist unsere Verfassung?"
Wir schlagen in der Publikation einen weiten Bogen.
Hans Vorländer beschreibt die geschichtlichen Hintergründe des Grundgesetzes als „eine Gegenverfassung zum Scheitern der Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus“ und zeigt gleichzeitig die „neuen Gefahren“ auf, die der Verfassung, und damit unserer Gesellschaft drohen und die bewältigt werden müssen, damit dieser „Glücksfall für die zweite deutsche Demokratie“ weiterhin Bestand hat.
Andreas Paulus sieht in seinem Beitrag die Freiheit durch Recht in der Bewährung und thematisiert die sich im Grundgesetz darstellenden, aber auch die durch das Grundgesetz geschaffenen und garantierten Freiheiten als vor Herausforderungen stehend.
Stephan J. Kramer widmet seinen Beitrag den Aufgaben des Verfassungsschutzes und dessen – durchaus nicht unumstrittener – Rolle in der freiheitlichen Demokratie.
Mit dem grundgesetzlichen Auftrag an die Parteien, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, mit früheren Problemen dazu und mit aktuellen Herausforderungen des Parteienstaates beschäftigt sich Christopher Gohl.
Über Herausforderungen des Regierungshandelns in der Krise, über die Grundrechte und den Schutz des Individuums schreibt Marco Buschmann und sieht den umfassenden rechtlichen Schutz des individuellen Menschen durch die Verfassung selbst als eine der Stärken, die das Grundgesetz auch in Zeiten großer Herausforderungen und harter Bewährungsproben geschützt haben.
Lydia Hüskens widmet sich in ihrem Beitrag den Minderheitsregierungen, die oftmals „keinen allzu guten Ruf“ hatten, durch zunehmende Differenzierung und Fragmentierung im Parteiensystem aber gelegentlich zur Notwendigkeit wurden, und wägt Chancen und Probleme ab.
Mit der „Bedrohung durch illiberale Tendenzen in Europa“ befasst sich Moritz Körner.
Die lebendige Verfassung – ein Auftrag
Eine geschriebene Verfassung entfaltet Wirkung nur dann im täglichen Erleben, wenn die Menschen an ihre Wirkungskraft glauben und sie immer wieder selbst spüren. Uns muss deshalb bewusst sein, was das Grundgesetz bedeutet, welche Auswirkungen es auf unsere Gesellschaft, auf unser Zusammenleben und auf das Handeln der Politiker und Politikerinnen hat. Dieses Bewusstsein scheint heute nicht so umfassend und vertieft vorhanden zu sein, wie es eigentlich angesichts der bestehenden Herausforderungen für unsere Freiheit sein sollte.
Ist unser Land, ist unsere Demokratie „in guter Verfassung“? Oftmals scheint es, als sei es zunehmend an der Zeit, etwas zu verteidigen, was jedem Menschen nützt: Staatsferne, Privatheit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung gegenüber Obrigkeitsstaat und gegen Ausschnüffelung, Bevormundung und Fremdbestimmung. Dazu dient auch die Publikation. Sie soll zeigen: Die in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes manifestierten Grundrechte sind nicht „Gesetzeslyrik“, kein Denkmal der Vergangenheit, sie sind weder Selbstverständlichkeit noch haben sie sich überholt. Sie entfalten bis heute ihre Dynamik, sie leben und sind nicht nur ein Stück Papier. Man muss (und man kann) sich von ihnen erfrischen und begeistern lassen, immer und immer wieder.