Es fehlt der politische Wille
Brasilien ist weit davon entfernt, eine regionale Referenz bei der strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen gegen Journalisten zu sein. Die UN Resolution 68/163 ist zwar wegweisend im Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen Journalisten, jedoch hat sich die Situation in Brasilien, ungeachtet der zunehmenden Mobilisierung von diversen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Think Tanks, in den letzten Jahren nicht verbessert. Der brasilianischen Gesetzgebung mangelt es an effektiven Mechanismen zum wirkungsvollen Schutz von Journalisten sowie zur Strafverfolgung von Gewalttaten gegen Journalisten. Zwar gibt es diverse Gesetzesentwürfe, die Abhilfe schaffen könnten, jedoch fehlt es oft am politischen Willen. Nur selten schaffen sie es auf die legislative Agenda.
Wie ist es aktuell um die strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen gegen Journalisten im Land bestellt?
Zum sechsten Mal in Folge rangiert Brasilien im unteren Teil der „Rangliste der Pressefreiheit“ der international tätigen NGO „Reporter ohne Grenzen“ (RoG). 2017 belegte das Land Platz 103. Es wird erneut als „erkennbar problematisch“ eingestuft. Die Anzahl der jährlich ermordeten brasilianischen Medienschaffenden variierte laut RoG von 2011 bis 2016 zwischen drei und sechs, während die Gesamtzahl in diesem Zeitraum 26 betrug. Das macht Brasilien zum zweitmedienfeindlichsten Land Lateinamerikas, hinter Mexiko. Die Gewalttaten, die oft im Auftrag und brutal ausgeführt werden, richten sich größtenteils gegen lokale Medienschaffende außerhalb der Ballungszentren. Anlässe sind meistens Nachforschungen oder Veröffentlichungen über Bandenkriminalität und Korruptionsfälle in lokalen Behörden. Diese werden nicht selten mit örtlichen Politikern oder der lokalen Polizei in Verbindungen gebracht. Eine Analyse der NGO Article 19 ergab, dass in Brasilien zwischen 2012 und 2014 von zwölf Ermittlungen in Mordfälle von Medienvertretern nur fünf zu einer Strafverfolgungen geführt haben. Die übrigen Ermittlungen wurden eingestellt. In neun Fällen standen Politiker oder Polizisten unter Verdacht, die Morde in Auftrag gegeben zu haben.
Hat sich die Lage in den vergangenen Jahren verbessert oder verschlechtert?
Trotz langjähriger Bemühungen gelang es medialen Interessensgruppen - auch mit staatlicher Unterstützung - bislang nicht, ein „Observatorium der Gewalt gegen Medienschaffende“ im präsidialen Sekretariat für Menschenrechte anzusiedeln. Das Observatorium soll zur systematischen Überwachung von Gewaltverbrechen dienen, um Risiken zu identifizieren, Schutzmaßnahmen zu verstärken und Bestrafungen sicherzustellen. Ferner warten seit Jahren sechs Gesetzesentwürfe zum Thema darauf, vom brasilianischen Kongress analysiert bzw. verabschiedet zu werden. Sie sehen u.a. härtere Strafen für die Ermordung von Medienschaffenden, die Bereitstellung von Schutzausrüstung für Journalisten in gefährlichen Einsatzgebieten und die alleinige Zuständigkeit der Bundespolizei für die Ermittlungen von Gewaltverbrechen gegen Journalisten vor, da die lokalen Behörden oftmals korrupt oder von Drogenkartellen unterwandert sind.
Ein weiteres Manko ist die generell langsame und ineffiziente brasilianische Justiz. Eine interpretierbare Gesetzgebung sowie eine Vielfalt von Rechtsmitteln und Berufungsinstanzen begünstigen, dass (endgültige) Gerichtsurteile oftmals jahrelang hinausgezögert werden können. Erst kürzlich hatte z.B. die Interamerikanische Pressegesellschaft (SIP) noch auf die zahlreichen Verbrechen gegen Journalisten zwischen den Jahren 1980 und 2010 in Brasilien hingewiesen, die immer noch straflos sind.
Im Jahr 2017 wurde in Brasilien bislang ein Journalist ermordet. Allerdings nimmt die Zahl der verbal und körperlich tätlichen Angriffe, Morddrohungen und Einschüchterungsversuche gegen Journalisten und Medienschaffende seit vielen Jahren stark zu. Die nicht tödlichen Gewaltangriffe auf Journalisten sind alleine im Jahr 2016 um 62% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Zu den hauptsächlichen Tätern zählen Polizisten und Sicherheitskräfte, gefolgt von Demonstranten. Die Verschlechterung der Situation ist u.a. auf die vielen Proteste zurückzuführen. Diese begannen Mitte 2013 aufgrund von Misswirtschaft und systematischer Korruption in der brasilianischen Regierung und setzten sich in der Forderung nach einer Amtsenthebung der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff fort. Weitere Gründe sind die damit verbundene politische Polarisierung, die allgemeine Zunahme von Gewalt sowie die weit verbreitete Straflosigkeit. Letztere begünstigt nicht nur den Anstieg von Angriffen auf Medienschaffende, sondern auch von Kriminalität, Gewaltverbrechen und Korruption.
Inwieweit wirkt sich die Straflosigkeit auf die Meinungs- und Pressefreiheit im Land aus?
Die fehlende, wirksame Strafverfolgung beeinträchtigt nicht nur die Meinungs- und Pressefreiheit in Brasilien, sondern auch die Informationsfreiheit der Bürger. Denn aus Angst vor Vergeltung ziehen Zeugen eine Selbstzensur vor. Dadurch werden wichtige Informationen von öffentlichem Interesse, wie z.B. die Denunzierung von kriminellem oder korruptem Verhalten insbesondere von Polizisten, Beamten und Politiker, von der im Allgemeinen sehr couragierten Presse häufig nicht veröffentlicht.
Neben der Straflosigkeit von Gewalt bedroht auch die steigende Zahl missbräuchlicher Klagen gegen die Medienschaffende und Journalisten die Meinungs- und Pressefreiheit in Brasilien. Sie geraten nicht nur ins Visier von Politikern und Beamten, sondern bedenklicher Weise auch immer häufiger von Amtsträgern der Justiz, die ja gerade die Meinungs- und Pressefreiheit garantieren sollen. Stattdessen werden sie von der Presse zunehmend als Einschüchterer wahrgenommen. 2016 koordinierten z.B. diverse Richter und Staatsanwälte in 19 Städten des brasilianischen Bundesstaats Paraná über 40 Verleumdungsklagen gegen fünf Journalisten der Zeitung Gazeta do Povo, nachdem sie über Spitzengehälter von Beamten der Landesjustiz berichtet hatten, die weit über der gesetzlichen Obergrenze lagen. Die Angeklagten hatten große Mühe die enggesteckten Gerichtstermine an den unterschiedlichen Orten wahrzunehmen. Zudem betragen die Entschädigungszahlungen der noch laufenden Prozesse insgesamt ca. R$ 1,4 Mio (ca. € 367.000).
Wird die Straflosigkeit von Verbrechen gegen Journalisten in der öffentlichen Debatte thematisiert? Gibt es konkrete Fälle, die in den Fokus der Öffentlichkeit geraten sind?
Von den Massenmedien wird Gewalt gegen Journalisten meistens nur dann thematisiert, wenn es z.B. um Gewalt gegen die Presse bei Demonstrationen geht. Im Februar 2014 geriet der Fall des Kameramanns des Fernsehsenders Rede Bandeirantes, Santiago Andrade, stark in den Fokus der Öffentlichkeit, nachdem er während eines Protests gegen die Erhöhung der öffentlichen Nahverkehrstarife von einem Leuchtkörper tödlich getroffen wurde. Die als verantwortlich identifizierten Demonstranten wurden nach nur einem Jahr Halft wieder auf freien Fuß gesetzt, wo sie auf eine neue Gerichtsverhandlung warten. Ihrer Berufung war stattgegeben worden.
Generell fehlt es eher in Brasilien an einer höheren, nationalen Sensibilisierung des Themas durch die Medien. Dies mag einerseits darin liegen, dass die meisten straflosen Mordfälle lokale Medienvertreter kleinerer Städte betreffen. Anderseits weisen andere Berufsgruppen in Brasilien deutlich höhere Opferstatistiken auf. So wurden 2017 beispielsweise bislang 110 Polizisten allein im Großraum Rio de Janeiro ermordet, worüber die Medien zu Recht detailliert berichten. Eine Ausnahme war 2002 die Entführung und brutale Ermordung des investigativen Reporters Tim Lopes des größten und einflussreichsten Medienkonzerns Rede Globo im sogenannten „Complexo do Alemão“, Favela-Siedlungen in Rio de Janeiro. Diese sorgte für ein riesiges, landesweites Medienaufsehen. Alle am Verbrechen Beteiligten wurden entweder verhaftet und später verurteilt, oder kamen in der Konfrontation mit der Polizei ums Leben.
Welche Organisationen setzen sich im Land gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen Journalisten ein? Inwieweit unterstützt die FNF diese Bemühungen?
Überwiegend wird das Thema Straflosigkeit von Verbrechen gegen Journalisten in Brasilien durch die organisierte Zivilgesellschaft in die öffentliche Debatte eingebracht. Diverse nationale und internationale Organisationen und Medienverbände setzen sich für die Bekämpfung der Straflosigkeit von Verbrechen gegen Journalisten ein. Einige Beispiele sind: der Brasilianische Verband für Investigativen Journalismus (ABRAJI), der Nationale Presseverband (ANJ), die Brasilianischen Verbände der Rundfunk- bzw. Fernsehanstalten (ABERT bzw. ABRATEL) sowie die NGOs „Committe to Protect Journalists“, „Knight Center for Journalism in the Americas“, „RoG“ und „Article 19“. Durch Studien, Debatten und Aktionen machen sie auf die Problematik aufmerksam und fordern politische Antworten. Beispielhaft war die von RoG anlässlich der Olympiade 2016 durchgeführte Kampagne: „Manche Siege verdienen keine Medaillen“, um auf die Gewalt gegen Journalisten in Brasilien aufmerksam zu machen. Zwischen den Olympischen Spielen London 2012 und Rio de Janeiro 2016 wurden mindestens 22 Medienschaffende aufgrund ihres Berufs in Brasilien ermordet.
Die FNF Brasilien fördert seit vielen Jahren Meinungs- und Pressefreiheit durch diverse Diskussionsveranstaltungen in Kooperation mit ihren Partnerorganisationen. Zudem arbeitet sie mit liberalen Journalisten und Bloggern zusammen, deren Facebook-Seiten bereits mehrfach blockiert oder gegen die schon Prozesse wegen Verleumdung von Politikern angestrebt wurden. Die Rolle der Medien war und ist, insbesondere zur Aufdeckung des weltgrößten Korruptionsskandal „Petrobras“ essential. Das Thema wird insbesondere auf den medienwirksamen Freiheitsforen behandelt, die in Kooperation mit liberalen Jungunternehmerinstitutionen (IEE bzw. IFL) in verschiedenen Städten Brasiliens veranstaltet werden. Dort werden Journalisten oder Medienschaffende auch regelmäßig mit einem „Pressefreiheit“-Preis für ihr besonderes Engagement für die Freiheit ausgezeichnet. 2017 ging die Auszeichnung an den liberalen Journalist Filippe Hermes der Medienplattform spotniks.com.
Beate Forbriger ist Projektleiterin der Stiftung für die Freiheit in Brasilien.
Bernardo Fialho arbeitet als Projektassistent im Büro Brasilien.