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Krieg in Europa
Geopolitik zum Anfassen

Ein ukrainischer Soldat der 72. Brigade sitzt auf einem Panzer in Richtung des Dorfes Vuhledar im Gebiet Donezk, Ukraine

Ein ukrainischer Soldat der 72. Brigade sitzt auf einem Panzer in Richtung des Dorfes Vuhledar im Gebiet Donezk, Ukraine.

© picture alliance / AA | Diego Herrera Carcedo

Zum zweiten Jahr in Folge instrumentalisiert Russland Hunger und Leid im globalen Süden als Druckmittel, um die Unterstützer der Ukraine einknicken zu lassen. Denn: Zum zweiten Jahr in Folge wird gezielt die ukrainische landwirtschaftliche Infrastruktur angegriffen – leider erneut mit einigem Erfolg. Insbesondere die Hafen- und Kulturstadt Odessa wurde in diesem Rahmen in den vergangenen Wochen mehrmals zum Ziel des russischen Raketenterrors.

Die Opfer

Neben der Verklärungskathedrale (UNESCO-Weltkulturerbe) und zivilen Gebäuden wurde auch die Hafen- und Lagerinfrastruktur angegriffen und teilweise zerstört. Das hat zunächst erstmal unmittelbare wirtschaftliche Auswirkungen auf die Ukraine. Denn allein bei den Angriffen auf Odessa wurden über 60.000 Tonnen an Getreide vernichtet. Selbst im Krieg wird das ukrainische Bruttoinlandsprodukt zu etwa 8 Prozent durch die Landwirtschaft erwirtschaftet – folglich sind diese völkerrechtswidrigen Angriffe gegen zivile Infrastrukturen auch als direkter Schlag gegen die ohnehin vom Krieg und der entstandenen Zerstörung, aber auch durch die in Kampfhandlungen gebundene, geflohene und verstorbene Erwerbsbevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogene ukrainische Volkswirtschaft zu werten.

Auswirkungen auf dem Weltmarkt

Jenseits von dem dadurch entstandenen direkten wirtschaftlichen Schaden für die ukrainischen Agrargenossenschaften, Reedereien und Handelsunternehmen wurden durch das russische Bombardement auch die Überlebensperspektiven für viele der Ärmsten in den Ländern des globalen Südens deutlich geschmälert. Insbesondere die zerstörte Hafeninfrastruktur dürfte nachhaltige und weitreichende, verheerende Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssicherheit haben. Denn die Ukraine gehört zu den weltweit wichtigsten Produzenten von Weizen, Gerste und anderen Getreiden sowie Ölsaaten wie der Sonnenblume. Somit wird der Rückgang an ukrainischen Exporten das Angebot an den Weltmärkten deutlich schmälern. Auch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni und daraus resultierenden Schäden für landwirtschaftliche Flächen werden Konsequenzen für den globalen Lebensmittelmarkt haben. Folglich ist mit starken Preissteigerungen zu rechnen – die Auswirkungen machen sich besonders in finanzschwächeren Ländern bemerkbar. Hinzu kommt, dass sich in der Vergangenheit aufgrund der relativen geographischen Nähe etablierte Handels- und Vertrauensbeziehungen und damit langfristige Verträge zwischen ukrainischen Agrarhändlern und den Importeuren in vielen afrikanischen Ländern entwickelt hatten. So flossen vor dem Krieg beispielsweise mehrere 100.000 Tonnen Weizen nach Äthiopien, Kenia, Nigeria und den Sudan sowie nach Uganda und Mosambik. Das ist nun hinfällig. Folglich haben die Angriffe direkten Einfluss auf die Nahrungsmittelversorgung und Getreidepreise einiger der ärmsten Länder der Welt.

Das Abkommen

Aber damit nicht genug: Nun kündigte Russland das im vergangenen Jahr unter türkischer Vermittlung unterzeichnete Getreideabkommen mit der Ukraine einseitig auf. Das bedeutet, dass Getreidefrachtschiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, zukünftig kein freies Geleit mehr erwarten dürfen. In anderen Worten: Schiffe, die mit der Ukraine Handel betreiben, laufen Gefahr, durch die russische Marine versenkt zu werden – ein Risiko, das jegliche Handelsperspektiven über den Seeweg auf absehbare Zeit zunichtemacht.

Infrastrukturelle Hindernisse

Das heißt, dass zukünftig nur der Landweg für den Export ukrainischer Güter offenbleibt. Für hochwertige Produkte mag das durchaus eine gangbare Alternative sein – kaum aber für den Transport von voluminösen Agrarrohstoffen. Denn das zusätzliche Handelsvolumen würde die ohnehin schon strapazierte Straßen- und Schieneninfrastruktur überlasten. Die schon jetzt bestehenden, zum Teil tagelang andauernden Staus an infrastrukturellen Flaschenhälsen wie Brücken, Fähren und Grenzübergängen würden sich nur verschlimmern. Das beeinflusst im Übrigen nicht nur den Handelsverkehr, denn auch die Konvois mit militärischem Material sowie Unterstützung für die Zivilbevölkerung sind von diesen Kontrollpunkten abhängig. Dadurch werden dringend benötigte Lieferungen verzögert, was wiederum die ukrainischen Verteidiger an der Front schwächen kann.

Kostenfalle

Hinzu kommt die dadurch entstehende Transportkostensteigerung, die die Wettbewerbsfähigkeit der ukrainischen Agrarprodukte auf den internationalen Märkten deutlich verschlechtert. Denn pro Tonne gerechnet, ist der Transport per Schiff um ein Vielfaches günstiger als alle anderen Transportwege. Folglich lohnt sich der Export ab einer gewissen Strecke dann gar nicht mehr. Das geht selbstverständlich zu Lasten der wirtschaftlichen Marge, die ukrainische Agrarprodukte erzielen können, und schwächt somit auch die ukrainische Volkswirtschaft nachhaltig.

Strapazierte Partnerschaft

Damit ergibt sich eine weitere Komponente, ein politisches Argument: Der Landweg führt ukrainische Agrarprodukte zwangsläufig durch die freundlich gesinnten, westlich gelegenen Anrainerländer. Dort werden die Güter entweder auf Schiffe verladen und ausgeschifft oder möglichst zeitnah weiterverarbeitet oder vermarktet. In jedem Fall aber entsteht dadurch eine Konkurrenz zwischen den lokalen Agrarprodukten und denen ukrainischer Herkunft. Das wiederum führt zu wirtschaftlichem Druck auf die Landwirte in den Anrainerländern. Dieser zusätzliche Wettbewerb kann Animositäten gegen die Ukraine mit sich bringen und letztlich auch zu einem „Kippen“ der Stimmung führen. Angesichts der immensen militärischen und zivilen Unterstützung, die die Ukraine seit Beginn des Krieges beispielsweise aus Polen erfahren hat, darf dieses politische Argument keinesfalls unterschätzt werden.

Insgesamt sind die Auswirkungen der Raketenschläge, gepaart mit der effektiven Handelsblockade, verheerend für die ukrainische Wirtschaft und den globalen Süden.

Russische Perspektive

Gleichzeitig profitiert das Kremlregime gleich in mehrfacher Hinsicht von den selbst geschaffenen Bedingungen im angegriffenen Nachbarland. Denn auch die russische Landwirtschaft gehört zu den größten der Welt. Durch den zwangsweise erzielten Angebotsrückgang aus der Ukraine steigen die Preise auf dem Weltmarkt. Gleichzeitig ist der Handel mit Agrarprodukten zwischen Russland und Drittländern explizit nicht im westlichen Sanktionsregime eingeschlossen. Somit sind russischen Agrarexporteuren keine Hindernisse und Barrieren auferlegt. Daher kann Russland seine Agrarprodukte zu hervorragenden Konditionen vermarkten und schafft sich Zugriff zu dringend benötigten Devisen.

Migrationsdruck

Zudem verschärft sich, wie oben skizziert, die Versorgungs- und Ernährungssituation in einigen Ländern Afrikas. Die steigenden Nahrungsmittelpreise erhöhen den Migrationsdruck und die Notwendigkeit, andernorts die Lebensgrundlagen sichern zu können.  Das beträfe insbesondere Europa. Die ohnehin schon strapazierte innenpolitische Lage in vielen europäischen Ländern könnte sich angesichts des zusätzlichen Migrationsstroms weiter anspannen. Das wiederum könnte zum einen die Kohärenz innerhalb der EU verschlechtern und zum anderen die Unterstützung gegenüber der Ukraine abschwächen – beides spielt dem Kreml in die Karten.

Russische „Softpower“

Besonders perfide ist außerdem der durch die neue Gemengelage entstehende Handlungsspielraum für die Diplomaten und Funktionäre der russischen Föderation. Denn die Notlage im globalen Süden wird nun durch russische Interessensvertreter ausgenutzt. Mit vergleichsweise günstigen Getreidelieferungen und Krediten im Gepäck wenden sie sich nun an die Nationen Mittel-, Ost- und Westafrikas, um die bereits bestehende Einflussnahme auszubauen und zu zementieren. Wo Geschenke und Bestechungsversuche nicht zum erwünschten Ziel führen, werden andere Methoden angewandt:

Schon lange agieren Söldnerorganisationen wie die Wagnergruppe im Herzen Afrikas. Wie auch in der Ukraine ist die Gruppe dort berüchtigt für ihre Brutalität und Ruchlosigkeit. Egal, ob Gold- oder Kobaltminen, der Raubbau an Edelhölzern oder der Handel mit Alkohol und Rauschmitteln – längst ist die Wagnergruppe in den lukrativsten Geschäften in Zentralafrika verankert. Das Geschäftsmodell war schon in der Vergangenheit vergleichsweise simpel: Russische Elitesöldner bilden die Milizen von Warlords und Diktatoren aus und kämpfen zum Teil auch an deren Seite – dafür bekommt die Organisation Schürf- und Abbaurechte in den kontrollierten Gebieten. Dass dabei die lokale Bevölkerung zu Sklavenarbeit gezwungen wird und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung stehen, ist angesichts des Rufes der Organisation leider kaum verwunderlich. Seit dem gescheiterten Putschversuch der Wagnergruppe hat diese sich aus den Kampfhandlungen in der Ukraine zurückgezogen und bewegt sich nun mutmaßlich vorrangig in Belarus. Das schafft auch neue Kapazitäten, um die Geschäfte der Organisation in Afrika wieder zu vertiefen und auszubauen.

Hinzu kommt der durch die zu erwartende Hungersnot aufkommende zivile Druck auf die Regierungen und Potentaten in Zentralafrika. Folglich ist die russische Führung förmlich in der Lage, eine Strategie des Zuckerbrotes und der Peitsche anzuwenden. Wer sich russischen Interessen beugt, kann mit günstigen Konditionen im Agrarhandel rechnen. Wer jedoch Widerstand gegen die Einflussnahme leistet, hat mit der vollen Brutalität einer kriegsgehärteten und ruchlosen Söldnerorganisation zu rechnen – auch vor diesem Hintergrund sprechen sich viele westliche Partner dafür aus, die Wagnergruppe zu einer Terrororganisation zu erklären.

Auswirkungen

Der unlängst vollzogene Staatsstreich in Niger sowie der Militärputsch im Sudan könnten im Zusammenhang mit dieser Strategie Russlands stehen. Damit fallen nach und nach die einzelnen Regionen und Länder der Sahelzone in den Einflussbereich der autokratischen Hegemonien im Osten. Insbesondere Niger galt aufgrund seiner engen Verflechtung mit Frankreich als Anker für die Sahelstrategie der Europäischen Union. Doch nun feiern die Putschisten in der nigerischen Hauptstadt Niamey, immer wieder sieht man dabei Russland-Flaggen. Besonders die französischen Interessen dürften durch diese Entwicklung verletzt sein. Frankreich bezog in der Vergangenheit einen guten Teil des für die französischen Kernkraftwerke benötigten Uranerzes aus nigerischen Minen. Das Putschistenregime kündigte nahezu als erste Amtshandlung an, diese Uranlieferungen einzustellen. Folglich profitiert Russland in zweierlei Hinsicht von der Destabilisierung der Region. Einerseits direkt, durch die Möglichkeit, den eigenen Einfluss auszubauen, und andererseits indirekt, durch die Schwächung des Systemrivalen im Westen.

Die partiellen Erfolge dieser diplomatischen Verstrickungen zeigen sich auch in den Abstimmungsverhalten auf den Versammlungen der Vereinten Nationen – dort stimmen zunehmend Vertreter afrikanischer Länder im russischen Interesse. Obgleich sich die Bürger der meisten dieser Länder nach wie vor gegen den russischen Angriffskrieg aussprechen. Allerdings ist nicht gesagt, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.

Liberale Antworten

Das deutsche Sprichwort „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht“ passt im Zusammenhang mit der aktuellen geopolitischen Situation vermutlich so gut wie selten. Denn der Systemkonflikt ist deutlich komplizierter als die häufig zu oberflächliche Analyse im öffentlichen Diskurs vermuten ließe. Dennoch haben die liberalen Demokratien durchaus gute Antwortmöglichkeiten auf die bestehenden Situationen:

  • Keine Ablenkungen zulassen: Schon die Sowjetunion setzte unter dem Schlagwort „Maskirovka“ massiv auf Verschleierungstaktiken und Ablenkungsmanöver. In Zeiten von Deepfakes und Spambots sind die Möglichkeiten zur Diskursverzerrung und zur Täuschung und Verwirrung der öffentlichen Meinung umso stärker geworden. Diese Möglichkeiten schöpft der Kreml voll aus. Das stört den offenen und faktengeleiteten Diskurs, von dem die liberalen Demokratien leben. Daher sind derartige Strategien durch technologische Maßnahmen und geheimdienstliche Methoden zu blockieren. Hier sollte das Stichwort Resilienz stärker in den Vordergrund rücken.
  • Ukraine unterstützen: Dass der Systemkonflikt an mehreren „Fronten“ ausgetragen wird, ändert nichts an dem Hauptkonflikt, der aktuell in der Ukraine brennt. Dort kämpfen und sterben Menschen bei der Verteidigung ihrer Heimat und schützen dabei auch indirekt die Integrität der NATO-Außengrenzen. Es wäre daher sowohl moralisch zweifelhaft als auch wider der europäischen Sicherheitsinteressen, die Verteidiger nicht mit allem benötigten Material in ihrem Kampf zu unterstützen. Nicht zuletzt auch, weil eine Schwächung der russischen Schlagkraft auch zum Schutz westlicher Interessen wirkt.
  • Sanktionen durchsetzen: Der Umstand, dass für die russische Kriegswirtschaft essenzielle Bauteile wie Halbleiter und Chips durch Drittländer wie zum Beispiel Armenien nach Russland geliefert werden, ist längst bekannt. Solche Umgehungsmöglichkeiten müssen unbedingt unterbunden werden. Nicht nur, weil sie das Ziel der Sanktionen, nämlich das Schwächen der russischen Kriegswirtschaft, unterbinden, sondern auch, weil sie das diplomatische Arsenal des Westens gefährlich schwächen. Denn wenn die Wirkung von Sanktionen derartig reduziert wird, schmälert das den politische Handlungsspielraum in Interessenskonflikten auf gefährliche Weise.
  • Das große Bild im Auge behalten: Politische Analysen sollten sich nicht nur in Details verlieren, sondern immer auch das Große und Ganze im Blick behalten. Denn die geopolitischen Dimensionen übertreffen zumeist das Kleinklein von lokalen Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund sollten die Herangehensweisen, Umsetzungsmethoden und vor allem die Koordinierung von europäischen strategischen Interessen wie beispielsweise die europäische Sahelstrategie, geprüft und nachgeschärft werden.