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Frankreich
Hohe Erwartungen an den deutschen Partner

Frankreich angesichts des Ukrainekriegs und der deutschen „Zeitenwende“ im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs
 Emmanuel Macron

Der französische Präsident und Kandidat der Partei La Republique en Marche (LREM) Emmanuel Macrons neben dem Präsidenten der französischen Nationalversammlung Richard Ferrand während eines Wahlkampfbesuchs am 5. April 2022 

© picture alliance / abaca | Blondet Eliot/ABACA

 

In seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 2022 kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz einen Kurswechsel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an und stellte die Grundsätze in Frage, die in Deutschland in den letzten dreißig Jahren Konsens waren. Diese Rede markierte den Beginn einer „Zeitenwende“ in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik. Tatsächlich hatte die Verschärfung der Spannungen zwischen Russland und der Ukraine zu Beginn des Jahres 2022 die Frage nach der Verlässlichkeit Deutschlands bei seinen Partnern – im Atlantischen Bündnis oder in der Europäischen Union, insbesondere in Frankreich – aufgeworfen. In Frankreich wurde Deutschland in dieser Krise zunächst als das „schwache Glied“ Europas, von einigen sogar als „trojanisches Pferd“ Russlands wahrgenommen.

Seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar und der Rede des Bundeskanzlers vom 27. Februar hat die deutsche Außenpolitik die Logik der militärischen Abschreckung aufgegriffen: Die Regierung verspricht, im Rahmen eines Sondervermögens 100 Milliarden Euro zu investieren und innerhalb des Nordatlantikpakts (NATO) das Ziel von 2% des BIP für Verteidigungsausgaben zu erreichen und zu überschreiten. Darüber hinaus hat der russisch-ukrainische Krieg gezeigt, dass eine Wende in der deutschen Energiepolitik trotz der starken Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland möglich ist.

Doch während die französischen Erwartungen an Deutschland in Bezug auf die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Energiepolitik hoch waren, tauchte in einigen politischen Kreisen, insbesondere im Zusammenhang mit den französischen Präsidentschaftswahlen, die Angst vor einer Rückkehr der „deutschen Macht“ und die Gespenster des deutschen „Militarismus“ wieder auf. Eine Analyse von Paul Maurice.

Hohe Erwartungen an den deutschen Partner

In Frankreich wurden die Reaktion von Bundeskanzler Olaf Scholz auf den Krieg in der Ukraine und seine Rede vor dem Bundestag herzlich begrüßt und als „historisch“ bezeichnet. Diese Entscheidungen waren mit Spannung erwartet worden und die Tatsache, dass Deutschland seine strategische Verwundbarkeit und seine Abhängigkeit von russischer Energie benannte und in der Folge beschloss, diese zu reduzieren, wurde sehr positiv aufgenommen. Man hatte den Eindruck, dass die Entwicklung der deutschen Positionen in wenigen Kriegstagen schneller voranging als nach jahrelangen diplomatischen Verhandlungen, was für die französische Diplomatie eine Erleichterung darstellte. Aus französischer Sicht scheint Deutschland endlich seine Verantwortung in Bezug auf die militärische Handlungsfähigkeit zu übernehmen, während es innerhalb der EU diplomatisch aktiv ist, um die europäische „strategische Souveränität“ zu stärken. Deutschland ist somit voll und ganz in eine geopolitische Ära eingetreten, die sich weitaus besser mit den französischen Analysen und Perspektiven deckt.

Während die anfängliche europäische Reaktion auf die Aggression Russlands von großer Geschlossenheit geprägt war, traten bald Spannungen auf. Auf dem EU-Gipfel in Versailles am 10. und 11. März waren sich die EU-Mitgliedstaaten über die Energiepolitik uneinig. Doch trotz dieser Tatsache hat sich die deutsche Solidarität während der vier Sanktionswellen stets in Form von Unterstützung und enger Zusammenarbeit mit Frankreich gezeigt. Trotz einiger Zögerlichkeiten im Zusammenhang mit dem Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System und der Energiefrage war Frankreich beruhigt, dass sich Deutschland der Haltung seiner europäischen Partner anschloss, insbesondere durch die Aussetzung der Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2. Das Embargo gegen russische Kohlenwasserstoffe, insbesondere Gas, bleibt zweifellos ein Problempunkt für die französische Seite. Das Massaker an ukrainischen Zivilisten in Butscha könnte die Dinge jedoch beschleunigen. Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sprach sich am Sonntag, den 3. April, für einen Stopp der russischen Gasimporte aus. Diese „donnernde“ Erklärung eines deutschen Regierungsmitglieds ist eine Reaktion auf die Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der sich um seine eigene Wiederwahl bemüht und erklärte, er sei „für ein neues Sanktionspaket, insbesondere im Bereich Kohle und Öl, wo es bekanntlich besonders schmerzhaft ist“.

Zwar befürchten einige Mitglieder der französischen Regierung, dass diese „Zeitenwende“ und Rückbesinnung Deutschlands auf Europa zu einer Abkehr von weiter entfernten Regionen wie etwa der Sahelzone führen könnte, jedoch hat  diese Wende, die Deutschland in Fragen der Rüstung, der Waffenexporte, der Energieversorgung und der europäischen „strategischen“ „Souveränität“ (oder „Autonomie“) näher an die französischen Positionen heranrücken lässt,  die letzten Tabus in der deutsch-französischen Zusammenarbeit aufgehoben. Die zweite Hälfte der Amtszeit von Emmanuel Macron war durch eine Stärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit gekennzeichnet. Seit dem Krieg in der Ukraine scheinen die engen Verbindungen noch stärker zu sein.

Misstrauen bleibt im Bereich der Verteidigung bestehen

Für einige konservative und/oder industrielle Kreise birgt die Ankündigung eines Sondervermögens  für die Bundeswehr jedoch das Risiko, die deutsch-französische Zusammenarbeit eher zu „begraben“ als sie wiederzubeleben. Nach Ansicht der „Vauban-Gruppe“ (die sich aus Experten für Verteidigungsfragen zusammensetzt und für ihre konservativen und relativ deutschlandkritischen Positionen bekannt ist) wird die deutsche „Wiederbewaffnung“ nicht unbedingt durch die Entwicklung von Programmen in Zusammenarbeit mit Frankreich erfolgen. Sie vertreten die Auffassung, dass das Sondervermögen in erster Linie der deutschen Industrie und ihren Herstellern, aber auch den US-amerikanischen Rüstungskonzernen zugutekommen wird. Eric Trappier, Vorstandsvorsitzender von Dassault Aviation, lobte zwar die „gute Nachricht“ der Erhöhung des deutschen Verteidigungshaushalts, schränkte jedoch ein, dass „es sich lediglich um ein Nachholen dessen handelt, was sie schon vor langer Zeit hätten tun sollen“. Er äußerte sich auch sehr kritisch zu den deutschen Ankündigungen, amerikanische Luftfahrtausrüstung zu kaufen.

In diesem Zusammenhang haben zwei Ankündigungen Verärgerung unter einigen Produzenten und konservativen Kreisen in Frankreich ausgelöst: Die Entscheidung, amerikanische F-35-Flugzeuge zu kaufen, wurde in Frankreich mit Frustration aufgenommen. Nach all den guten Worten  über europäische Autonomie und Souveränität hatte man in Frankreich erwartet, dass Deutschland sich stärker an einer europäischen Rüstungspolitik orientieren würde. Darüber hinaus wurde die Entscheidung, 35 amerikanische F-35 zu kaufen, – oft fälschlicherweise – als schlechtes Signal für das deutsch-französisch-spanische Projekt FCAS (Future Combat Air System) interpretiert, das bis 2040 die französischen Rafale-Kampfflugzeuge und die deutschen und spanischen Eurofighter ersetzen soll. Für den Fall, dass sich Airbus und Dassault nicht einigen können, versichert Eric Trappier, dass der Flugzeughersteller bereits einen „Ausstiegsweg“ geplant habe. Die deutsche Entscheidung, amerikanische Flugzeuge zu kaufen, stellt jedoch nicht die Bereitschaft Deutschlands in Frage, das FCAS-Projekt zu unterstützen, wie der Bundeskanzler und die Verteidigungsministerin betonten. Tatsächlich werden sich die F-35 auf die NATO-Mission „nukleare Teilhabe“ beschränken und ihre Anzahl (35 Flugzeuge, was nicht einmal der Hälfte der derzeitigen Tornado-Flotte entspricht) stellt die Möglichkeit, Deutschland mit dem FCAS für die elektronische Kriegsführung auszurüsten, nicht in Frage. Viele bezweifelten den von Deutschland angeführten Gedanken einer „Übergangslösung“ in Bezug auf den Kauf der F-35. In Frankreich gab es jedoch nur sehr wenige, die daran erinnerten, dass die französische Armee als „Übergangslösung“ bis zur Einführung der Eurodrohne im Jahr 2028[1] mit der amerikanischen Drohne „Reaper“ ausgerüstet wird. Die Summe von 100 Milliarden Euro wird es wahrscheinlich ermöglichen, nicht nur die 35 F-35 Flugzeuge einzukaufen, sondern auch die beiden bedeutendsten europäischen Programme der militärischen Zusammenarbeit, das FCAS und das MGCS (Main Ground Combat System oder Panzer der Zukunft) zu realisieren sowie möglicherweise die Modernisierung des Tiger-Hubschraubers (Tiger Mark 3) und auch das zukünftige Seepatrouillenflugzeug (MAWS) in Zusammenarbeit mit Frankreich zu finanzieren. Bislang waren diese Programme nicht oder nur teilweise finanziert worden.

In den meisten politischen und industriellen Kreisen wird die F-35 jedoch als Symbol für die amerikanische Macht in der NATO verstanden. Die Ankündigung, dass in Deutschland über den Kauf des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3 auf Kosten französischer Lösungen diskutiert wird, hatte in der Debatte in Frankreich den gleichen Effekt. Dies ging so weit, dass Senator Bruno Retailleau, Vorsitzender der Fraktion Les Républicains im Senat, am 30. März darin einen Angriff auf die industrielle Souveränität Europas (und vor allem Frankreichs) sah: „Deutschland beschließt, amerikanische Flugzeuge und das israelische … [Abwehrsystem Iron Dome] zu kaufen. Und man erfährt, dass der Motor der künftigen Eurodrone nicht von Safran, sondern von Avio, einer Tochtergesellschaft von General Electric, hergestellt werden soll, also unter ITAR [International Traffic in Arms Regulations]“.

 

[1] Das Eurodrone-Programm, das zwischen Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien durchgeführt wird. Die Hauptauftragnehmerin war die Airbus Defence and Space GmbH (Deutschland) mit Dassault Aviation (Frankreich), Leonardo (Italien) und Airbus DS SAU (Spanien) als Unterauftragnehmer.

Ein Wahlkampfthema

Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine hatte einige Auswirkungen auf den Wahlkampf in Frankreich. Er hat den Kandidaten Emmanuel Macron vorübergehend auf über 30 Prozent der Umfragewerte gehoben und dem populistischen Pro-Putin-Kandidaten Éric Zemmour einen Dämpfer verpasst – auch wenn diese Auswirkungen für den amtierenden Präsidenten nur von kurzer Dauer waren. In dem besonderen Kontext des Wahlkampfs offenbarte der Krieg in der Ukraine die Ambiguitäten einiger Kandidaten gegenüber dem Regime von Wladimir Putin. In diesem Zusammenhang tauchte eine gewisse Form der „Germanophobie“ oder zumindest des Misstrauens gegenüber Deutschland wieder auf. Zwar haben alle Kandidaten – manchmal widerwillig – die russische Aggression verurteilt und sich für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ausgesprochen, doch nicht alle haben ihre Unklarheiten gegenüber dem Russland Wladimir Putins beseitigt: Die Kandidatin des Rassemblement National (RN), Marine Le Pen, war beispielsweise der Ansicht, dass dieser „wieder ein Verbündeter werden“ könne, wenn der Krieg in der Ukraine beendet werde. Die gleichen Zweideutigkeiten finden sich in der Kampagne des populistischen Kandidaten Éric Zemmour und in geringerem Maße auch in der Kampagne des Kandidaten der radikalen Linken Jean-Luc Mélenchon. Die Ankündigung des Sondervermögens  für die Bundeswehr hat im Übrigen bei all diesen drei Kandidaten einen starken Aufschrei ausgelöst, da alle drei die „Wiederbewaffnung“ Deutschlands befürchten, mit der gesamten historischen Symbolik, die der Begriff in Frankreich impliziert. Es waren auch diese drei Kandidaten, die in ihrem Programm explizit ihre Ablehnung einer weiteren Zusammenarbeit mit Deutschland erwähnt hatten. Für den RN würde Paris im Falle eines Wahlsiegs „im Bereich der nuklearen Abschreckung und der Rüstungsexporte die seit 2017 eingeleitete strukturierende Zusammenarbeit beenden“ und Frankreich würde „seine Unterstützung für die deutsche Forderung nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zurückziehen“. Für Éric Zemmour geht es darum, das französische „Engagement in den großen europäischen Rüstungsprogrammen (Flugzeuge, Panzer und Kanone der Zukunft) zu überdenken, um unsere Interessen durchzusetzen“. Für Jean-Luc Mélenchon schließlich müssen „die deutsch-französischen Programme für Flugzeuge und Panzer ‚der Zukunft‘ (FCAS und MGCS) beendet werden, um französische Projekte zu entwickeln, an denen sich eventuell interessierte Nationen unter für beide Seiten vorteilhaften Bedingungen beteiligen können“.

Klare Trennlinien zwischen den Kandidaten sind in ihrer Positionierung gegenüber der Europäischen Union erkennbar. Bei den überzeugten Europäern, wie dem Grünen-Kandidaten Yannick Jadot und dem Kandidaten von La République en Marche Emmanuel Macron, wird die europäische Lösung bevorzugt. So meint Yannick Jadot: „Es gilt, eine europäische Rüstungsindustrie aufzubauen. Es gilt, die deutsch-französische Achse zu stärken: bei der Industrie, beim Klima, bei der Verteidigung“. Auch nach der Aufdeckung des Massakers in Butscha in der Ukraine bekräftigte der grüne Präsidentschaftskandidat die Notwendigkeit eines neuen Sanktionspakets, das „in Abstimmung mit Deutschland“ beschlossen werden solle.

Der Krieg in der Ukraine hat die Karten in Europa neu gemischt und dem Projekt der gemeinsamen Verteidigung neues Leben eingehaucht. Doch auch wenn sich der Krieg und die vom deutschen Kanzler angekündigte „Zeitenwende“ positiv auf die deutsch-französischen Beziehungen ausgewirkt haben, herrscht in Frankreich nach wie vor ein – aufrichtiges oder opportunistisches – Unverständnis für die deutschen Positionen. Dennoch hat Deutschland die Chance, diese Fronten aufzubrechen. Um die Vorwürfe zu entkräften, die Deutschland gemacht werden, sollte die Bundesregierung seinen Partner besänftigen und mehr über seine Zuverlässigkeit und sein Engagement für zukünftige gemeinsame Projekte kommunizieren.

Paul Maurice ist seit März 2020 Wissenschaftler im Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) am Ifri, wo er sich insbesondere mit Fragen der deutschen Innenpolitik und den deutsch-französischen Beziehungen im Kontext der europäischen Integration beschäftigt. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Paris-Est Créteil und an der Sciences Po Rennes in deutsch-französischen Studiengängen.