Brasilien
Jahrhundertwahlkampf in Brasilien: Duell der Titanen
Vorbereitungen auf die Wahlen
In Brasilien rüstet man sich für einen Superwahlsonntag. Am 2. Oktober finden Präsidentschafts-, Kongress- und Gouverneurswahlen statt. Gewählt werden alle 513 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 27 der 81 Senatorinnen und Senatoren, außerdem die Gouverneurinnen und Gouverneure der 26 Bundesstaaten und des Bundesdistrikts Brasília. Die Präsidentin bzw. der Präsident wird für vier Jahre gewählt. Das Abgeordnetenhaus wird alle vier Jahre komplett neu gewählt, während Senatorinnen und Senatoren für acht Jahre bestimmt werden, ein Drittel in diesem Jahr, die übrigen zwei Drittel in vier Jahren.
Die geballte Aufmerksamkeit der politisch interessierten internationalen Öffentlichkeit aber gilt der Abstimmung über den Präsidentenposten – und das vor allem wegen der beiden Hauptkontrahenten. Jair Messias Bolsonaro, der seit Jahren quasi am Fließband für Negativschlagzeilen sorgende rechtspopulistische Amtsinhaber, bemüht sich um eine Wiederwahl. Gegen ihn tritt Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula, an, Präsident von 2003 bis 2011, eine überdimensionale Projektionsfigur der globalen Linken. Schon 2018 hatte er sich neuerlich um den politischen Spitzenposten bemühen wollen. Seinerzeit vereitelte eine Verurteilung wegen Korruption die Kandidatur. Der Richterspruch ist mittlerweile aufgehoben worden, aus formalen Gründen. Inhaltlich steht noch einiges im Raum. Nun aber kann Lula Bolsonaro erstmal herausfordern. Der rechte Ex-Militär gegen den linken Ex-Gewerkschaftsfunktionär: Es ist das Duell zweier Titanen. Selten war das Attribut des Jahrhundertwahlkampfs wohl so berechtigt wie diesmal.
Parteiwechsel aus taktischen Erwägungen
Bolsonaro ist Spitzenkandidat der Partido Liberal (Liberale Partei, PL). Liberal ist allerdings weder er noch die PL. Im Laufe seiner politischen Karriere hat er mehrfach die Parteizugehörigkeit gewechselt. Er folgte dabei in der Regel taktischen Erwägungen, niemals aber fundierten weltanschaulichen Überzeugungen oder klaren programmatisch-inhaltlichen Präferenzen. Die PL hat sich zwecks Maximierung der Erfolgschancen ihres Spitzenmannes mit zwei rechtskonservativen Kräften, den Progressistas (Progressiven) und den Republicanos (Republikaner), zu einem Wahlbündnis mit dem Allerweltnamen „Pelo Bem do Brasil“ (Zum Wohle Brasiliens) zusammengeschlossen. Lula, Mitgründer und ehemaliger Führer der Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT), zieht an der Spitze des aus sieben Einzelparteien bestehenden Linksbündnisses „Vamos Juntos Pelo Brasil“ (Wir gehen zusammen für Brasilien) in den Wahlkampf.
Über Wochen lag Lula in den meisten Umfragen in Führung, zum Teil mit satten zwanzig Prozent Abstand. Die Brasilianer schienen genug zu haben von den demagogischen Ausfällen, der absurd-theatralischen Selbstherrlichkeit und einer vor allem von Leichtfertigkeit geprägten Corona-Politik des amtierenden Präsidenten. Je näher jedoch der Wahltermin rückt, desto geringer wird der Vorsprung des Herausforderers. Eine in der vergangenen Woche veröffentlichte Umfrage von DataFolha, eines der wichtigsten Meinungsforschungsinstitute des Landes, sah Lula noch bei 45 Prozent, Bolsonaro indes bei nur 33 Prozent. Andere Erhebungen weisen einen geringeren Abstand aus. Ein Sieger stünde damit am Abend des 2. Oktober noch nicht fest. Dazu bräuchte es eine absolute Mehrheit. Möglicherweise ist daher erst nach einer Stichwahl vier Wochen später, am 30. Oktober, entschieden, ob Bolsonaro für Lula den Palácio da Alvorada (Palast der Morgenröte), den Sitz des Staatsoberhaupts in Brasília, räumen muss, oder ob er dort weiter residieren darf.
Trump-Nähe als Menetekel
Umfragen sind noch keine Wahlergebnisse. Das weiß man natürlich auch im Kampagnenteam des Titelverteidigers. Mit einer Mischung aus Gelassenheit und Siegesgewissheit verweist Bolsonaro gerne auf die Erfahrungswerte seines ersten Präsidentschaftswahlkampfs vor vier Jahren. Auch 2018 sahen die Meinungsforscher Fernando Haddad, den Kandidaten des von der PT angeführten Linksbündnisses, über Wochen in Führung. Der Vorsprung jedoch schrumpfte kontinuierlich. Im ersten Wahlgang lag Bolsonaro, seinerzeit Spitzenmann der Partido Social Liberal (Sozialliberale Partei), ganze 17 Prozent vor Haddad. Die absolute Mehrheit verfehlte er mit gut 46 Prozent nur knapp. Die Stichwahl gewann er mit rund zehn Prozent Vorsprung.
Bolsonaro hat sich, was seine Selbstvermarktung und seine politische Positionierung anbelangt, stets an Donald Trump orientiert. Diese Nähe ist durchaus als Menetekel zu verstehen. Im Rahmen seines London-Besuchs aus Anlass der Trauerfeierlichkeiten für Elisabeth II., ließ er verlautbaren, wenn er nicht schon in der ersten Runde am 2. Oktober mit mindestens sechzig Prozent gewänne, wäre das auf Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Wahl oder der Auszählung zurückführen. Man kann diese Einlassung durchaus als Drohung verstehen, im Falle einer Niederlage seine Kernanhängerschaft zu mobilisieren. Beobachter fürchten Szenen, die den Sturm auf das Kapitol in Washington am Dreikönigstag 2021 an Brutalität noch übertreffen. Sorgen vor einem Militärputsch stehen im Raum.
Freundliche Signale vor allem an die Märkte
Es sind wirtschaftspolitische Themen, die den Wahlkampf dominieren. Hier ist die
Regierung Bolsonaro nur bedingt angreifbar. Die Inflation geht seit Monaten zurück. Sie
liegt derzeit zwar immer noch bei acht Prozent und damit deutlich höher als in Vor-
Covid-Zeiten. Dennoch lässt sich dieser Trend in einem Land, das mit Argentinien und
Venezuela an zwei Hochinflationsstaaten grenzt, natürlich vermarkten. Auch das Wachstum ist solide. Nach zwei pandemiebedingt eher mageren Jahren, konnte Wirtschaftsminister Paulo Guedes für das zweite Quartal 2022 eine Steigerung von 1,2 Prozent vermelden. Die Prognosen hatten noch bei 0,9 Prozent gelegen.
Lula und sein Wahlkampfteam haben verstanden, dass sich mit traditionell linken Forderungen nach mehr Regulierung, Verstaatlichung oder Umverteilung derzeit kein Stich machen lässt. Bei seinen Auftritten in diesen Tagen und Wochen mag er die Erwartungen seiner linken Kernwählerschaft habituell und rhetorisch noch bedienen. Seine Personalentscheidungen indes senden freundliche Signale vor allem an die Märkte. In sein Team geholt hat er sich Henrique Meirelles, ehemaliger Chef der Zentralbank und Finanzminister im Kabinett des noch dem traditionellen Konservativismus zuzurechnenden Bolsonaro-Vorgängers Michel Temer. Als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten hat er sich Geraldo Alckmin an die Seite geholt. Alckmin war Lulas Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen 2006. Er war zweimal Gouverneur des bevölkerungsreichen und wirtschaftlich potenten Bundesstaats São Paulo und gehört nach einigen Brasilien-typischen parteipolitischen Häutungen mittlerweile der trotz ihres Namens moderat linken Partido Socialista Brasileño (Sozialistische Partei Brasiliens) an.
Nervosität im Bolsonaro-Lager
Für Bolsonaro, der mit seinem ehemaligen Verteidigungsminister Walter Braga Netto als Running Mate in den Wahlkampf geht, stellt Lulas facettenreiches Personaltableau natürlich eine Gefahr dar. Folgerichtig wird er nicht müde, Lula als unverbesserlichen linken Dämon und als Gallionsfigur einer neosozialistischen Volksfront zu brandmarken. Brasilien drohten, so das Mantra des Präsidenten, mit einem Wahlsieg des Vamos-Juntos-Bündnisses Zustände wie im kirchneristischen Argentinien oder, noch schlimmer, im chavistischen Venezuela. Attacken wie diese zeugen davon, wie nervös man im Bolsonaro-Lager ist. Nicht mal mehr die Anhänger der eigentlich erzkonservativen evangelikalen Kirchen – bereits rund ein Viertel der Bevölkerung des einst tiefkatholischen Brasilien – stehen noch geschlossen hinter Bolsonaro, anders als vor vier Jahren. Lula scheint auch hier an Boden zu gewinnen.
Neben den beiden Favoriten gehen neun weitere Kandidaten ins Rennen. Auf einen Achtungserfolg in der ersten Runde können dabei allenfalls Ciro Gomes von der moderat linken Partido Democrático Trabalhista (Demokratische Arbeiterpartei) und Simone Tebet vom moderat rechten Movimento Democrático Brasileiro (Demokratische Bewegung Brasiliens) setzen. Gomes hat allerdings ein akutes Autoritätsproblem: Ein Teil seiner Partei unterstützt ihn nur noch halbherzig, will, dass er seine Kandidatur schon jetzt zurückzieht und Lula unterstützt. Trotzdem rangiert er in Umfragen derzeit noch an dritter Stelle. Tebet wiederum bemüht sich darum, den Wählern der rechten Mitte, denen Bolsonaro in Stil und Inhalt zu atavistisch ist, eine zivilisiertere parteipolitische Alternative anzubieten. Sie wird dabei von Ex-Präsident Temer unterstützt. Die Partei NOVO schließlich, die einzige nicht nur nominell, sondern auch weltanschaulich und programmatisch liberale Gruppe, bewegt sich mit ihrem Spitzenmann Luiz Felipe d’Avila allenfalls regional oberhalb der Wahrnehmungsgrenze.
Falls keiner der beiden Antagonisten gleich im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit holt, kommt es auch darauf an, was die unterlegenen neun Kandidaten ihren Wählern empfehlen. Unabhängig davon aber dürften Lula und Bolsonaro ihren Ton in den vier Wochen bis zur Stichwahl Ende Oktober nochmal deutlich verschärfen.
Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Buenos Aires. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen die Länder Argentinien, Paraguay und Uruguay. Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im FNF-Büro Buenos Aires.