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Liegt "Mitteleuropa" wirklich in Europa?

Von einem Gegensatz, der keiner sein sollte
Liegt "Mitteleuropa" wirklich in Europa?

Ungarn, Burg Visegrad, Blick auf die Donau

© Pixabay.com, überarbeitet

Sie geht um wie ein Gespenst, die Vorstellung, dass sich mit der Visegrád-Gruppe (kurz: V4) innerhalb der EU eine Art „mitteleuropäischer Block“ gebildet habe, der zunehmend auf Distanz zu Institutionen und Werten der Union gehe. Die Eröffnung des Verfahrens gemäß Art. 7 der EU gegen Polen wegen fortwährender Verletzung der demokratischen Grundwerte des EU-Vertrags hat für viele Menschen diesen Eindruck verstärkt. Die Situation ist jedoch wesentlich komplexer und wohl auch weniger dramatisch. Mehr noch: Neben durchaus bedrohlichen Tendenzen gibt es auch viele Bereiche, bei denen man den mitteleuropäischen Staaten auch zuhören sollte.

Als Polens neuer Ministerpräsident Morawiecki sich unmittelbar zum Jahresauftakt in Budapest mit Ungarns Ministerpräsidenten Orbán traf, fiel kein Wort über das anhängige Verfahren gegen Polen gemäß Art. 7. Aber es war unausgesprochen klar, dass sich Ungarn gegen jedwede Sanktion, die damit verbunden sein könnte, stemmen würde. Beide Regierungen stehen im begründeten Verdacht, einen unzimperlichen Umgang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu pflegen, wenn es dem dauerhaften Machterhalt dient.

Die polnisch-ungarisch Solidaritätsgeste hat wieder einmal Mutmaßungen in die Kommentarspalten getragen, dass mit der V4 eine Art „Mitteleuropa“ entstanden sei, das dabei ist, die Wertegemeinschaft mit der EU als „westeuropäischem“ Projekt oder gar die EU selbst in Frage zu stellen.

„Mitteleuropa“: Ein ideologischer Begriff

Mutmaßungen dieser Art können schnell zur sich selbst erfüllenden Voraussage werden, wenn man sie sich vorschnell aneignet und dann falsch auf die politischen Vorstöße der vier betroffenen Länder reagiert. In der Tat ist der Begriff „Mitteleuropa“ ideologisch belegt und bedeutet antiwestlich, antiliberal und antidemokratisch. Er wurde bezogen auf die Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn in ihrer Rivalität zu Frankreich und Großbritannien.

Nichts deutet darauf hin, dass sich die V4 je als eine Institution verstanden hat, die sich in diese Tradition einordnet. Im Gegenteil: Der Gründungsimpetus der Visegrád-Gruppe war es 1991, den Prozess der Westbindung voranzutreiben, bevor der (umstrittene) Beitritt zur Nato und später zur EU vollzogen werden konnte. Dieser Impetus wird von den Mitgliedern – allen bisweiligen Provokationen zum Trotz - auch immer noch hochgehalten.

V4: Wo ist das einigende Band?

Allerdings hat die V4 dabei stets Schwierigkeiten, dieses Ziel mit konkreter Politik zu unterfüttern. Gibt es nach dem Beitritt überhaupt ein gemeinsames Ziel? Eine Zeitlang schien die Flüchtlingspolitik ein einigendes Band. Man wollte keine EU-Flüchtlingsquoten. Spätestens die Reaktionen auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes haben gezeigt, dass diese Einheit nur wenig realen Bestand hat. Ungarn weigert sich, das Urteil anzuerkennen, auch wenn sich in jüngster Zeit eine gewisse Kompromissbereitschaft andeutet. Tschechien wird wohl eine Strafgebühr zahlen und das Urteil nicht in Frage stellen. Die Slowakei akzeptiert den Richterspruch und betont Europatreue.

Das war auch zu erwarten. Denn die vier Länder verbindet historisch außer der gemeinsamen Erfahrung der kommunistischen Tyrannei weniger als man denkt. Polen ist national-katholisch geprägt. Tschechien hat eine lange Tradition als laizistisch ausgerichtetes Land. Die Slowakei hat ihre Unabhängigkeit dereinst gegen die Ungarn erfochten. Der ungarische Nationalismus des Viktor Orbán war zunächst gegen die Slowakei gerichtet. Für Polen ist Russland die geostrategische Bedrohung Nummer 1. Ungarns Regierung frönt dagegen dem Putinismus.

Was treibt also sonst die Geisterdiskussion um „Mitteleuropa“ an? Am ehesten ist es wohl die Frage, welche Rolle man in Europa generell spielt. Der pro-EU-Enthusiasmus, der übrigens nie so groß war wie der Nato-Enthusiasmus, ist überall ins Schwanken geraten. Dabei geht es nicht mehr um einzelne Entscheidungen. Über die Gefahren der Abhängigkeit von russischem Gas durch die Nordstream-Projekte machen sich schließlich nicht nur die „Mitteleuropäer“, sondern auch die Nordeuropäer große Sorgen. Risse gibt es auch in Westeuropa – wie sonst wäre der Brexit erklärbar? Und gibt es nicht auch einen Nord-Süd-Konflikt in Sachen finanzieller Stabilitätskultur und Euro-Rettung? Vielmehr hat sich nicht nur in den V4, sondern in vielen der ehemaligen „Ostblock“-Staaten das Gefühl breit gemacht, nur EU-Mitglieder „zweiter Klasse“ zu sein.

Dieses Gefühl ist auch ein Grund für den Widerstand Polens gegen das Konzept eines „Europas der verschiedenen  Geschwindigkeiten“, was im Übrigen die anderen V4-Länder teilen. Die meisten Politiker, aber auch Bürger in den V4 sehen in dieser Idee den Versuch, sie mehr oder minder auszugrenzen, wenn in der EU gegen ihren Willen neue Projekte durchgeboxt werden. Es gebe dann Länder, die „am Steuerrad“ säßen, und andere, die im Abseits stünden. Dabei praktiziert die polnische Regierung selbst das Modell des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten, indem sie sich weigert, einen Eurobeitritt auch nur in Erwägung zu ziehen. Diese schizophren anmutende Politik bezieht ihre Kraft aus dem Gefühl, sich bei wichtigen Fragen nicht durchsetzen zu können. Auch hätte man gerne eigene Spielräume (was eigentlich die Idee der verschiedenen Geschwindigkeiten populär machen sollte), fühlt aber, dass dies die eigene Position weiter schwächen würde.

New Europe vs. Old Europe: Ein Rückblick

All dies könnte langfristig in der Tat zur Erosion der EU und zur Vertiefung von Konflikten mit den V4 führen. Die EU hat darauf noch keine Antwort gefunden. Dabei hat sich diese Aufteilung schon seit längerem abgezeichnet. Der „Urknall“ ist vermutlich der Irakkrieg von 2003. Die wichtigen westeuropäischen Player in Europa, Bundeskanzler Schröder und der französische Staatspräsident Chirac, hatten zwar erkannt, dass die Irakinvasion der US-geführten „Koalition der Willigen“ die Probleme des Mittleren Ostens eher verschärfen, denn lösen würden. Aber die Stimmungslage in Mitteleuropa hatten sie in verheerender Weise falsch eingeschätzt. Die dort diskutierte Frage nach der moralischen Existenzberechtigung eines totalitären und völkermörderischen Regimes à la Saddam Hussein war ihnen keine tiefere Würdigung wert. Für die Länder aber, die sich gerade erst aus den Klauen des Sowjetimperiums befreit hatten, ergab die Anspielung des US-Präsidenten Bush auf das „New Europe vs. Old Europe“ durchaus Sinn. Achtlos in die Öffentlichkeit getragene Planspiele in Berlin und Paris, dass eine deutsch-französisch-russische (!) Achse eine Alternative zum Bündnis mit den USA sei, bestärkten Befürchtungen in Mitteleuropa, dass man von Europa in Bedrohungsfällen nicht viel zu erwarten hätte. Hinzu kam die Demütigung durch Präsident Chirac, der die Mitteleuropäer auch verbal zu Europäern minderer Bedeutung abstempelte als er sagte "Sie haben eine großartige Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten".

Spätestens seit diesem Zeitpunkt gab es eine Perzeptionsverschiebung. Deutsch-russische Alleingänge wie der Bau der Nordstream-Projekte werden auch in den nordeuropäischen Ländern ungern gesehen, aber in Polen und den baltischen Staaten kommt das Gefühl dazu, dass die Sicherheitsinteressen in der EU nur aus westeuropäischer Sicht interpretiert werden.

Dieses Gefühl setzte sich in anderen Politikbereichen durch. Einige Beispiele:

  • Die unabgestimmte Öffnung der Grenzen durch Deutschland im September 2015 wurde von vielen Menschen in Mitteleuropa als ein Alleingang gesehen, dessen Folgekosten man per Order nun auf sie abwälzen wollte. Das mag eine verzerrte, aber nicht völlig abwegige Interpretation der Dinge sein.
  • Die Skepsis gegenüber dem Euro – vor allem dort, wo seine Einführung vorgesehen ist – hat auch seine Wurzeln darin, dass die V4 eine vergleichsweise hohe Stabilitätskultur pflegen, aber mit einem eher niedrigen Sozial- und Lebensstandard auskommen müssen. Transfer zugunsten des immer noch wohlhabenderen Griechenlands stoßen auf enormes Unverständnis. Gerade die deutsche Politik hätte hier engere Allianzen schmieden können.
  • Es mag gute Gründe geben, dass die beiden EU-Agenturen, die bisher in London ihren Standort hatten, nun nach Paris (Bankenbehörde) und Amsterdam (Arzneimittel-Agentur) umziehen. Dass Bratislava nicht den Zuschlag für letztere bekam, verstärkt allerdings das Gefühl des Zurückgesetztseins bei den V4. Von solchen Entscheidungen geht eben auch ein Symbolgehalt aus.
  • Dass sich die Regierungschefs der sechs Gründungsmitglieder der Gemeinschaft oder des „Direktoriums“ (Deutschland, Frankreich, Italien) zu Absprachen treffen, obwohl sie als Gremien offiziell nicht existieren, sorgt ebenfalls für Unmut.

Letzteres deutet eher auf einen Wandel in der Ausrichtung der Politik der Westeuropäer hin, denn auf einen in den V4. Für die Regierung Kohl/Genscher war die gleichberechtigteEinbindung der ehemaligen kommunistischen Länder in die EU-Politik eine Art Staatsräson. Die Gründung des „Weimarer Dreiecks“ 1991 durch Deutschland, Frankreich und Polen war der institutionelle Ausdruck dieser Politik. Der liberale Außenminister Guido Westerwelle versuchte dies zu beleben, indem ihn der erste Besuch nach Amtsantritt nach Warschau und erst dann nach Paris führte. Derartige Prioritäten sind zurzeit weder in der EU, noch in der deutschen Außenpolitik, die eigentlich ein großes Interesse daran haben sollte, zu erkennen.

Die Vorstellungen des „Juncker-Plans“ oder die neuen Pläne von Frankreichs Präsident Macron sind für die V4 letztlich der Ausfluss eines Denkens in den ausgefahrenen Gleisen der Zeit vor 1989, als Deutschland und Frankreich der unbestrittene Motor der Union waren und jeder Vertiefungsschritt per se einen Fortschritt bedeutete. Das alles mag funktioniert haben als einerseits die deutsche Außenpolitik den Beziehungen zu den V4-Ländern noch eine (auch auf symbolischer Ebene) tiefere Bedeutung beimaß und andererseits die Länder des ehemaligen Ostblocks tatsächlich noch „Novizen“ im gemeinsamen europäischen Haus waren. Letzteres ist nach den fast drei Jahrzehnten, die seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vergangen sind, aber nicht mehr der Fall. Gerade Polen fühlt sich dank seiner Größe und Wirtschaftsstärke von einem neuen Selbstbewusstsein beseelt (das sich leider in einem engen Nationalismus äußert). Ähnliches gilt auch für die anderen Länder. Das Gefühl, in wesentlichen Belangen nicht ernst genommen zu werden, ruft heute stärkere Gegenreaktionen hervor als noch 2004, als Chirac sie aufforderte, „den Mund zu halten“.

Europas Aufgabe

Es besteht kein Zweifel, dass in einigen Ländern (Polen/Ungarn) der Abbau rechtsstaatlicher Strukturen beängstigende Ausmaße angenommen hat, und dass die EU jedes Recht und auch die Notwendigkeit auf ihrer Seite hat, auf die Einhaltung ihrer grundlegenden Rechtsstandards zu pochen, was sie mit der Eröffnung des Verfahrens nach Art.7 des EU Vertrags gegen Polen zurzeit auch tut.

Aber das kann nicht alles sein. Denn es gibt auch tiefere Gründe, warum sich bei den „neuen“ Europäern aus legitimen Gründen Unmut über „Brüssel“ aufbaut. Die EU und etliche „alte“ Mitgliedstaaten scheinen bei manchen Diskussionen nicht wirklich verinnerlicht zu haben, dass sich die Lage seit 1989 und seit der EU-Erweiterung verändert hat. Hier einige Ideen, was getan werden müsste.

  • Sicher können und müssen von Deutschland und Frankreich als den „großen“ Mitgliedstaaten Impulse ausgehen. Aber wir dürfen nicht übersehen, dass die EU größer geworden ist und daher auch die „Motorgröße“ angepasst werden sollte. Die V4 müssen Teil jeder europäischen Strategieentwicklung sein. Ohne Einbindung von V4-Ländern wird es eine Vertrauens- und Legitimationskrise in Europa geben. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage - Bedrohung durch Russland, zugleich wachsende Unberechenbarkeit der USA - wächst die Notwendigkeit, Europa wieder als ein Europa zu definieren. Hier ist gerade auch die deutsche Außenpolitik gefragt, die sich wieder ihrer Mittlerfunktion erinnern muss.
  • Die V4 wie die anderen „neuen“ Mitgliedstaaten haben einen Anspruch darauf, genauso an den Steuerhebeln der EU zu sitzen wie Frankreich oder Deutschland. Gleichzeitig haben sie, wie alle anderen Länder, auch ein Recht darauf, Dinge, die sie betreffen, selbst zu bestimmen. Das erfordert Flexibilisierung. Die starre Quotenregelung für Flüchtlinge ist ein Beispiel dafür, wie es nicht sein sollte. Sie wird in den V4 weder von der Politik noch von der Bevölkerung auch nur ansatzweise akzeptiert. Sie mit der „Brechstange“ durchzusetzen, schafft mehr Probleme als es löst. Der Weg, bei anderen Aufgaben im Bereich der Flüchtlingspolitik die entsprechenden Länder stärker und verpflichtender heranzuziehen, wäre machbar.
  • Hier liegt auch ein institutionelles Problem. Der Widerspruch, dass man einerseits nicht EU-Mitglied „zweiter Klasse“ sein will, andererseits viele Politiken selbstbestimmt ohne „Brüssel“ regeln will, hat seine Ursache in dem noch immer etwas unausgereiften Verständnis des Subsidiaritätsprinzip, das zwar in Art. 5, Abs.3 des EU-Vertrags verankert ist, aber so vage formuliert wurde, dass es die den Mitgliedstaaten zugewiesenen Spielräume nicht klar von EU-Kompetenzen trennt und ihnen nur sehr unklar Vorrang einräumt. Hier sollten in Zukunft die Reformbemühungen der EU ansetzen. Es muss klar festgelegt werden, was unbedingt und prinzipiell unantastbarer Kern der EU ist (etwa die Rechtsstaatlichkeit), und wo die Zustimmung aller Länder Pflicht ist (Kernpolitiken der EU). Es darf in diesen Bereichen dann auch keine „verschiedenen Geschwindigkeiten“ geben, was letztlich in einem „Zweiklasseneuropa“ enden würde. Ebenso ist zu definieren, wo die Mitgliedsländer frei und eigenständig entscheiden. Hier würde das Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ gelebte und (auch in den V4) geschätzte Praxis. Letztlich geht es um eine glasklare Definition des Vorrangs der bürgernächsten Ebene.

Wir müssen Wege finden, von „new Europe“ und „old Europe“ zu einem Europa zu gelangen. Man darf dabei gewiss nicht den nationalistischen, illiberalen Kräften der V4 entgegenkommen, aber man darf sie auch nicht als den Teil Europas betrachten, der in wesentlichen Fragen im Abseits steht. Europa muss sich seiner neueren Geschichte stellen. Ein „Weiter so“ hilft da nicht weiter.

Dr. Detmar Doering leitet das Projektbüro für Mitteleuropa und die baltischen Staaten der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Prag.