Studienreise
Moldau – wie sich eine zerrissene Republik im Schatten des russischen Angriffskrieges auf den Weg nach Europa macht
Wie in ganz Moldau, so auch in der autonomen Teilregion Gagausien, stechen viele Widersprüche gleich auf den ersten Blick ins Auge. Diese werden dort jedoch zusätzlich durch die besondere Tatsache gebündelt, dass das Russische die absolut dominierende Sprache ist. Nach drei Jahrzehnten weitreichender Autonomie lebt diese Region der Republik Moldau, und scheinbar nicht nur sie, immer noch unter dem Einfluss Russlands: politisch, wirtschaftlich, medial und auch in emotionaler/sentimentaler Hinsicht. Ca. 50 Millionen Euro hat der Kreml bis zu den Kommunalwahlen Anfang November alleine in diesem Jahr für die Wahlbeeinflussung in Moldova investiert – Kreml-nahe Oligarchen finanzieren prorussische Medien, Politiker und Parteien und bezahlen die antiwestlichen Demonstranten auf den Straßen der moldauischen Städte. Das Geld dafür wird kofferweise durch Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken per Flugzeug ins Land hineingeschmuggelt und entsprechend verteilt. Die pro-europäische PAS-Regierung und die demokratische Präsidentin Maja Sandu müssen reformieren und liefern. Die EU ist am Zug, den Weg für den Beitritt des Landes zu ebnen. Die klaren Vorteile einer europäischen Perspektive und des EU-Beitritts gehören besser und in allen in der Republik verwendeten Sprachen erklärt.
Die Verantwortlichen aus der rumänisch-sprachigen Mehrheit in anderen Gebieten des Landes und in der Hauptstadt Chişinău haben durch vorherrschendes Desinteresse, eine grundsätzliche Ablehnung des Russischen und die fehlende Dialogbereitschaft gewiss mit für das bestehende Vakuum gesorgt - Gagausien ist der einzige Bestandteil der Republik, in dem der Schulunterricht in rumänischer Sprache nur schleppend eingeführt wurde bzw. immer noch wird – so hat sich Russlands Giftpropaganda in die Köpfe der Menschen einschleichen und keine gemeinsame moldauische Identität entstehen können, obwohl es dort seit der Unabhängigkeit niemals eine russische „Friedenstruppe“ (nach russischer Lesart) gab, wie in der abtrünnigen, immer noch direkt Kreml-unterstellten Provinz Transnistrien. Vor allem dies ist am 27.10.2023 im Gespräch der deutschen Medienschaffenden in Comrat mit dem Rektor der Staatlichen Universität Gagausiens, Herrn Sergei Zaharia, sehr deutlich geworden, aber auch das Bekenntnis zum gemeinsamen moldauischen Weg in eine europäische Zukunft.
Moldau als von Russland polarisiertes Land
Die politische Debatte, sowie der kommunale Wahlkampf im Herbst 2023, wird in der ganzen Republik von den pro-russischen, aus Moskau unterstützten, linken und populistischen Parteien, wie die SHOR-Partei, vergiftet. Die SHOR-Partei wurde erst im Juni von der pro-europäischen Gesamtregierung verboten, nachdem das Verfassungsgericht in Chişinău entschieden hatte, dass sie die Souveränität und Unabhängigkeit des Staates untergräbt. Die Chancen der demokratischen PAS-Partei, aus der auch die amtierende pro-europäischen Präsidentin Maja Sandu hervorgegangen ist, auf Zugewinne stehen allerdings sehr schlecht. Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom Sommer 2021 ist nach den kriegsbedingten Erschütterungen seit Februar 2022, vor allem hinsichtlich der Wirtschaft und der Energiepreise, aktuell unhaltbar. Obwohl vielen Bürgerinnen und Bürgern Moldaus die jetzige Regierung als die fortschrittlichste und seit der Unabhängigkeit sogar kompetenteste erscheint, die Trennungslinien zwischen den Ethnien bzw. Sprachgruppen bleiben ein dringend zu lösendes Problem, ebenso wie die Armut oder die Korruption.
Die Menschen in der Region Gagausien sind noch stärker als die anderen russischsprachigen Bewohner Moldaus Gefangene der russischen Staatspropaganda. Und für die noch sowjetisch sozialisierten Menschen über 40 fällt es sehr schwer, den anerzogenen Glauben, ein Teil der russischen Welt sein zu müssen, abzuschütteln.
Der momentane Zustand liegt aber nicht nur darin begründet, dass die Gagausen in einem Teufelskreis gefangen bleiben, der dadurch aufrechterhalten wird, dass sie russischsprachig sind und oft weder die Sprache des restlichen Landes – Rumänisch – noch die Turksprache ihrer Vorfahren, in Folge der sowjetischen Russifizierungspolitik, beherrschen.
Man konnte Gagausien wegen des Zerfalls der UdSSR 1991 zwar aus Russland herausbekommen, aber man schaffte es offensichtlich nicht, die Idee der mentalen Zugehörigkeit zu einem Phantombild, Groß-Russland, aus den Köpfen der Menschen in der Region ganz zu tilgen, und diese für einen gemeinsamen dem Westen zugewandten Staat, der neuen Republik Moldau zu gewinnen. Es gibt dafür unbestritten zahlreiche Gründe in der Geschichte vor 1944, als die Sowjetmacht das Land im 2. Weltkrieg erobert hatte. Von den vielen Umwälzungen des 20. Jh. (z.B. den Folgen des Hitler-Stalin-Pakts für das ehemalige Bessarabien) sind jedoch alle Einwohner der Republik Moldova gleichermaßen traumatisiert. Die durch wechselnde totalitäre Gewaltherrschaften verursachten Wunden wurden nach 1993/94 nicht aufgearbeitet und konnten folglich nicht verheilen.
Die gagausischen Wahlergebnisse, und dies ist tatsächlich die eigentliche Besonderheit, waren über die Jahre der Autonomie hinweg stets pro-russisch. Die gesamte Wirtschaft, wie auch die Bildung- und Arbeit-Migration von jungen Menschen, waren überwiegend nach Osten ausgerichtet, im Gegensatz zum rumänisch-sprachigen Teil der moldauischen Bevölkerung, und auch die Informations- und Unterhaltungsquellen kamen direkt aus Moskaus. Schon Anfang der 1990er Jahre erklärte die Region, sogar noch vor Transnistrien, ihre Unabhängigkeit von Moldova. Nichtsdestotrotz wurde hier eine friedliche Lösung gesucht und erreicht: 1994 erkannte Chişinău die Autonomie der Region innerhalb des Landes an.
Während der Sowjetzeit nutzte der Kreml die Durchsetzung der russischen Sprache in allen Sowjet-Republiken als Instrument, um die Bevölkerung administrativ, kulturell und emotional zu kontrollieren. Die erzwungene Russifizierung in Gagausien blieb jedoch nicht nur ein schweres Erbe aus der Vergangenheit, sondern ist heute zum Teil der Identität der Menschen geworden. Die Gagausen leben ununterbrochen im südlichen ehemaligen Bessarabien seit Ende des 18 Jh’s, und kurz gesagt, sind sie ein Turkvolk, das zur Orthodoxie konvertiert ist und im Alltag meistens nur Russisch spricht.
Der vielleicht aufschlussreichste Beweis für die Neigungen dieser Minderheit war das Referendum vom Februar 2014. Obwohl Chişinău es für illegal erklärte, nahmen 70,4 Prozent der fast 140.000 Einwohner Gagausiens daran teil. 98,9 Prozent sagten, sie würden sich für die eigene Unabhängigkeit entscheiden, wenn die Republik Moldau ihre Souveränität verlöre und sich mit Rumänien vereinigen würde; 98,4 Prozent sagten, sie würden es vorziehen, der Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan beizutreten; 97,2 Prozent waren gegen einen Beitritt zur Europäischen Union.
Der fortdauernde Angriffskrieg Russlands in der Ukraine als Grund für einsetzendes Umdenken – in ganz Moldau, einschließlich Transnistriens
In den letzten zehn Jahren haben die Gagausen zwar immer noch für russophile Parteien gestimmt. Im Jahr 2015 wählten sie Irina Vlah, die Kandidatin der Sozialistischen Partei, zu ihrem Baschchan (Gouverneur), die im Wahlkampf neben dem Vorsitzenden der Moskauer Staatsduma, Sergej Naryschkin, posierte. Vier Jahre später errang Vlah den größten Sieg in der modernen Geschichte der Region und ließ sich neben Wladimir Putin ablichten.
In letzter Zeit sind ihre Äußerungen moderater geworden. Vlah hat sich öffentlich für die Bedeutung der Beziehungen zur Europäischen Union ausgesprochen und den Erwerb der rumänischen Sprache gefördert. Sie wandte sich sogar gegen das Referendum von 2014: "Gagausien begrüßt den Status der Republik Moldau als Kandidat für die EU-Mitgliedschaft und unterstützt die europäische Integration des Landes". Diese Äußerung wiederholt sie seit Ende 2022, auch im Gespräch mit der deutschen Journalistengruppe. Das tut sie als momentan „arbeitslose“ Politikerin, weil ihre zweite und turnusmäßig letzte Amtszeit als Gouverneurin von Gagausien im Sommer 2023 abgelaufen war. Sie selbst beherrscht inzwischen die rumänische Sprache – Aber ist sie wirklich bereit für einen Kurswechsel hin zu der EU, wenn man sie gleichzeitig als mögliche Kreml-nahe Kandidatin und Gegnerin von Maja Sandu bei der nächsten Präsidentschaftswahl im Moldova vermutet?
Ihre pro-europäischen Äußerungen finden jedenfalls in der Öffentlichkeit der Heimatregion Gagausien wenig Anklang. Im Mai dieses Jahres wurde die Vertreterin der SHOR-Partei, Evghenia Gutul, als Bashkhan in Gagausien gewählt, und dies mit dem Versprechen der Zusammenarbeit mit Russland in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Energie. Am 19. Juni 2023 wurde die SHOR-Partei zwar verboten, so dass Guțul in Comrat ohne Unterstützung einer Partei regieren muss. Dass alle Kreml-Marionetten innerhalb Moldaus Politik jetzt umdenken würden, ist aber mehr als fraglich. Trotz europäischer Orientierung der Zentralregierung und der Unterstützung für den EU-Kurs aus Rumänien oder Brüssel bestehen die komplexen Verbindungen nach Moskau über Gagausien und noch viel enger über das russisch-kontrollierte Transnistrien immer noch. Die Strom- und Gasversorgung-Unabhängigkeit von Russland wird zwar mit Erfolg forciert, was gegenüber der Journalistengruppe aus Deutschland der amtierende Energieminister der Republik, Victor Parlicov, detailliert erläutert hat. Allerdings entsteht ein Großteil des Stroms nach wie vor eben am Ende der Gazprom-Leitung nördlich von Tiraspol im abtrünnigen Transnistrien. Erst wenn die Ukraine den Transitweg stilllegt, wird die russische Einflussnahme auf Moldaus Energiesicherheit beendet sein - und somit auch die Grundlage für die Existenz des einst von dem sowjetischen KGB-Offiziers Victor Gushan geschaffenen Separatistennestes zwischen Moldova und der Ukraine.
Guschan mit seiner mafiösen Sheriff-Corporation beherrscht fast seit 30 Jahren Transnistrien, seine politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Verflechtungen zu den Verantwortlichen der gesamten Region reichen in alle Himmelsrichtungen. Für unabhängige Journalisten, wie Irina Tabaranu von ZONA DE SECURITATE oder Mehail Sirkeli von NOKTA gehen die Maßnahmen der PAS-Regierung, um endlich Lösungen für die beiden Problemgebiete Transnistrien oder Gagausien zu finden, nicht weit genug. Diese Gebiete sollten jetzt im Windschatten des Krieges in der Ukraine durch schnelles und entschiedenes Handeln mit dem rumänisch-sprachigen Teil Moldaus zusammengeführt werden, solange das Zeitfenster dafür existiert. Die Stimmungslage ist gerade günstig. Die Karten des Kremls bzw. der Separatisten haben sich durch die Sperrung des Transitweges für Geld, Waren und Menschen über die Ukraine nach Russland, die zwischen 2014-2022 erfolgt ist, deutlich verschlechtert. Jetzt wäre der Zeitpunkt da, um Fakten für die Einheit der Republik Moldau zu schaffen. Allerdings lassen die immer noch ca. 7000 unter Waffen stehenden Truppen Putins, unabhängig davon, wie viele russische Berufssoldaten noch darunter sind, seitdem die Rotation der Offiziere und Unteroffiziere über den ukrainischen Flughafen von Odesa nach 2014 nicht mehr möglich ist, keine unüberlegten Schritte zu – so die Meinung der Gesprächspartner, Daniel Voda, Pressesprecher des Premierministers, und Dan Nicu, Reintegrationsberater der Regierung für Transistrien und Gagausien, gegenüber den deutschen Medienschaffenden.
In der Tat lässt die Komplexität der Situation keinen Raum für schnelles Handeln. Bis auf die offiziellen Vertreter aus Gagausien waren alle Gesprächspartner der Teilnehmenden an der FNF-Studienreise langjährige Partner der Stiftungs-Projektarbeit in Moldova und Rumänien.
Für die Realisierung des Programms gilt großer Dank dem FNF-Projektleiter in Bukarest, Raimar Wagner, und unserem Projektkoordinator in Chişinău, Sergiu Boghean.