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Zeitgeschichte
Mythos '68

Tiefenwirkungen einer Revolte

50 Jahre ist es her, dass in Deutschland die Studenten auf die Straßen gingen. Für die einen ist '68 eine Chiffre für Liberalisierung und Modernisierung, für emanzipatorischen Aufbruch und Abschied von Autoritätshörigkeit; für andere ist die Jahreszahl ein Synonym für den Verfall bürgerlicher Werte, die Zerstörung traditioneller familiärer Strukturen, für Gewaltbereitschaft und schließlich auch Terror. Welche politisch-psychologischen Tiefenwirkungen und -prägungen dieser Zeit sind identifizierbar? Wie schwierig die Bewertung des Themas bis heute ist, zeigte sich jüngst auch bei einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, die dem Thema in einem spannenden Mehrgenerationen-Gespräch nachspürte.

Weithin unstrittig ist heute – bei aller unterschiedlichen Bewertung im Einzelnen –, dass 1968 in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine Zäsur markiert. Zugleich ist '68 aber auch ein Mythos, eine generationenübergreifende Erzählung, deren Tiefenwirkung andauert aber schwer zu fassen ist. Zu vielfältig waren die Wurzeln der Rebellion, zu unterschiedlich ihre Ziele und ihre Protagonisten, zu komplex, ja widersprüchlich ihre Einflüsse auf die Gesellschaft.

Auch zum 50. Jahrestag streiten hierzulande einmal mehr Verfechter und Gegner, Zeitzeugen und Nachgeborene über den historischen Ort von '68. Und die Faszination der damaligen Ereignisse scheint mit zunehmendem zeitlichem Abstand eher größer als kleiner zu werden. Differenzierte und abwägende Töne haben es in diesem Wiederholungsdiskurs noch immer schwer. Zu dieser Einschätzung kam Michael Roick von der Stiftung für die Freiheit bei seiner Einführung in die Thematik im vollbesetzten Kinosaal in den Berliner Hackeschen Höfen und untermauerte seine Ausführungen mit entsprechenden Passagen aus Publikationen der anwesenden Podiumsgäste.  

Mit der Kultur des Gehorsams gebrochen

„Keine Generation seit dem Zweiten Weltkrieg“, so bspw. der 68er Biograph Reinhard Mohrin einem längeren Essay, „hat sich derart in die jüngere Zeitgeschichte eingegraben, wie die 68er.“ Keine sei derart zur Mega-Marke geworden wie die Rebellen, Hippies, Straßenkämpfer und Weltverbesserer aus den wilden 60ern. Dagegen komme keine Flakhelfer-Generation an, schon gar keine ‚Generation Golf‘ oder all jene Generationen XYZ. Nicht einmal der Fall der Mauer hätte daran etwas geändert. Bis heute seien die Jahre zwischen 1965 und 1969 Fixpunkte einer nicht endenden Debatte.  

Auch der zweite Gast des Abends, Peter Schneider, dessen autobiografische Erzählung „Rebellion und Wahn. Mein '68“ Roick als beste Darstellung dieser Zeit bezeichnete, sollte im Laufe des Abends seine eigene Sichtweise als unmittelbarer Zeitzeuge darlegen können. Und die hatte es in sich. Der Schriftsteller und Publizist war 1967/68 einer der Wortführer der 68er Bewegung und enger Weggefährte von Rudi Dutschke. So reflektiert und selbstkritisch wie kaum ein anderer seiner Generation sonst hat sich Peter Schneider mit seiner Rolle in den Studentenprotesten in späteren Jahren auseinandergesetzt. Seine Gesamtbewertung dieser Jahre fand auf dem Podium Zustimmung: „Die wichtigste Errungenschaft der 68er-Bewegung in Deutschland bleibt, dass sie massenhaft – und vielleicht für immer – mit der Kultur des Gehorsams gebrochen hat. Ihre größte Sünde war, dass ihre Anführer nach einem basisdemokratischen und freiheitlichen Aufbruch am Ende einer im Kern antidemokratischen Doktrin erlagen und vor den Verbrechen ihrer revolutionären Vorbilder die Augen schlossen. Man kann der Gesellschaft nur dazu gratulieren, dass wir nie eine reale Chance hatten, die Macht zu ergreifen.“

Auch die Frage, wie dieses Jahr der Revolte im anderen Teil Deutschlands – der damaligen DDR – erlebt und wahrgenommen wurde, sollte eine Rolle spielen. Bedeutete der rasch gewaltsam beendete „Prager Frühling“ im gleichen Jahr doch eine tiefgreifende Zäsur gerade für die dortige junge Generation. Als Jüngste in der Runde, die von Kai Kochmann anregend und kurzweilig moderiert wurde, bestätigte die FDP-Bundestagsabgeordnete und Juristin Linda Teuteberg diese ostdeutsche Sicht, auch wenn sie als Nachgeborene erst im geeinten Deutschland mit diesen Fragen in Berührung kam. Im weiteren Verlauf der Diskussion zeigte sich allerdings, wie fremd der sogenannte „Prager Frühling“ den Demonstrierenden im Westen am Ende geblieben war.

„Aufstand der Sinne“ und gescheiterte Ideologien

So entfaltete sich im Laufe der Diskussion ein immer wieder spannender Perspektivenwechsel. Zum einen Schneider, der lebhaft aus persönlichen Wahrnehmungen und Erinnerungen zu schöpfen wusste. Ihm gelang eine dichte Beschreibung der Zeit: Der Schah-Besuch in Berlin, Sit-ins, Go-ins, Love-ins, die Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam und gegen den Springer-Konzern, der Protest vor der Deutschen Oper bis hin zu strategischen Erwägungen des damaligen Polizeipräsidenten, der Einsatz von Wasserwerfern und schließlich der Schuss aus der Pistole des Kriminalobermeisters Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg tötete. Kurras wiederum wurde durch Aktenfunde erst Jahrzehnte später (2009) als Stasi-Agent enttarnt. 

Und dann der aufmerksame Soziologe Reinhard Mohr, im Jahr 1968 ein Kind von zwölf Jahren, für den Schneiders autobiografische Novelle „Lenz“ aus dem Jahr 1973  zu einem „Vademecum“ geworden sei und ihn selbst zu einem „Zeitbeobachter“ gemacht habe. Die politischen Ziele von Dutschke & Co fasste er wie folgt zusammen: „Kapitalismus weltweit abschaffen, Sozialismus einführen. Diese Ziele sind, Gott sei Dank, komplett gescheitert.“

Linda Teuteberg betonte bei aller Kritik an den ideologischen Übertreibungen und Verzerrungen in den damaligen Debatten, dass diese Bewegung eben auch eine Auseinandersetzung über Werte war bzw. eine solche dauerhaft in Gang gesetzt habe und dass es richtig gewesen sei, autoritäre Verhältnisse und Erziehungsmuster in Frage zu stellen. 

Peter Schneider pflichtete ihr bei, indem er sich an seine eigene Kindheit und Jugend als die Zeit schlimmster Repression erinnerte. Für ihn waren die 68er der Versuch, „ein völlig anderes Leben in die Welt zu setzen“. Mohr sprach diesbezüglich von einem „Aufstand der Sinne“. 

Und heute? Mut und Engagement sind gefragt!

Mit Blick auf das heutige politische Koordinatensystem und die gesellschaftlichen Debatten wurde festgestellt, dass im Unterschied zu den siebziger und achtziger Jahren hörbare Gesellschaftskritik  und Problembeschreibungen heute eher von rechts als von links kämen, wie rüde, „populistisch“ und teils abstoßend sie auch immer artikuliert würden. Die politische Kommunikation der Kanzlerin habe den Resonanzraum für Pegida, AfD & Co. erst geschaffen, so Reinhard Mohr. Es gehe auch nicht mehr zuerst um die Wahrnehmung und Lösung eines Problems. Auch die parlamentarische Auseinandersetzung fehle weitgehend. Regelbruch sei an der Tagesordnung. Man habe es heute mit einer Form der „rechten Rebellion“ zu tun.

Peter Schneider konstatierte eine verbreitete Feigheit in Deutschland. Man müsse aber, so nah wie nur irgend möglich an der Wahrheit bleiben, auch wenn man Gefahr laufe, in einen Shitstorm zu geraten: „Man muss die Probleme, die da sind, benennen und auf die Hörner nehmen und darf sie nicht der AfD überlassen.“ Er warnte zudem vor einer „rechtsmilitanten Gruppe, die von der RAF gelernt hat“ und mahnte: „Diese Geschichte wird auf der rechten Seite weitergehen.“

Linda Teuteberg machte am Beispiel ihrer Fraktion deutlich, wie wichtig es gerade in der Gegenwart sei, eine klare und unabhängige Position zu vertreten: „Es gibt sechs verschiedene Fraktionen. Diese Unterschiede muss man sichtbar werden lassen.“ Schwierigkeiten und Probleme müssten präzise benannt und Lösungswege aufgezeigt werden. Die AfD müsse man immer wieder auf dem politischen Feld stellen – auch im Plenum des Deutschen Bundestags. Und man müsse dort immer wieder deutlich machen: Demokratische Spielregeln gelten für alle.

Die folgende – ebenso lebhafte – Diskussion mit dem Publikum drehte sich u. a. um den Umgang der westdeutschen Linken mit den Ostdeutschen, um die Einflüsse der '68er auf die Ostpolitik bis hin zum Einfluss der Stasi auf die Bewegung, den Schneider als eher unbedeutend bewertete. Dass das Bild von der DDR bei der Linken vermutlich ein anderes geworden wäre, hätte man schon damals gewusst, dass Kurras für die Stasi arbeitete, davon zeigte sich Schneider allerdings überzeugt.

Einig war man sich über die Bedeutung von Mut und Zivilcourage – gerade heute – als entscheidende und unverzichtbare Elemente gelebter liberaler Demokratie. Identität und Aufklärung zusammenzubringen, im Sinne eines „aufgeklärten Patriotismus“, wie Thea Dorn es jüngst formuliert habe, dafür warb Kai Kochmann am Ende der Diskussionsrunde.

Worauf es in allen Zeiten immer wieder ankommen wird, hat Peter Schneider bereits vor Jahren kurz und prägnant auf den Punkt gebracht: 

„Meinen Kindern sage ich: Es ist nötig – und wird immer wieder nötig sein und Mut erfordern – gegen selbsternannte Herren der Welt und eine feige oder übergeschnappte Obrigkeit zu rebellieren. Aber noch mehr Mut gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu sagen: ‚Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden!‘ – wenn ebendies der Fall ist“.