Brexit
Nächste Ausfahrt: Drittstaat
Das Wort Brexit ist schon fast ein Synonym geworden. Während der letzten fast drei Jahre schien es für alles Mögliche zu stehen: für zähe und ergebnislose Verhandlungen; für die Verschwendung der kostbaren Arbeitszeit von Politikern, Beamten und Journalisten; für parlamentarisches Drama und politische Nabelschau; und für immer neue Verlängerungen mit ungewissem Ausgang. Doch heute wird das Wort wieder beschreiben, was es ursprünglich meinte: Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Union. Nach mehr als 47 Jahren endet heute um Mitternacht seine Mitgliedschaft in den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft.
Die letzten Hürden für den Brexit hatten Premierminister Boris Johnson und seine konservative Partei nach ihrem fulminanten Wahlsieg zügig beiseite geräumt. Mitte dieser Woche stimmte auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes für das Austrittsabkommen, welches London und Brüssel im vergangenen Herbst gemeinsam ausgehandelt hatten. Der Brexit-Beauftragte des Europäischen Parlaments, Guy Verhofstadt, unterstrich indes, dass das deutliche Abstimmungsergebnis der Europaabgeordneten kein Votum für den Brexit, sondern eines für einen geregelten Austritt im Sinne beider Seiten sei.
Auf beiden Seiten des Kanals gibt das symbolträchtige Austrittsdatum Anlass zu unterschiedlichen Feierlichkeiten. Ironischerweise werden Freitagnacht sowohl die Gebäude am Grand Place in Brüssel als auch die Fassaden am Parliament Square in London in den Farben des Union Jacks angestrahlt werden. Eine identische Lichtinstallation, mit der die Veranstalter in Brüssel und London jeweils gegensätzliche politische Botschaften senden wollen.
Zu den Mitveranstaltern in London zählen der Langzeit-Europaabgeordnete und EU-Gegner Nigel Farage und andere bekannte Brexit-Anhänger. Ihnen halten Kritiker aus beiden Lagern bereits vor, dass es nun nicht mehr gelte, den Brexit zu feiern, sondern die Gesellschaft nach Jahren der politischen Spaltung wieder zu vereinen. In Brüssel haben die Europaparlamentarier bereits eindrucksvoll Abschied von 73 britischen Kollegen genommen, die in Zukunft keinen Platz mehr in der europäischen Volksvertretung haben werden. Der liberale Guy Verhofstadt drückte im Namen der Mehrheit seiner Kollegen sein Bedauern aus: “Es ist kein Adieu, sondern ein Auf Wiedersehen“.
Es stellt sich die Frage, was sich außer symbolträchtigen Zeremonien und dem Ausscheiden des britischen Kontingents aus dem Europaparlament ab dem 1. Februar ändert. Die Antwort lautet: Fast nichts. Denn auf den Brexit folgt erst einmal eine Übergangsphase, während der das Vereinigte Königreich sich verpflichtet hat, alle Regeln und Standards der Europäischen Union weiter anzuwenden. Für Reisende, Unternehmen oder Bürger, die auf der jeweils anderen Seite des Ärmelkanals leben, ändert sich deshalb zunächst gar nichts.
Den Brexit-Moment heute Nacht kann man sich also wie die Verzögerungsspur einer Autobahnausfahrt vorstellen. Das Fahrzeug des Vereinigten Königreichs schert aus der Kolonne europäischer Fahrzeuge aus, fährt jedoch zunächst parallel weiter, getrennt vom restlichen europäischen Verkehr nur durch eine gestrichelte Linie. Entscheidend ist, was als nächstes passiert. Wird das Vereinigte Königreich weiter nebenherfahren, scharf abbiegen oder in einem Tunnel verschwinden? Genau das sind die drei möglichen Szenarien.
Im ersten Szenario erklärt sich London bereit, weiter europäische Regeln und Standards anzuwenden, um im Gegenzug Zugang zum Binnenmarkt der Europäischen Union erhalten zu können. Der französische Präsident Macron hat bereits darauf hingewiesen, dass es dabei nicht genügt, nur die bisherigen Standards weiter anzuwenden. Vielmehr müsse sich London auch zukünftige Regelungen der Europäischen Union zu eigen machen, um die Integrität des Binnenmarktes nicht zu verletzen. Dieses Szenario wäre das wirtschaftlich günstigste für beide Seiten, dürfte den Wunsch der britischen Regierung um Boris Johnson nach mehr Kontrolle und Souveränität aber kaum befriedigen.
Im zweiten Szenario biegt das Vereinigte Königreich scharf ab und schafft gesetzliche Regelungen, die deutlich von den europäischen abweichen, womöglich auch im Bestreben, Handelsverträge mit anderen Drittstaaten wie z.B. den USA abzuschließen. In diesem Szenario gäbe es zahlreiche Handelshemmnisse zwischen dem Vereinigten Königreich, die sich jedoch vertraglich regeln lassen könnten.
Das dritte Szenario, der Tunnel, ist aus der Vergangenheit bereits als no deal-oder crash-Brexit bekannt geworden. Gelingt es nicht, sich bis zum Ende der Übergangsphase auf ein Abkommen zu einigen, könnte das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 schlagartig auf den Status eines Drittstaates zurückfallen. Die Zusammenarbeit und der Handel zwischen beiden Seiten könnte dann vorübergehend schwerwiegend beeinträchtigt werden. Der EU-Chefverhandler Michel Barnier hat vor diesem Szenario bereits eindrücklich gewarnt: „Es läuft eine neue Uhr“.
Fest steht, dass der Verzögerungsstreifen ein kurzer ist. Denn während das Austrittsdatum immer weiter verschoben wurde, blieb die Frist für das Ende der Übergangsphase unverändert: der 31. Dezember 2020. Premierminister Boris Johnson hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass er eine Verlängerung dieser Frist strikt ablehnt. Brüssel und London haben daher nur 11 Monate Zeit, um ihre zukünftigen Beziehungen auszuhandeln. Dabei geht es vor allem um die zahlreichen Felder der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen und die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik. EU-Handelskommissar Phil Hogan hat die erfolgreiche Einigung auf ein neues Abkommen innerhalb dieses Zeitraumes bereits für unmöglich erklärt. Auch Beobachter in Brüssel halten eine erste Krise in den Verhandlungen im Sommer für wahrscheinlich.
London schlägt deshalb vor, kleine Abkommen in einzelnen, wichtigen Bereichen abzuschließen. Brüssel lehnt eine solche „Salami-Taktik“ jedoch ab, und möchte lieber eine „Ravioli“ formen, also ein Verhandlungspaket, welches alle wichtigen Bereiche umfasst. Dabei geht es den Verhandlungsführern der EU vor allem darum, sicherzustellen, dass das Vereinigte Königreich seine Verpflichtungen auch wirklich einhält.
Werden Güter, die zwischen Nordirland und Großbritannien gehandelt werden, wirklich kontrolliert? Nur dann kann die Grenze auf der irischen Insel offen und die Bestimmungen des Karfreitagsabkommens gewahrt bleiben. Werden die Aufenthaltsrechte europäischer Bürger in UK wirklich garantiert? Und wird London seine finanziellen Verpflichtungen im Rahmen des laufenden EU-Budgets wirklich erfüllen? Nur dann kann auch über einen britischen Zugang zum Binnenmarkt gesprochen werden.
Die Verhandlungen zwischen London und Brüssel werden ab Februar intensiv geführt werden. Die britischen Liberaldemokraten werden darauf wenig Einfluss nehmen können. Sie müssen sich derzeit neu gruppieren und erfinden. Beim Parteitag in York im März gilt es, den Parteivorsitz neu zu besetzen. Außerdem wird die Partei entscheiden müssen, ob sie sich zukünftig für einen Wiedereintritt in die Europäische Union („Rejoin“) einsetzen oder das Beste aus dem Brexit machen wollen.
Sebastian Vagt ist European Affairs Manager im Europäischen Dialog der Stiftung mit Sitz in Brüssel.