Politisiertes Unterhaltungsprogramm
Fernsehserien nehmen einen wichtigen Platz im Leben der Türken ein. Während sie für Mehmet Normalverbraucher eine günstige Unterhaltung darstellen, sieht die AKP-Regierung Erdoğans diese als ein Instrument der Politik, das die Bevölkerung auf seine nationalistisch-konservative Agenda einstimmen soll.
„Der Sultan blickt ihr kurz in die Augen. Und Hürrem, die in der europäischen Literatur eher unter ihrem ukrainischen Namen Roxelane bekannte Haremsdame, wird ohnmächtig vor Schreck. Vielleicht tut sie auch nur so. Denn jetzt findet Sultan Süleyman I –besser bekannt als „der Prächtige“ – sie natürlich erst recht süß und wird sie wahrscheinlich zu dem machen, was jede Haremsdame sich wünscht: Süleymans Lieblingsfrau.“ Dies ist eine bewegende Szene aus der türkischen Fernsehserie Muhteşem Yüzyıl – Wunderbares Jahrhundert. Die Serie, die in den vergangenen Jahren die Intrigen und Liebschaften am osmanischen Sultanspalast in die Wohnzimmer trug, brach mit 139 Folgen alle Quotenrekorde und wurde weltweit zu einem Renner.
In der Türkei sind die Menschen verrückt nach Serien. Laut einer Untersuchung der türkischen Statistikbehörde TÜIK aus dem Jahre 2015 war Fernsehen mit 94,6% die beliebteste Freizeitaktivität der Türken. Jeden Abend zur besten Sendezeit wird von Ankara bis Ardahan und von Istanbul bis Iskenderun nahezu auf allen Mattscheiben der Republik geknutscht, gehasst, gemordet, geliebt, geweint und gemobbt.
Türkei hinter den USA zweitwichtigste Exportnation von Fernsehserien
Doch türkische Fernsehserien sind mittlerweile über die Landesgrenzen bekannt und haben sich zu einem wahren Exportschlager entwickelt. Während das Einkommen aus den Serien 2004 noch 10.000 US-Dollar betrug, erreichte dieser Wert zehn Jahre später sagenhafte 300.000 Mio. USD – Tendenz steigend. Zielvorgabe für 2023 ist die 1-Milliarde-Marke. Anfangs wurden die Produktionen noch in den Nahen Osten exportiert, mittlerweile kann man den fiktiven Süleyman und seine Hürrem von Belgrad bis Bogotá und von Skopje bis Singapur bewundern. Laut einem Bericht der Oxford Business Group laufen in 85 Ländern der Welt türkische Serien. Bislang wurden etwa 150 Serien ins Ausland verkauft, die von mindestens 500 Mio. Zuschauern verfolgt wurden. Und auf der Mipcom, der weltgrößten Fernsehmesse in Cannes, wo früher einst lateinamerikanische Telenovelas das Sagen hatten, schlagen türkische Produzenten mittlerweile die größten Zelte auf. Nicht nur Produzenten profitieren von dem Boom, auch der türkische Tourismus. Die Besucher – vor allem die arabischen – wollen die Originaldrehorte ihrer Stars sehen.
Bei derart hohen Zuschauerzahlen im In- und Ausland ist die Serienlandschaft für die türkische Regierung enorm wichtig. Und so überrascht es nicht, dass – neben Liebes- und Schnulzenserien - zahlreiche Produktionen seit einigen Jahren Aspekte der Regierungsagenda vermitteln – und die Bevölkerung somit auf Umbrüche und Krisenzeiten vorbereiten. Auffällig dabei ist, dass in den letzten Jahren vermehrt Serien ausgestrahlt werden, die die „stolze“ osmanische Vergangenheit oder den „heldenhaften“ Kampf türkischer Soldaten gegen innere und äußere Feinde thematisieren und somit eine Art nationalen Rauschzustand schaffen.
Osmanen-Serien: Populärkultur oder Produkt der neo-osmanischen Politik Erdoğans?
Zunächst die Osmanen-Serien: Diriliş Ertuğrul – Auferstehung Ertuğrul ist zweifelsohne die bekannteste unter den sogenannten Osmanen-Serien und ist Teil eines regelrechten Hypes um Serien, die diese Ära behandeln. Andere Titel dieser Kategorie sind Fatih der Eroberer, Die osmanische Ohrfeige, Es waren einmal die Osmanen oder Das längste Jahrhundert. Diese Produktionen bieten überwiegend leichte Unterhaltung, glorifizieren die Sultane sowie Schlacht- und Märtyrertode und flechten dabei jede Menge Verschwörungstheorien. Vor dem Hintergrund des Geschichtsbooms im Fernsehen stellt sich die Frage, ob wir es hier mit einer ideologischen Funktionalisierung der osmanischen Vergangenheit zu tun haben? Oder handelt es sich in erster Linie um einen „unpolitischen“ Vorgang populärkultureller Aneignung der Vergangenheit durch die Unterhaltungskultur?
Um diese Frage beantworten zu können, muss vor Augen geführt werden, dass die türkische Medienlandschaft durch eine sehr starke Verknüpfung von politischer und wirtschaftlicher Macht sowie die Monopolisierung der Medienkonzerne gekennzeichnet ist. Diese sind zumeist Mischkonzerne, die ihre Haupterträge in anderen Sektoren (Bau, Energie, Tourismus, etc.) erzielen und deshalb ein starkes Interesse an öffentlichen Aufträgen und Krediten haben. Das führt zu einem Anpassungsdruck an die „Signale“ der Regierung, bis hin zu regierungskonformer Darstellung öffentlicher Ereignisse. Viele Medien in der Türkei haben sich in den letzten Jahren zu einem willfährigen Instrument der Regierung gewandelt. Kritiker sind aus diesem Grund der Meinung, die mediale Ausprägung des Neo-Osmanismus sei ein staatlich induzierter Vorgang.
Von den Seldschuken über die Osmanen bis heute: Narrativ von den Türken als eine „heldenhafte Nation“
Diriliş Ertuğrul behandelt die Zeit unmittelbar vor dem Osmanischen Reich und erzählt die Geschichte des Protagonisten Ertuğrul, der der Vater des ersten Osman Gazi ist, des Begründers des Reichs. Ertuğrul kämpft in der Serie gegen die Kreuzritter, die ungläubigen Mongolen und gegen Kollaborateure aus den eigenen Reihen. Das Ziel der Feinde ist, die Türken zu spalten und über sie zu herrschen. Doch durch die Eigeninitiative des charismatischen Ertuğrul, dessen Entscheidungen stets auf göttlichen Fügungen basieren, können alle „Türkenfeinde“ besiegt werden. Symbolisch ist, dass die Feinde im Innern als Unterwanderer des Staates agieren. Sie werden über mehrere Folgen hinweg ausfindig gemacht und dann durch das Schwert des gerechten Ertuğrul enthauptet. Analysiert man nun die Feindbilder der AKP-Regierung, ist unschwer zu erkennen, dass sich hier die vermittelten Inhalte decken: die gülenistischen Putschisten kooperieren mit dem feindlichen Westen, den Vertretern „des Kreuzes“, und unterwandern den Staat, um Erdoğan zu stürzen und die Türkei zu spalten. Nicht umsonst bezeichnete Erdoğan das Verfassungsreferendum im April 2017 als den Kampf der Nation gegen die Feinde im Ausland und deren Handlanger im Innern. Je populärer die Serie wurde, desto öfter wurden auch politische Botschaften der AKP vermittelt. Das Drehbuch passte sich immer mehr der Ideologie der Regierung an. Den am 22. Februar 2015 durchgeführten Eingriff des türkischen Militärs in Syrien, um das historische Grabmal eines wichtigen türkischen Stammesführers vor der Terrormiliz des „Islamischen Staats“ zu evakuieren und auf türkischen Boden zu holen, thematisierte die Serie sogar schon vorab. An einer Stelle sagt Sulaiman Schah: „Eines Tages eilt sicher jemand von unserem Stamm und holt uns in das eigene Land zurück.“ Zufall oder nicht? Wir wissen es nicht.
In Serien wie Diriliş Ertuğrul wird stets das Helden-Narrativ von den Türken als einer Nation mit einer historischen Mission aufrechterhalten. Türkische Staaten – von den Seldschuken über die Osmanen bis zur heutigen Republik – sind dazu verdammt, stark, mutig und weise zu sein. Solche Themen sind auch die Ecksteine der populistischen Politik Erdoğans. Die Osmanen-Serien sollen für ein Kontinuum sorgen, beginnend im Reich der Seldschuken bis in die Gegenwart. Auch wenn der Gegner heute anders aussieht und anders agiert, so die Lesart, sind dessen Ziele dieselben wie damals, nämlich die Teilung der Türkei. Implizit wird die nationalistisch-konservativ-autoritäre Regierungspolitik unter Erdoğan als ein erfolgreiches Rezept gegen diese Feinde angeboten.
Payitaht Abdülhamid – Hauptstadt Abdülhamid ist eine andere Serie, die das Bild der „von Feinden umgebenen Türkei“ gut wiedergibt. Diese Produktion behandelt die letzten Jahre des 34. osmanischen Sultans Abdülhamid II. Darin wird der Staat als etwas Heiliges dargestellt, den es um jeden Preis zu verteidigen gilt. Der Plot teilt die Welt des Abdülhamid in Gut und Böse auf. Gut, das sind er und sein Reich. Böse sind der christliche Westen und die nicht-muslimischen Minderheiten seines Landes. Den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennt die Serie anhand der Loyalität zum Staat. Osmanische Minderheiten, so zum Beispiel die Armenier, denen vorgeworfen wird, mit dem Ausland zu kollaborieren, sind dieser Logik zufolge konsequenterweise böse. Solche Gedankenlinien bieten Erdoğan historische Legitimation für sein Handeln, der nicht zuletzt während des Gezi-Aufstands urbane, gut ausgebildete und säkulare Menschen der Mittel- und Oberschicht als Handlanger des Auslands verurteilte. Da Abdülhamid stets die Befürchtung hat, von seinen engsten Vertrauten verraten zu werden, werden seine Paranoia und seine absolute Kontrollphobie als legitimiert dargestellt. In den ersten Folgen ist der Sultan auf der Suche nach einem Verräter in seinen eigenen Reihen, selbst Kriegshelden werden auf Schritt und Tritt beobachtet. In der Post-Putsch Türkei von 2017 ist die Paranoia von Erdoğan, der von seinen engsten Verbündeten, den Gülenisten, verraten wurde, vergleichbar mit jener Abdülhamids. Unnachgiebigkeit gegenüber der Opposition, so das Credo, gehört zur Jobbeschreibung des politischen Führers.
Der „ewige Feind“: Damals die Kreuzritter, heute der Westen
Durch Serien wie Diriliş Ertuğrul oder Payitaht Abdülhamid soll der Zuschauer den Eindruck bekommen, dass der Westen, damals wie heute, mit seinen dunklen Machenschaften und seinen Handlangern im Innern versucht, das Land und die Gesellschaft zu teilen. Die autoritäre Politik des - fiktiven oder realen – Führers wird angesichts der Gefahren legitimiert. Außerdem wird das unbedingte Gehorchen auf den Führer indoktriniert, dessen Autorität trotz lang anhaltender Kriege und wirtschaftlicher Nöte nicht angezweifelt werden darf. In einer Phase der multiplen innen- und außenpolitischen Krisen, der stagnierenden Wirtschaft und der rasant ansteigenden Inflation und Arbeitslosigkeit, sollen solche Serien die eigenen Reihen schließen und Vertrauen zwischen dem Oberhaupt und dem Volk schaffen. So kann zusammenfassend festgehalten werden, dass Osmanen-Serien als eine Art Instrument der Politik fungieren: historische Geschehnisse werden für die Gegenwart konzipiert und sollen für die autoritäre, nationalistische und konservative Regierungspolitik den notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt sorgen.
Auch außenpolitisch sorgen die Osmanen-Serien für einen populären Rückhalt für die Neuausrichtung der AKP-Außenpolitik, die sich in den letzten Jahren von Westen immer mehr entfernte und den Staaten in den ehemaligen Grenzen des Osmanischen Reichs näherte. „Wir müssen überall dort hingehen, wo unsere Vorfahren gewesen sind“, so Erdoğan. Das Reich der Osmanen, so scheint es, soll der Türkei der Maßstab sein, um sich in der Welt der Gegenwart zurechtzufinden. „Die AKP ist fest verwurzelt in einer historischen Staatstradition und schreitet von dort in die Zukunft. Ein Land, das bis vor zwölf Jahren als kranker Mann angesehen wurde, steht wieder auf seinen Füßen. Eine Nation hat sich ihrer historischen Aufgabe erinnert und ist zu einem gesegneten Marsch aufgebrochen“, so der ehemalige Ministerpräsident und Chefideologe Davutoğlu. Als „neo-osmanisch“ wird die Außenpolitik der AKP wegen genau solcher Reden gern bezeichnet.
Kriegsserien: „Türkei umgeben von Feinden“
Neben den Osmanen-Serien tauchen einiger Zeit – spätestens seit dem Scheitern des Friedensprozesses mit der kurdischen PKK – Kriegsserien auf, die, so scheint es, mit patriotischen Themen die Bevölkerung auf nationalistische Linie bringen sollen. Auffällig ist, dass gleich drei Serien dieser Genre - Isimsizler – ohne Namen; Söz-das Versprechen; Savaşçı-der Kämpfer – wie von einer übergeordneten Stelle befohlen, am selben Tag ihre Pilotfolge hatten. Thematisiert werden aktuelle, sicherheitspolitische Themen, in die das Land verstrickt ist, wie z.B. der Kampf gegen die Separatisten der PKK oder der Einsatz der türkischen Streitkräfte im Norden Syriens oder des Irak. In einer durch und durch militarisierten Gesellschaft („Jeder Türke wird als Soldat geboren“) wie die der Türkei gab es auch schon in der Vergangenheit Produktionen, die das „Heldentum“ der Türken behandelten. Anders zur Situation heute waren sie aber Projekte mit geringem Budget, die auf Splitterkanälen mit wenig Zuschauerpotential ausgestrahlt wurden. In der Türkei von 2017 werden diese Serien zur besten Sendezeit auf Mainstream-Kanälen gezeigt und erreichen so Millionen Zuschauer. Während also in den Flimmerkästen fiktive türkische Soldaten ihr Leben für das Vaterland riskieren, kämpfen reale Soldaten im Südosten des Landes gegen kurdische Terroristen und islamistische Milizen. Seit dem Ende des Friedensprozesses fallen immer mehr türkische Soldaten und für den türkischen Fernsehzuschauer verschwimmt die Grenze zwischen der Fiktion und der Realität. So soll die Bevölkerung letztlich auf einen langen Kampf gegen „Feinde“ eingeschworen werden.
Aret Demirci ist Projektkoordinator im Stiftungsbüro in Istanbul.