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Türkei
Türkei: Ist ein Wechsel möglich?

Die Türkei vor Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
In knapp drei Wochen entscheiden die Türkei nicht nur über die Zukunft ihres Landes, sondern auch über die Zukunft Erdogans.

In knapp drei Wochen entscheiden die Türkei nicht nur über die Zukunft ihres Landes, sondern auch über die Zukunft Erdogans.

© damircudic / E+ / Getty Images

In zwei Wochen wird in der Türkei gewählt. Die Wahlen sind von außerordentlicher Bedeutung. Mit ihnen soll die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan betriebene Einführung des Präsidialsystems abgeschlossen werden, das den Staatspräsidenten mit deutlich mehr Macht ausstattet. Hans-Georg Fleck, Büroleiter der Stiftung in Istanbul, über die heiße Phase des Wahlkampfes. 

Für viele überraschend ist die Opposition in den letzten Wochen noch einmal besonders erstarkt und Erdoğan scheint sich tatsächlich Sorgen um seinen Machterhalt machen zu müssen. Besteht eine realistische Möglichkeit, dass Erdoğan doch nicht wieder gewählt wird? Können Sie einen Stimmungswechsel vor Ort beobachten?

Es ist in der Tat überraschend, welch erfolgreichen Weg die Opposition, auf deren Wahlchancen sicher die allermeisten Beobachter bis kurz vor Anberaumung der ja nun für den 24. Juni vorgezogenen Neuwahlen keinen Pfifferling gegeben hätten, in den letzten zwei Monaten zurückgelegt hat. Es ist der Opposition nicht nur gelungen, eine chancenreiche Wahlallianz („Nationale Allianz“) gegen die AKP und ihre Bundesgenossen zu formieren. Sie hat auch – mit dem CHP-Politiker Muharrem Ince und der ebenfalls erfahrenen Politikerin Meral Akşener (von der sogenannten „Guten Partei“) – zwei Kandidaten nominiert, die Chancen haben, den noch kürzlich als unbesiegbar geltenden Amtsinhaber Erdoğan zumindest in eine Stichwahl um das Präsidentenamt zu zwingen. Alleine schon diese, heute durchaus realistisch zu nennende Perspektive kommt einer Überraschung, wenn nicht gar einer Sensation gleich! Und diese Perspektive trägt einen Stimmungswandel, der den von vielen kaum mehr erhofften Wechsel möglich erscheinen lässt.

Auch wenn die AKP in den servilen Systemmedien und durch befreundete Meinungsforschungsinstitute den Eindruck zu vermitteln sucht, als sei die Wiederwahl Erdoğans nur eine Formsache, so spürt jeder – auch der besagte Amtsinhaber selber –, dass eine Wechselstimmung Platz gegriffen hat. Manche sprechen von Erdoğan als dem „müden, alten Mann“, der deutliche Spuren der extremen körperlichen und geistigen Beanspruchung der zurückliegenden Jahre zeige. Doch man sollte Erdoğan keinesfalls zu früh abschreiben. Ihn in eine Stichwahl zwingen, bedeutet nicht automatisch, in der Stichwahl zu obsiegen. Die AKP sitzt seit fast 16 Jahren an den Hebeln der Macht – und sie hat sich da gekonnt und wohlig eingerichtet! Jedermann weiß – und niemand besser als Erdoğan persönlich –, dass es bei dieser Wahl um sehr viel, um die Zukunft der Türkei und vor allem um die Zukunft des Herrschaftssystems Erdoğan geht. Das bedeutet: Man wird alles, aber auch buchstäblich alles daran setzen, um die Wiederwahl des Präsidenten und die Wiedergewinnung der parlamentarischen Mehrheit für seine AKP zu gewährleisten. Leider gestatten es die von der gegenwärtigen AKP-MHP-Mehrheit beschlossenen Wahlrechtsänderungen hier nicht, manipulative Eingriffe auszuschließen.

Vor allem die Erringung der Parlamentsmehrheit für die AKP-Koalition („Volksallianz“) erscheint alles andere als sicher. Ob sie das vermag, hängt in erster Linie vom Abschneiden der prokurdischen HDP ab. Sollte es gelingen, die HDP, die in den letzten zwei Jahren im Visier der türkischen Justiz stand (ihr Präsidentschaftskandidat Demirtaş agiert tatsächlich aus der U-Haft-Zelle!!), unter die 10%-Sperrhürde zu drücken, könnte der AKP-Machterhalt gesichert sein. Ansonsten droht der Türkei eventuell ein machtpolitisches Patt – zwischen einem AKP-Präsidenten und einer „andersgestrickten“ Parlamentsmehrheit. Dieses „französische“ Modell der „cohabitation“ hatte den Initiatoren des Verfassungswechsels natürlich ganz und gar nicht vorgeschwebt – die Hybris der Herrschenden hatte keinerlei Vorkehrungen für einen derartigen „Unfall“ zugelassen. Genau dieser „Unfall“ erscheint aber heute wahrscheinlicher als z. B. eine Abwahl des Präsidenten. Wenn das Wort vom „Kampf bis zur letzten Minute“ je Gültigkeit gehabt haben sollte, dann trifft es in der Türkei Anno 2018 zu: Die Entscheidung in den Parlaments- und den Präsidentschaftswahlen wird auf der Ziellinie fallen.

Welche Themen werden Ihrer Meinung nach im finalen Wahlkampf in den nächsten Tagen entscheidend sein?  

Den türkischen Wahlkampf kann man nur sehr bedingt themenzentriert nennen. Es geht – so wie meist – „um alles“. Der von Erdoğan zum „Lieblingskontrahenten“ erkorene (männliche!) CHP-Kandidat Ince hat in den letzten Wochen vor allem die geradezu abgründig zu nennende Liebe des Amtsinhabers zu prestigeträchtigen, teuren, ja „historischen“ Großbauprojekten angesprochen. Da geht es u.a. um den Bau des Parallelkanals zum Bosporus oder aber die Begeisterung des Präsidenten für staatliche Repräsentationsbauten, wie den Präsidentenpalast in Ankara oder die Sommerresidenz in der Marmaris-Region – ein weiteres „Sonnenkönig“-Projekt. Erdoğan kontert die Kritik mit dem Pauschalvorwurf, Ince wolle „alles zerstören“, was er, der Präsident, und seine Partei in den  letzten Jahren „für das Volk“ erreicht habe.

Im türkischen Wahlkampf geht es "um alles".

Istanbul, Anschläge, Terror, Türkei, Hans-Georg Fleck
Hans-Georg Fleck

Aber es gibt auch Sachthemen, wenngleich sie weniger schlagzeilenträchtig sind. Die Opposition hat keinerlei Zweifel daran gelassen, dass sie zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren will. Genauso entschieden fordert sie, endlich den seit fast zwei Jahren bestehenden Ausnahmezustand aufzuheben, den der Präsident und seine Partei rücksichtslos ausgenutzt haben, um die eigene Macht zu zementieren und gegen Gegner jeglicher Couleur vorzugehen. Erdoğan präsentiert sich wie gewohnt: als der (!) Garant für den unaufhaltsamen, von den überalterten und degenerierten „Kreuzfahrernationen“ des Westens angeblich eifersüchtig beäugten Aufstieg der Türkei zu neu-alter osmanischer Macht und Pracht, als der (!) Garant für die Wiedererringung des (angestammten) Platzes unter den Weltmächten und als Führungsmacht des Weltislam. Der Präsident setzt hier auf seinen „Kompetenzvorsprung“, der sich noch immer bei seinen Wählern der Unterschicht, aber auch bei vielen im Ausland lebenden Türken als besonders wirkungsvoll erwiesen hat. Im Übrigen folgt Erdoğan – auch hier! – dem Vorbild Wladimir Putins: Er „fordert“ in seinem Wahlmanifest weitgehende „Reformen“ – zu deren Realisierung er eigentlich seit Jahr und Tag über die erforderlichen politischen Mehrheiten verfügt – aber offenkundig weder über den notwendigen Willen noch die Einsicht.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Wahlkampf – wenn er denn in die Ziellinie einbiegt – auch noch andere, bislang kaum diskutierte Themen in den Vordergrund rückt. Wir wissen z. B., dass zunehmend mehr Türken besorgt sind über die Auswirkungen des syrischen Bürgerkrieges bzw. der dortigen Stellvertreter-Kriege auf ihr Heimatland. Die zunehmend komplizierte, ja besorgniserregende Wirtschaftslage, die der Wahlbürger der Türkei über Inflation und Wertverlust seiner Landeswährung zunehmend in der Brieftasche spürt (und vor allem: spüren wird!) hingegen, nimmt keinesfalls den erstrangigen Platz ein, den man eigentlich – folgt man dem berühmten Clinton-Topos – erwarten sollte.

Seit einigen Tagen dürfen auch die 1,1 Millionen Türken in Deutschland ihre Stimme abgeben. Welche Rolle spielen die im Ausland lebenden Türken bei der Wahl? 

Die „Auslandstürken“ sind eigentlich eine politisch, ethnisch und religiös eher heterogene Gruppe. Da gibt es z. B. viele Kurden, da gibt es viele Angehörige der religiösen Minderheit der Aleviten. Das ist im „bunten“ Wahlverhalten türkischer Bürger im Ausland, seit sie das Recht erhalten haben, auch dort von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen (ohne in die Türkei zurückreisen zu müssen!), vielerorts durchaus zum Ausdruck gekommen – oft eben auch zum Nachteil der sieggewohnten AKP.

Anders war es in einzelnen Staaten Zentraleuropas – und dies hat Schlagzeilen gemacht! Dort war es der AKP gelungen, unter den an der Wahlteilnahme interessierten Auslandstürken (zumeist kaum die Hälfte der Wahlberechtigten!) eine Mehrheit für sich zu gewinnen, die deutlich über ihrer Zustimmungsrate in der Türkei selber lag.

Hier ist nicht der Ort, die gerade für Deutschland und seine Integrationspolitik interessante Frage zu erörtern, wie es zu diesem Wahlverhalten gekommen ist. Die Zahlen sprechen für sich. Und in Anbetracht der Tatsache, dass der Wahlausgang für Parlament wie Präsidentschaft auf Messers Schneide steht, kommt dem Wahlverhalten der Auslandstürken insgesamt natürlich auch diesmal große Bedeutung zu, auch wenn sie zahlenmäßig deutlich unter 10% der Wahlberechtigten rangieren. Weit größere Bedeutung als das Votum der Auslandstürken dürfte aber 2018 (erneut!) das Votum der Wähler in den kurdisch dominierten Regionen der Türkei haben. Wer im türkischen Südosten und Osten obsiegt, wird den Wahlausgang für sich (oder seine potentiellen Kooperationspartner) entscheiden. Auch hier gilt also das neudeutsch beliebte „Spannung pur“!

Dr. Hans-Georg Fleck ist Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.