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Argentinien
Turbulenzen in Argentinien

Jörg Dehnert im Interview über die Proteste gegen Macris Wirtschaftspolitik

Der 25. September wird sicherlich als ein turbulenter Tag in die Jahreschronik Argentiniens eingehen, ein Tag, an dem sich die Ereignisse überschlugen. Zunächst begann am 24. September 12.00 Uhr ein 36-stündiger Generalstreik, zu dem die Gewerkschaft CGT aufgerufen hatte, während Präsident Macri sich auf dem Weg nach New York befand, um mit dem IWF über weitere Milliardenhilfe zu verhandeln und vor der UN zu sprechen, als inmitten dieser Entwicklungen kurz vor der Rede Macris die Nachricht vom Rücktritt des Chefs der argentinischen Zentralbank, Luis Caputo, der erst drei Monate vorher sein Amt angetreten hatte, die Nachrichtenkanäle dominerte.
Welches sind die Gründe für diese Entwicklungen, welches die Dimensionen? 

Der 36-stündige Generalstreik ist der vierte seiner Art seit dem Amtsantritt Mauricio Macris. Was treibt die Menschen so massenhaft auf die Straßen?

Ich weiß nicht, ob der Begriff oder die Einstufung „Generalstreik“ so richtig ist. Was passiert ist: die Arbeitergewerkschaft CGT hat zum wiederholten Mal zu einem „Generalstreik“ aufgerufen. Dem haben sich andere Gewerkschaften angeschlossen, so lag der ÖPNV still, beide Flughäfen sowie die meisten, aber nicht alle Banken waren geschlossen, in den Krankenhäusern fand nur eine Notversorgung statt. Darüber hinaus wurden die zentralen Zufahrtswege der Autobahnen nach Buenos Aires blockiert.

Aber es gab auch Gewerkschaften, die sich diesem Streik bewusst nicht angeschlossen haben, einige Taxiunternehmen fuhren weiterhin, in der Hauptstadt waren viele Restaurants wie auch einige Geschäfte in der Haupteinkaufstrasse geöffnet. In anderen Provinzen traf dies laut Medienberichten auf 70% der Geschäfte zu.

Einige unabhängige TV-Sender veröffentlichten gestern Abend in ihren Berichterstattungen Umfragen, aus denen hervorgeht, dass über 53% der Bevölkerung diese Streiks ablehnen. Dies wurde auch durch die Realität belegt, es gab keinen massenhaften Ausstand oder Demonstrationen. Trotz fehlendem ÖPNV gingen zahlreiche Menschen zur Arbeit, nur einige Zehntausende demonstrierten.

Daher ist es meiner Meinung nach sehr einseitig, hier von einem Generalstreik zu sprechen. Hinzu kommt, dass die Gewerkschaften  - obwohl alle tariflich Beschäftigten zwangsweise Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft sind -  wie man sehen kann, ein großes Mobilisierungsproblem haben. In den zahlreichen kleineren Demonstrationen, von denen hauptsächlich Buenos Aires betroffen ist, werden die Teilnehmer meist von den Gewerkschaften bezahlt, in Bussen abgeholt und auch verpflegt, wissen aber auf Nachfragen manchmal gar nicht wofür sie streiken; „Ich weiß nicht wofür, aber sie bezahlen mich gut!“

Das war eine Beschreibung der Dimension des Streikes, bleibt nach die Frage nach den Zielen und den Motiven.

Dieser Streik wie auch die beiden vorherigen richteten sich gegen die Abwertung  der argentinischen Währung, das Abkommen mit dem IWF und den daraus resultierendem Sparprogrammen der Regierung. In der Tat haben die Gewerkschaften mit der Abwertung und Inflation einen wichtigen Punkt. Der Peso ist von Januar bis September von 21 auf 43 Peso gegenüber dem Euro abgewertet worden also mehr als 100%, in den letzten sechs Wochen allein um mehr als 32%, und die Inflation wird sich nach jüngsten Berechnungen in diesem Jahr um die 40% bewegen. Der Hauptgrund für beide Phänomene sind die hohen Staatsausgaben, die auf einer großen Zahl von Beschäftigten im Öffentlichen Dienst und den hohen Staatssubventionen basieren.

Zum besseren Verständnis: Beim Amtsantritt Nestor Kirchners arbeiteten 2 Mio. Argentinier im Staatsdienst. Nach 12 Jahren Kirchner Administration waren es 4. Mio, bei 40. Mio Einwohnern insgesamt. In einigen Provinzen, z.B. Jujuy, arbeiten derzeit 80% der Beschäftigten im Staatsdienst. Ein weiterer Kostenfaktor der öffentlichen Ausgaben sind die horrenden Subventionen, die besonders im Transport und Energiesektor existieren. Nur zwei Beispiele: ein Ticket im ÖPNV kostete Anfang des Jahres 7,5 AR$ (0,30 € zu diesem Zeitpunkt). Die Stromkosten für eine 200qm Wohnung beliefen sich auf weniger als 1.000 ARS (50 €) pro Monat in einigen Stadtvierteln. Zum Vergleich, ein Pförtner verdiente zu diesem Zeitpunkt ca 16.000 ARS netto, was ihm erlaubte, fast 2000 mal monatlich den ÖPNV zu benutzen. Zwar hat die Regierung diese Preise angepasst, aber sie sind immer noch sehr niedrig im Vergleich zu deutschen Verhältnissen. 

Um die Abwertung und Inflation zu stoppen, so wie es nicht nur die Gewerkschaften fordern, bedarf es deshalb einer drastischen Reduzierung der Staatsausgaben. Dies ist aber ohne einen erheblichen Personalabbau und Abbau bzw. Aufhebung der erwähnten Subventionen aber nicht möglich. Dagegen sperren sich die Gewerkschaften vehement, sie fordern sogar im Gegenzug Lohnerhöhungen von bis zu 30%. Also die Quadratur des Kreises.

Die Regierung hat zur Stabilisierung der Wirtschaft und Währung den IWF angerufen und um Unterstützung bis zu 50 Mrd. US$ gebeten. Im Gegenzug muss sich die Regierung auf ein Sparprogramm und notwendige Wirtschaftsreformen verpflichten. Dies ist weiterer Streitpunkt für die linksorientierten Gewerkschaften, die aus den Erfahrungen von 2001 eine Einbeziehung des IWF ablehnen.

Soweit zu den Motiven. Hinsichtlich der Ziele kann man klar feststellen, dass wie auch in den bisherigen „Generalstreiks“ keine der Forderungen der Gewerkschaften realisiert werden konnte. Heute, also einen Tag nach dem Streik, wird ein neues Abkommen mit dem IWF verabschiedet werden und die Regierung wird auch ihren Sparkurs weiterfahren. Meiner Meinung nach dienen diese Streiks eher zu einer innergewerkschaftlichen Machtdemonstration im Sinne, „es gibt uns noch“ und wir sind ein ernstzunehmender Akteur. Die Gewerkschaften sehen sich nämlich zunehmend der Konkurrenz linksorientierter, sozialistischer Parteien ausgesetzt.

Aber es gibt auch einen kleinen Teil anderer Gewerkschaften, die sich nicht am Streik beteiligt haben, die wissen, dass es weitreichender Reformen bedarf und deshalb mit der Regierung verhandeln wollen.

Welche Position hat die Regierung bei diesen Problemen? Welche Verantwortung trägt sie an der Entwicklung?

Zunächst einmal hat die Regierung Macri die Folgen von mindestens 12 Jahren Misswirtschaft unter den Kirchner-Regierungen zu tragen. Wie schon erwähnt, wurden die Staatsausgaben in unverantwortlicher Weise aufgebläht. Wir sollten auch nicht vergessen, dass Argentinien von den internationalen Finanzmärkten ausgeschlossen und quasi zahlungsunfähig war. Dies hat die Macri-Regierung innerhalb weniger Monate korrigieren können, unter anderem durch die Vereinbarungen mit den Hedgefonds. Auch politisch war Argentinien isoliert, die besten „Freunde“ und Partner Christina Kirchners waren Russland, China, Iran, Cuba, Venezuela und Bolivien. Fehlt nur noch Nordkorea und dann haben sie fast alle „lupenreinen“, hochentwickelten Demokratien der Welt zusammen. Auch dies hat Präsident Macri sehr schnell geändert und Argentinien wieder in die Familie der westlichen Demokratien zurückgeführt. Das Image Argentiniens auf der internationalen Bühne hat sich sehr positiv entwickelt.

Schwieriger ist es mit der wirtschaftlichen Situation. Man kann ein solches „Erbe“, das die Kirchners nach 12 Jahren hinterlassen haben, nicht in zwei oder Jahren völlig korrigieren oder heilen, das sollten auch die Argentinier verstehen. Hinzu kommt, dass das Wahlergebnis mit 52% zu 48% nicht nur knapp war, sondern auch eher eine Wahl gegen Christina Kirchner als für Mauricio Macri war. Dementsprechend sind auch nicht alle 52% der Wähler Anhänger der Macri-Regierung gewesen. Insofern war die Ausgangssituation für die notwendigen drastischen wirtschaftlichen Reformen nicht die günstigste.

Die Regierung hat es allerdings versäumt, bei Amtsantritt der Bevölkerung eine ehrliche und schonungslose Analyse der Realität zu präsentieren und damit in der Bevölkerung mehr Verständnis und Akzeptanz zu generieren. Macri hat zunächst versucht, den Weg des Gradualismus zu gehen, d.h. keine Schocktherapie sondern „häppchenweise“ Reformen umzusetzen. Dies hat sich, wie in vielen anderen Ländern übrigens auch, als unwirksam erwiesen. Hinzu kommt, dass er die notwendige Reduzierung der Staatsausgaben, hier vor allem einen Personalabbau im Öffentlichen Dienst, nicht angegangen ist, was nun als Bumerang zurückkommt. In dieser Hinsicht trägt sicherlich die derzeitige Regierung die Verantwortung.    

Der Notenbankchef Luis Caputo ist nach sehr kurzer Amtszeit in einer spektakulären Presseerklärung zurückgetreten während sich Präsident Macri in New York befand? Welche Auswirkungen hat dies, was bedeutet dies für die weitere Entwicklung Argentiniens?

Was den Rücktritt Luis Caputos anbelangt, so gibt es sehr unterschiedliche Interpretationen. Was zunächst in der morgendlichen „Berichterstattung“ als Überraschung verkündet wurde, wurde aus Regierungskreisen als schon länger geplantes Manöver deklariert. So solle es diese Überlegungen schon seit Wochen gegeben haben. Der Zeitpunkt wurde laut Regierungskreisen bewusst gewählt, damit das am darauffolgenden Tag verabschiedete Abkommen mit dem IWF als positive Trendwende aufgenommen wird und nicht durch den Rücktritt Caputos dominiert werde. Eigentlich spiegelt der Rücktritt Caputos einen Machtkampf innerhalb der Macri-Regierung wieder. Wirtschaftsminister Dujovne und Caputo waren nicht gerade Verbündete im Kampf gegen Inflation und Devaluierung. Nun nach dem Rücktritt Caputos wird mit Guido Sandleris ein Vertrauter Dujovnes Nachfolger als Notenbankchef. Damit könnte es zu innerhalb der Macri-Administration zu einer einheitlicheren Linie in wirtschaftspolitischen Fragen und den notwendigen Reformen kommen.

Welches sind Ihrer Meinung nach die Herausforderungen für Argentinien in den nächsten Monaten?

Die Probleme und Herausforderungen sind schon angesprochen worden; Abwertung, Inflation, hohes Staatsdefizit, notwendige Wirtschaftsreformen.

Es muss der argentinischen Bevölkerung meiner Meinung nach sowohl von der Regierung aber auch von Think Tanks anhand einer ehrlichen Analyse mitgeteilt werden wie die wirtschaftliche Situation real aussieht und auch, dass man viele Jahre wesentlich über den real existierenden Lebensverhältnisse gelebt hat und diese Folgen nur durch klare und eindeutige Reformen korrigiert werden können, die man dann aber auch durchsetzen muss, notfalls auch zulasten politischer Stimmengewinne. Bei der derzeitigen Polarisierung der Gesellschaft und der Verankerung peronistischen Gedankengutes in weiten Teilen der Gesellschaft wird dies nicht ohne Konflikte gehen, aber es ist meiner Meinung nach der einzige Weg.