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Liberale Literatur
Ulrich Sieg: Vom Ressentiment zum Fanatismus. Zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus.

Rezensiert von Christoph Jahr
Liberale Literatur

Eher selten ist ein Verlagstext, der die Aktualität des beworbenen Buches preist, selbst ungewollt derart aktuell wie dieser über Ulrich Siegs Aufsatzsammlung „Vom Ressentiment zum Fanatismus“: seine „Inventur der historischen Auseinandersetzungen um den Antisemitismus, seiner Vertreter und seiner Gegner offenbart verstörend aktuelle Muster“. Die großen Krisen der letzten Jahre, die Finanzkrise 2008, die „Flüchtlingskrise“ 2015, die Corona-Pandemie und schließlich der Überfall Russlands auf die Ukraine haben tatsächlich gezeigt, wie aktuell der Antisemitismus nach wie vor ist. Seit dem 7. Oktober 2023 werden wir nicht zuletzt auch in Deutschland Zeugen einer neuen Welle des Judenhasses, die in jeder Hinsicht extrem erschütternd ist. Besonders fassungslos macht die Tatsache, dass es einmal mehr gerade Intellektuelle, oft auch junge, akademisch ausgebildete Menschen sind, die unverhohlen judenfeindliche Klischees verbreiten, sei es in Zeitungen, durch „offene Briefe“ oder durch als Spielwiese akademischer Medienstars dienende Podcasts.

Der Antisemitismus ist also keineswegs nur „der Sozialismus der dummen Kerls“, wie es das August Bebel zugeschriebene Bonmot will, sondern nicht weniger die Ideologie vieler Gebildeter. Kaum jemand hat sowohl die Geschichte jüdischer Gelehrter und Intellektueller als auch das dunkle Komplementärstück, die Ideengeschichte des akademischen Antisemitismus, seit Jahrzehnten so umfassend und tiefgründig erforscht wie der Marburger Historiker Ulrich Sieg. Vorliegender Band macht nun zehn Aufsätze aus den Jahren 1996 bis 2020 auch jenen bequem zugänglich, die sich nur gelegentlich auf den Feldern der Universitäts-, Ideen- und Philosophiegeschichte des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik bewegen.

In dem „Schattenlinien des Kaiserreichs“ betitelten ersten Abschnitt zeichnet Sieg die durch die Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 gesetzten Rahmenbedingungen jüdischen Lebens nach. Dem Abschluss des im späten 18. Jahrhunderts begonnenen Emanzipationsprozess durch die völlige rechtliche und staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden, dem damit einhergehenden sozio-ökonomischen Aufstieg und dem Willen, sich ganz mit der „deutschen Kulturnation“ zu identifizieren, standen, unter dem neuen Schlagwort „Antisemitismus“ gebündelt, zahlreiche Ressentiments und Widerstände gegenüber. Sie waren weiterhin religiös, aber auch politisch, ökonomisch und zunehmend rassistisch begründeter Provenienz. Nicht zuletzt gegen die nationalistische, anti-universalistische Verengung des deutschen Nationsbegriffs etwa durch Heinrich von Treitschke argumentierten jüdische Gelehrte wie Moritz Lazarus voller Engagement, doch mit letztlich begrenztem Erfolg. Das Dreiecksverhältnis zwischen humanistischem Universalismus, deutschem Partikularismus und jüdischem Eigensinn blieb spannungsreich und widersprüchlich, sowohl in der Selbst- wie in der Fremdwahrnehmung.

Mit letzterer befassen sich schwerpunktmäßig die drei unter der Überschrift „Fanatismus im gelehrten Gewand“ zusammengefassten Aufsätze, die verschiedene Facetten des von Paul Anton Bötticher alias Paul de Lagarde vertretenen Antisemitismus behandeln. Marburg war einerseits, vor allem in Gestalt des dort vertretenen Neukantianismus Hermann Cohens, ein Epizentrum (links)liberalen philosophischen Denkens und Lehrens mit großer Strahlkraft; andererseits war Nordhessen spätestens mit dem Auftreten des „Bauernkönigs“ Otto Böckel ein Zentrum judenfeindlicher Agitation. Für deren gewissermaßen „gelehrsame Unterfütterung“ steht der Orientalist de Lagarde, der seinen rassistisch zugespitzten „Erlösungsantisemitismus“ nicht zuletzt durch seine Gelehrtenreputation für gebildete Kreise respektabel machte – seinen zunehmend unverhüllten Vernichtungsphantasien gegenüber Juden und Judentum ungeachtet. Was Cohen bei seinen Abwehrversuchen erfahren musste, war auch vielen anderen anti-antisemitischen Gelehrten widerfahren und gilt leider bis heute: Der Antisemitismus ist nicht trotz, sondern wegen seiner wissenschaftlichen Unhaltbarkeit, intellektuellen Unredlichkeit und immanenten Widersprüchlichkeit erfolgreich.

Mit der „Macht ideologisierter Wissenschaft“ setzt sich Sieg im nächsten, wiederum drei Aufsätze bündelnden Kapitel auseinander. Kenntnisreich legt er dar, wie das anfänglich ob seiner mangelnden inhaltlichen Stringenz eher belächelte Oeuvre Friedrich Nietzsches erst durch das unermüdliche Wirken seiner Witwe, Elisabeth Förster-Nietzsche, zu einem Fixpunkt völkisch-rassistisch-antisemitischer Ideologie wurde. Diese wurde ab 1933 systematisch, wenn auch keineswegs widerspruchs- und reibungsfrei, in Wissenschaftspolitik überführt. Mit dem vor allem der Selbstexkulpation der „willigen Wissenschaftler“ nach 1945 dienendem Pauschalurteil der Wissenschaftsfeindlichkeit des NS-Regimes räumt Sieg ebenso gründlich auf wie mit der noch vor drei Jahrzehnten weitgehend akzeptierten Deutung, die „deutsche Wissenschaft“ sei, bis auf bedauerliche Einzelfälle, von den NS-Verbrechen wie Zwangsumsiedlung und Völkermord im Kern unberührt geblieben. Auch die polemische Auseinandersetzung zwischen oft als „jüdisch“ diffamiertem Neukantianismus und „deutscher Wissenschaft“ zog sich weit in die Nachkriegsgeschichte.

In den beiden unter dem auf den ersten Blick verwirrenden Titel „Zukunftshoffnungen“ zusammengefassten abschließenden Aufsätzen geht es nicht um die heutige Zukunft. Stattdessen erörtert Sieg die erdachte und leider nicht eingetretene Zukunft einer liberalen und pluralistischen, dem Siegeszug der radikalnationalistischen, völkisch-antisemitischen Inhumanität widerstehenden intellektuellen und politischen Kultur. Dafür stehen hier Paul Natorp einerseits und Helmuth Plessner andererseits. Beide bemühten sich auf ihre je eigene Weise darum, die intellektuellen Verheerungen des Ersten Weltkriegs hinter sich zu lassen, was ihnen die erbitterte Feindschaft der radikalen Rechten einbrachte. Wie der Sinn für Ambiguitäten im herangebrochenen Internetzeitalter am Leben gehalten werden kann, ist eine von Sieg am Beispiel Plessners selbst angeregte Aktualisierung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse, die auf die eingangs angesprochenen Erfahrungen der letzten Jahre zurückverweist. Der Antisemitismus ist nicht nur ein soziales, politisches und juristisches, sondern auch ein intellektuelles Problem, dessen weitere Erforschung obligatorisch ist und bleibt.

Dieser Sammelband beleuchtet viele ideengeschichtliche Aspekte der Judenfeindschaft kenntnisreich, differenziert und anregend. Eine konzise Gesamtdarstellung vermag aber auch er nicht zu ersetzen. Darüber hinaus konzentriert sich Sieg auf die Ideengeschichte des modernen Antisemitismus im deutschsprachigen Raum. Das macht ihn einerseits zum führenden Experten auf diesem Gebiet, lässt aber andererseits die Frage unbeantwortet, ja sogar weitgehend ungestellt, wie die Entwicklungen in Deutschland im europäischen wie globalen Vergleich und Kontext einzuordnen wären. Es wäre kein Missverständnis, diese Zeilen als freundlichen Arbeitsauftrag an Ulrich Sieg zu verstehen. Wer, wenn nicht er, wann, wenn nicht jetzt?

 

Lesen Sie hier die gesamte Literaturkritik 2/2023.