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Freihandel
Wir brauchen eine globale Ordnungspolitik

Die Welthandelsordnung steht vor ihrer größten Herausforderung seit 70 Jahren

Der Stabwechsel in der Stiftung steht bevor: Wolfgang Gerhardt wird nach zwölf Jahren als Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit die Amtsgeschäfte in die Hände seines Nachfolgers Karl-Heinz Paqué übergeben. Ein großes Thema, das die Liberalen und auch die Stiftung in Zukunft weiterhin umtreiben wird, ist der Welthandel. Denn die Welthandelsordnung steht vor ihrer größten Herausforderung seit 70 Jahren. Karl-Heinz Paqué, Professor für Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg, gibt einen programmatischen Ausblick.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen im liberal-Magazin 03.2018.

Vor 70 Jahren, am 1. Januar 1948, trat das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen in Kraft. Sein griffiger englischer Name: GATT, also „General Agreement on Tariffs and Trade“. Unter der politischen Führung der USA und des Vereinigten Königreichs verständigten sich 23 Nationen auf ein multilaterales Regelwerk im internationalen Handel. Kern war das Prinzip der Nicht-Diskriminierung, auch Meistbegünstigung genannt, also die Verpflichtung, alle Vertragspartner gleich zu behandeln.

In der Folgezeit war das GATT extrem erfolgreich: Immer mehr Nationen, darunter auch Deutschland, traten bei, und es gelangen über die Jahrzehnte in einigen großen multilateralen Handelsrunden kräftige Senkungen des weltweiten Zollniveaus. Mit Abschluss der sogenannten Uruguay-Runde wurde Mitte der 90er-Jahre das GATT in die neu gegründete World Trade Organisation (WTO) überführt, die zudem ein formalisiertes Verfahren der Streitschlichtung erhielt, das seither intensiv arbeitet und bis heute fast 600 Fälle bearbeitet hat, die meisten übrigens mit guten Ergebnissen. Auch die WTO wuchs kräftig. Heute zählt sie 164 Nationen als Mitglieder, darunter seit 2001 China und seit 2012 Russland. Mehr als 90 Prozent des gesamten Handelsvolumens entfällt auf Länder der WTO.

Krise des Multilateralismus

Eine große Erfolgsgeschichte, zumal der Welthandel massiv zunahm. Wer genau hinschaute, konnte allerdings schon lange erste Risse im multilateralen Gebäude erkennen. Denn zunehmend nutzten WTO-Mitgliedsländer eine wichtige Ausnahme vom Prinzip der NichtDiskriminierung, die schon immer erlaubt war: den Abschluss von zumeist bilateralen Handelsabkommen, soweit diese nicht gegenüber Drittländern zu Zollerhöhungen führten. Nach 1990 schoss deren Anzahl in die Höhe, was zeigte, dass es viel leichter war, sich zwischen Nachbarstaaten und bilateral zu einigen als einen globalen Fortschritt in Richtung Freihandel zu erreichen. Dafür gab es auch einen tiefen technologischen Grund: Da der Handel mit industriellen End-, Zwischen- und Vorprodukten die stärkste Wachstumsdynamik aufwies, bedurfte es auch immer mehr tiefergehender Vereinbarungen über Technik- und Produktstandards sowie Investitionsschutz, um überhaupt einen stabilen Rahmen für die Handelsbeziehungen zu gewährleisten.

Schritt für Schritt entfernte sich damit ein großer Teil des wachsenden Handels aus der multilateralen Grundphilosophie der WTO. Die Welt begann unmerklich zu zerfallen in zumeist regionale Teilgruppen, die sich auf ihre eigenen Regeln verständigten. Die prominentesten Fälle dafür sind natürlich die Europäische Union (EU) sowie das North Atlantic Free Trade Agreement (NAFTA). Symptomatisch für die Entwicklung war das gleichzeitige Stocken der letzten multilateralen Handelsrunde, die 2001 in Doha aufs Gleis gesetzt und bis heute nicht abgeschlossen wurde.

Aufstieg des Staatskapitalismus

Hinzu gekommen ist inzwischen eine noch größere Herausforderung als der Niedergang des Multilateralismus. Sie lässt sich am besten beschreiben als Aufstieg eines völlig neuen Wirtschaftssystems: Staatskapitalismus. Gab es im Kalten Krieg den übersichtlichen Antagonismus zwischen liberaler „Marktwirtschaft“ und sozialistischer „Planwirtschaft“, so gibt es mit dem Aufstieg großer Entwicklungs- und Schwellenländer immer mehr komplexe Mischformen. Typisch für sie ist, dass es im Grundsatz eine freie Preisbildung für die Produkte privater und staatlicher Unternehmen gibt, dass aber der Staat überaus stark lenkend und steuernd eingreift – sei es aus rein machtpolitischen Gründen, um sich eine Unternehmerklasse gefügig zu machen wie etwa in Putins Russland, sei es aus übergeordneten Planungszielen der technologischen Entwicklung, die von der politischen Führung beschlossen werden, so wie es im kommunistischen China von Xi Jinping geschehen ist.

Vor allem das chinesische Modell des Staatskapitalismus schafft für die Welthandelsordnung eine ernste Bedrohung. Die Gründe liegen auf der Hand: die Größe des Landes mit 1,4 Milliarden Menschen sowie die Entschlossenheit seiner autoritären Führung, mit dem Programm „Made in China 2025“ in allen wesentlichen Bereichen der Hochtechnologie die Weltmärkte zu erobern. Dafür setzte das Land nach Schätzungen des Hudson Institute zuletzt im Jahr 2016 fast 800 industrie und technologiepolitische Programme ein, deren Subventionierung in der Größenordnung von 300 Milliarden US-Dollar liegen; direkt an Staatsunternehmen gingen obendrein 30 Milliarden US-Dollar. Flankiert werden diese gigantischen Hilfen durch eine systematische Politik des einseitigen Technologietransfers bei Aufkauf ausländischer Unternehmen sowie Joint Ventures, die dem Geist des freien und fairen Handels komplett zuwiderlaufen, aber in den Regelwerken der WTO noch nicht gebrandmarkt oder gar verboten werden.

Hier steht die WTO vor einem neuen und gewaltigen Problem. Es ist tatsächlich das Verdienst des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, weltweit darauf aufmerksam gemacht zu haben – wenn auch mit einer wüsten Rhetorik und mit Strafzöllen auf chinesische Produkte, die das Regelwerk der WTO in grober Weise verletzen. In der Sache hat er aber recht: Es wäre blauäugig zu glauben, dass in der westlichen Welt auf Dauer ein gesellschaftlicher Konsens für den Freihandel zu bewahren ist, wenn ein riesiger, schnell wachsender Konkurrent namens China auf dem Weltmarkt durch massive Staatseingriffe und unfaire Handelspraktiken immer mehr Marktanteile gerade in jenen Bereichen der Hochtechnologie erobert, in denen westliche Produzenten ihre Absatzchancen und Arbeitnehmer ihre Verdienstmöglichkeiten sehen. Was früher als Randphänomen ignoriert werden konnte, rückt immer stärker ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins. Es darf nicht mehr ignoriert werden, auch nicht in Europa.

Mit dem Programm „Made in China 2025“ will China alle wichtigen Bereiche der Hochtechnologie auf den Weltmärkten erobern!

Mit dem Programm „Made in China 2025“ will China alle wichtigen Bereiche der Hochtechnologie auf den Weltmärkten erobern!

© Illustration Thomas Kuhlenbeck

Die neue Aufgabe

Daraus ergibt sich eine gewaltige Herausforderung für die WTO. Es geht im Kern darum, nicht mehr nur sichtbare Handelsbeschränkungen wie Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse in den Griff zu bekommen, sondern tief in die jeweils nationale Wettbewerbs- und Wirtschaftspolitik durch multilaterale Vereinbarungen einzuwirken. Auf den ersten Blick erscheint dies hoffnungslos: Wie naiv muss man sein, um zu glauben, dass ein großes, mächtiges, autoritär regiertes Land wie China sich auf eine Beschränkung und Kontrolle seiner nationalen Industrie- und Technologiepolitik einlassen könnte? Andererseits ist China als „Exportweltmeister“ gerade wegen seiner inzwischen starken Abhängigkeit vom Außenhandel auf die Offenheit der Weltmärkte für seine Produkte mehr denn je angewiesen. Es ist also durchaus verwundbar – und zwar dann, wenn eine gemeinsame Front der führenden westlichen Industrienationen unmissverständlich klarmacht, dass die weitere weltwirtschaftliche Integration des Riesenreichs nur dann Unterstützung findet, wenn sich China an den WTO-Geist des freien und fairen Welthandels hält. Dazu muss allerdings dieser Geist in Prinzipien und Regeln konkretisiert werden – und dies erfordert eine grundlegende Reform der WTO.

Die politische Konsequenz heißt: Schluss machen mit der dahinsiechenden Doha-Runde und stattdessen Neustart einer WTO-Reform, die wirklich die wettbewerbspolitischen Handelshemmnisse des 21. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Die praktische Kernfrage lautet also: Wie lassen sich China und der Rest der Welt motivieren, am Verhandlungstisch Platz zu nehmen, um eben diese nötigen Reformen anzugehen? Der Schlüssel zur Antwort liegt im transatlantischen Verhältnis: Nur wenn der Westen gemeinsam vorgeht, besteht eine realistische Chance, den nötigen Druck auf China auszuüben. Dafür sind Europa und Nordamerika heute noch wirtschaftlich stark genug, zusammen mit befreundeten Nationen in Lateinamerika und im pazifischen Raum. Aber die Uhr tickt, denn China wächst schnell und könnte schon in der nächsten Dekade seine neomerkantilistischen Ziele der Markteroberung erreichen.

Warum funktioniert aber diese transatlantische Verständigung (noch) nicht? Die Antwort ist einfach und hat derzeit einen einzigen Namen: Donald Trump. Er hat zwar die chinesische Herausforderung durchaus erkannt, aber mit seinen jüngsten Strafzöllen eine Art Zweifrontenkrieg mit China und Europa begonnen. Die EU hat darauf bisher überaus besonnen und klug reagiert. Sie folgte im Wesentlichen der Strategie ihrer liberalen Handelskommissarin Cecilia Malmström. Zum einen erteilte die EU chinesischen Angeboten für eine engere handelspolitische Zusammenarbeit eine freundliche, aber klare Absage, obwohl das Verhalten von Donald Trump es verführerisch nahelegte, auf China zuzugehen. Gleichzeitig pocht die EU unbeirrt auf Freihandel: einerseits durch beschleunigten Abschluss von Handelsabkommen mit Kanada und Mexiko sowie Südkorea und Japan – alles recht große Länder von zusammen fast 350 Millionen Einwohnern mit starker Integration in die Weltmärkte; Abkommen mit Australien und Neuseeland werden noch folgen. Hinzu kamen wohldosierte und gezielte Strafzölle als Nadelstiche gegen Exportprodukte in Trump-Hochburgen des ländlichen Amerika, und dies nicht aus Freude am Protektionismus, sondern als Geste des Beharrens auf dem Freihandelsprinzip der Gegenseitigkeit. Immer gab es dabei den Hinweis, dass die Tür zu Verhandlungen weit offen steht, zu keinem Zeitpunkt rissen die Gesprächskontakte ab. Zur Überraschung vieler Beobachter kam es dann beim jüngsten Treffen von Juncker und Trump in Washington tatsächlich zu einer gemeinsamen Bereitschaftserklärung, die Eskalation zu stoppen und Verhandlungen zu beginnen. Ziel: ein transatlantisches Handelsabkommen.

Ein Fahrplan für die Zukunft

Es mag vermessen klingen, aber dies könnte der erste Baustein zur Erneuerung der internationalen Handelsordnung werden. Dafür muss allerdings ein klares langfristiges Oberziel definiert und verfolgt werden: die Reform der WTO. Alles andere sind Schritte auf diesem Weg: unabdingbar, aber unvollständig. Ein Fahrplan könnte aus drei Stufen bestehen: der Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens, eine G20- Weltwirtschaftskonferenz und schließlich der Start einer neuen Handelsrunde zur grundlegenden Erneuerung der WTO.

Der erste Schritt wirkt mit Blick auf die Rhetorik von Donald Trump derzeit noch utopisch. Aber er ist es dann nicht, wenn die ernüchternden Erfahrungen auf beiden Seiten des Atlantiks ernst genommen werden. Trumps Amerika muss erkennen, dass sich der aktuell praktizierte aggressive Unilateralismus nicht auszahlt, selbst für eine große, wohlhabende Nation von 330 Millionen Menschen wie die Vereinigten Staaten. Der Grund ist, dass andere sich dagegen wehren – durch gezielte harte Vergeltung und im EU-Fall durch Freihandel mit anderen Regionen der Welt, nach dem Motto: zur Not eben ohne die USA.

In Europa und vor allem in Deutschland geht es bei dem Lernprozess besonders um die bitteren Erfahrungen, die mit den TTIP-Verhandlungen zur Zeit der Obama-Administration gemacht wurden. Damals wehrte sich eine breite Koalition von Grünen, Sozialisten und ökologisch orientierten NGOs massiv gegen den transatlantischen Freihandel, vor allem aus Furcht vor einer Senkung sozialer und ökologischer Standards infolge des verstärkten Wettbewerbs. Daneben erlaubte die Politik in Deutschland das Anwachsen eines riesigen Überschusses in der Leistungsbilanz – statt durch Steuersenkungen dafür zu sorgen, dass eine neue gesamtwirtschaftliche Konstellation entsteht: mit mehr Investitionen, stärkerem Wachstum und höheren Importen. In all diesen Punkten brauchen wir ein Umdenken, denn die letzten beiden Jahre haben gezeigt, was auf dem Spiel steht und wie sich die Lage zuspitzen kann, wenn Amerikaner sowie Europäer (und allemal die Deutschen) auf ihren Positionen beharren.

Wichtig ist es dabei, dass die Verhandlungen mit einer gehörigen Portion Pragmatismus geführt werden. Im Vordergrund muss stehen, dass es tatsächlich zu einem Freihandelsabkommen kommt, nicht aber, dass alles und jedes detailliert geregelt wird. Extrem sensible Bereiche sollten ausgeklammert werden, bevor sie die Verhandlungen als Ganzes zum Scheitern bringen. Dies gilt zum Beispiel für Gesundheitsstandards bei Lebensmitteln, die in Europa sehr ernst genommen werden, und für Vorschriften der Ausschreibung bei öffentlichen Aufträgen, die in den USA auf Unverständnis stoßen. Der erfolgreiche Abschluss eines Freihandelsabkommens als „TTIP light“ ist allemal besser als das Scheitern der Verhandlungen an hochemotionalen Einzelthemen. Er hätte mit Blick auf das Ziel der WTO-Reform eine überragende symbolische Bedeutung. Diese würde noch verstärkt, wenn es parallel zwischen Kanada, Mexiko und den Vereinigten Staaten in den laufenden Verhandlungen schließlich doch zu einer Fortsetzung von NAFTA käme.

Warum funktioniert aber diese transatlantische Verständigung (noch) nicht? Die Antwort ist einfach und hat einen Namen: Donald Trump. 

Warum funktioniert aber diese transatlantische Verständigung (noch) nicht? Die Antwort ist einfach und hat einen Namen: Donald Trump. 

© Illustration Thomas Kuhlenbeck

Ergebnis wäre im Idealfall eine umfassende Zone des transatlantischen Freihandels: EU + NAFTA + weitere europäische Länder inklusive des Vereinigten Königreichs nach einem Brexit, der möglichst „soft“ ausfällt oder nach einem weiteren Referendum gar nicht stattfindet. Dies würde die Voraussetzungen schaffen für den zweiten großen Schritt, eine G20-Weltwirtschaftskonferenz, auf der die Eckpunkte einer grundlegenden WTO Reform abgesteckt werden könnten. Aus heutiger Sicht stünden dabei drei Themen im Vordergrund: wettbewerbsrechtliche Grenzen der Industrie- und Technologiepolitik, Wissenstransfers bei Direktinvestitionen und Joint Ventures sowie Schutz intellektueller Eigentumsrechte in einer Welt der Digitalisierung. Hinzu kommt die dringende Notwendigkeit, das WTO-Schiedsgericht zur Lösung von Handelsstreitigkeiten zu stärken: durch drastische Verkürzung der Entscheidungsfristen sowie massive Aufstockung des juristischen Personals, was derzeit von der amerikanischen Regierung gezielt verhindert wird.

All dies müsste nach Einigung auf das Grundsätzliche im weiteren Verfahren zum Gegenstand einer neuen großen WTO-Handelsrunde werden. Deren Bedeutung wäre nur zu vergleichen mit der konstituierenden Konferenz in Havanna im November 1947, mit der das GATT überhaupt erst auf den Weg gebracht wurde. Damals ging es um die Weichenstellung in Richtung Freihandel für die globale Ordnung nach zwei Weltkriegen. Heute geht es darum, ob diese erfolgreiche liberale Ordnung in das 21. Jahrhundert intakt überführt und modern weiterentwickelt werden kann. Im Anblick der derzeitigen Krisen des Protektionismus mag dies vorerst nicht mehr sein als eine Vision oder gar ein frommer Wunsch. Tatsächlich liegen noch riesige Steine auf dem Weg - allen voran die Erneuerung der transatlantischen Handelsbeziehungen. Ohne sie wird es keine globale Ordnungspolitik geben.