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„Wir kehren in die Welt vor 1945 zurück“

Zinnsoldat
© Foto: Ann Wang/ Picture Alliance/Reuters

Der Harvard-Forscher Daniel Ziblatt über die Demokratie-Krise in den USA, die Folgen der Pandemie und die künftige internationale Ordnung.

 

Alexander Görlach: Herr Ziblatt, in Ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ haben Sie 2018 gemeinsam mit Steven Levitsky aufgeschlüsselt, wie demokratische Länder in die Autokratie abrutschen. Ihr Werk entstand unter dem Eindruck der Präsidentschaft von Donald Trump. Der erklärte Freund von Diktatoren und Autokraten hat offengelassen, ob er 2024 wieder versuchen wird, in das Weiße Haus einzuziehen. Wie besorgt stimmt Sie heute der Zustand der amerikanischen Demokratie?

Daniel Ziblatt: Eines der Merkmale an Trump ist, dass er in seinem Autoritarismus so offenkundig war – und immer noch ist. Bereits 2016 drohte er damit, seine politischen Gegner zu verhaften, falls er gewählt würde. Er griff die Medien an. Und als er gefragt wurde, ob er ein Wahlergebnis auch akzeptieren würde, wenn er verlöre, antwortete er einfach nicht. Wir waren also gewarnt. Als wir 2018 unser Buch veröffentlichten, waren wir überzeugt, aus dem Zusammenbruch der Demokratie in Europa in den Dreißigerjahren und in Lateinamerika in den Sechziger- und Siebzigerjahren die richtigen Lehren gezogen haben, indem wir die Alarmglocken läuteten. Wo wir das Ausmaß der Bedrohung der amerikanischen Demokratie nicht richtig eingeschätzt haben, ist die Tatsache, dass die Republikanische Partei so vollständig zum Trump-Verein ge- worden ist. Sein Autoritarismus war innerhalb seiner Partei ansteckend. Wir hatten dennoch vermutet, dass es unter den Republikanern mehr Widerstand geben würde, insbesondere angesichts des Angriffs auf den Kongress am 6. Januar 2021. Heute müssen wir einsehen, dass eine der beiden großen politischen Parteien Amerikas die Demokratie weitgehend aufgegeben hat. Das ist zweifellos besorgniserregend.

 

Die Corona-Pandemie sah 2018 noch niemand heraufziehen. Selbst demokratische Regierungen mussten Freiheiten massiv einschränken, Autokraten und Diktatoren jubelten: Sie konnten im Fahrwasser der Pandemie die Daumenschrauben der Bevölkerung weiter anziehen. Wie hat Covid-19 die freie Welt verändert?

Ich glaube nicht, dass Covid-19 ein Wendepunkt war. Die Pandemie hat nur die bereits im Gange befindlichen Veränderungen beschleunigt. Der Umgang damit war sicherlich überall eine Herausforderung, aber in Demokratien, in denen Regierungen effektiv reagierten, wuchs das politische Vertrauen bei gleichzeitig geringerer Polarisierung. Wo hingegen Demokratien ohnehin schon schlecht funktionierten, ging das Vertrauen weiter zurück, und die Polarisierung nahm zu. Ich vermute, dass sich die Pandemie in den Generationen unterschiedlich ausgewirkt hat. Menschen, deren Leben und Karrieren bereits in festen Gleisen waren, werden in den allermeisten Fällen zu ihren alten Routinen zurückkehren, vielleicht mit kleinen Änderungen hier und da. Für junge Menschen hingegen, die in der Corona-Ära volljährig wurden, können die Auswirkungen lebensverändernd sein – in Bezug auf das Arbeitsleben, die sozialen Beziehungen und das Verhältnis zur Technologie. Die Forschung zeigt, dass es im Leben mehrere Schlüsselmomente der Sozialisierung gibt. Einer davon findet in jugendlichem Alter statt, zwischen 16 und 20 Jahren, wenn eigene Überzeugungen und das Verhältnis zur Welt etabliert werden. Für diejenigen, die das Trauma von Covid-19 in dieser Alterskohorte erlebt haben, wird diese Erfahrung in den kommenden Jahren auf unerwartete Weise widerhallen.

Eine Krise jagt die nächste: im Jahr 2001 der Anschlag auf das World Trade Center, die Finanzkrise 2008, die Fluchtbewegungen 2015, die Pandemie im Jahr 2020 und nun, 2022, Ukraine-Krieg, Inflation, Rezession und die Gefahr eines Flächenbrandes in Europa. Sind Krisen die neue Normalität? Wie können demokratische Regierungen die beständige Herausforderung meistern, ohne ihre Werte aufzugeben?

In gewisser Weise habe ich das Gefühl, wir kehren in die Welt vor 1945 zurück. Auch Demokratien mussten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existenzielle Krisen bewältigen. Ja, permanente Krise ist gewissermaßen die historische Normalität. Die Periode der Stabilität zwischen 1945 und 2001 war, wie sich herausgestellt hat, die Ausnahme. Es ist wie in dem alten Hollywood- Film „Zurück in die Zukunft“ aus den Achtzigerjahren: Krisen sind sowohl die alte als auch die neue Normaliät.

Im Welt-Demokratie-Index, den das Magazin „The Economist“ herausgibt, belegen die Vereinigten Staaten nur Platz 26; Deutschland ist Nummer 15. Hoffnungsschimmer ist Taiwan auf Platz 8. Allerdings wird diese Vorzeige-Demokratie von China heftig attackiert. Wie widerstandsfähig sind die liberalen Demokratien heute gegenüber den Aggressionen Chinas und Russlands?

Die Ereignisse der zurückliegenden zwei Jahre haben die Kraft der Freiheit gezeigt. In den Dreißigerjahren unterschätzten Faschisten auf der einen und Kommunisten auf der anderen Seite den Liberalismus. Es war üblich, den Liberalismus für zu schwach zu halten, als dass er mit den wirtschaftlichen und geopolitischen Krisen der damaligen Zeit fertig werden könne. Aber jedes Mal haben sich Liberalismus und Demokratie als der Herausforderung gewachsen erwiesen. Heute gilt das ebenfalls.

Woher nehmen Sie dieses Vertrauen zur Demokratie?

Der Liberalismus hat eine geheime Zutat, eine Quelle der Stärke: Transparenz. Wir sehen jeden politischen Kampf, wir haben Einblick in jede Polarisierung. Das wird von Autokraten als Schwäche und Dysfunktion interpretiert, ich sollte sagen: fehlinterpretiert. Autokraten verstehen nicht, dass politische Auseinandersetzungen Ausdruck einer „Marktkorrektur“ sind, wie das Beobachter der Finanzmärkte nennen würden. Demokratien haben sogar ein größeres Potenzial zur Veränderung als der Markt, denn in ihnen wird der Finger in die Wunde gelegt. Dafür ist die parlamentarische Opposition schließlich da. Dieser Prozess kann chaotisch und manchmal auch hässlich sein. Aber letztlich liegt in ihm der Genius der liberalen Demokratie. Die größte Herausforderung besteht darin, dass die Bürgerinnen und Bürger der Demokratien selbst diesen Punkt nicht vergessen!

Der amerikanische Präsident Joe Biden hat die Idee einer „Liga der Demokratien“ aufgegriffen. Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit verbinden Nationen überall auf der Welt. Glauben Sie, ein solches Projekt könnte der Demokratie weltweit nutzen und sie nach vorne bringen?

Die Idee einer „Liga der Demokratien“ ergibt auf den ersten Blick Sinn. Es gibt auf der Welt einige Länder, die liberale Demokratien sind, und andere, die es nicht sind. Im Vergleich ist die Bilanz ziemlich eindeutig: Demokratien haben bessere Menschenrechts- und Rechtsstaatlichkeitsbilanzen als Nicht- Demokratien. Trotzdem habe ich zwei grundlegende Probleme mit dem Konzept. Erstens, auch wenn diese Zweiteilung der Welt deskriptiv korrekt ist, ist es eine andere Frage, ob sie im gegenwärtigen Moment auch geopolitisch oder strate- gisch Sinn ergibt. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine sehen wir ja, was das im konkreten Fall bedeuten kann: Putin kann ungehindert versuchen, seine eigene geopolitische Fantasie umzusetzen. Um effektiv gegenzuhalten, haben die Vereinigten Staaten und Europa direkt in Richtung China geschaut, um von dort Unterstützung zu bekommen. Das zeigt zweitens: in der Realität geht das Konzept nicht auf. Wir brauchen auch die Kooperation mit China, einer Nicht-Demokratie, die sich aber immerhin größtenteils an internationale Normen hält – zumindest mehr als Russland. Wenn sich eine Autokratie an internationale Normen hält, ist es etwas anderes, als wenn sie dies nicht tut.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Ich denke, wir brauchen mehrere Allianzen und Ligen. Hier wären also mehr Nuancen sinnvoll. Die Welt lässt sich nicht auf eine einzige Unterscheidung wie die zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie reduzieren.

Welche Reformen brauchen wir, damit die Demokratie in den kommenden Jahren Grund zur Hoffnung bieten kann?

Alle Demokratien haben ihre eigenen Probleme und brauchen verschiedene Arten von Reformen, um sie anzugehen. Wie Leo Tolstoi es in seinem Roman „Anna Karenina“ ausdrückte: „Alle glücklichen Familien sind gleich; jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Aber in unserem Fall gibt es etwas Verbindendes: Alle Demokratien sollten demokratischer werden. In den Vereinigten Staaten genießen und erleiden wir zur gleichen Zeit das Schicksal, die älteste geschriebene Verfassung der Welt zu haben, ausgearbeitet im vordemokratischen 18. Jahrhundert. Sie wurde bisher nur 27-mal geändert und trägt so ein Erbe weiter, das in vielerlei Hinsicht nicht in der Weise demokratisch ist wie die neueren europäischen Verfassungen.

In Deutschland wiederum, das im Demokratie-Index vor den Vereinigten Staaten liegt, würde jeder Schritt in Richtung mehr Teilhabe, mehr Wettbewerb und mehr bürgerliche Freiheiten die Demokratie stärken. Lassen Sie uns weder hier noch dort der autoritären Versuchung nachgeben, an der Freiheit Abstriche zu machen, um effizient regiert zu werden. Die Faktenla- ge ist eindeutig: Je demokratischer Gesellschaften sind, desto effektiver und stärker sind sie auch. Letztlich müssen – und können – wir unseren Bürgerinnen und Bürgern vertrauen.

Alexander Görlach ist Journalist und Senior Fellow am New Yorker Carnegie Council for Ethics in International Affairs. Der Publizist und Theologe ist heute Chefredakteur des Online-Magazins „conditiohumana.io“.

Das Interview erscheint erstmalig am 1. Oktober 2022 in der neuen Ausgabe des Magazins Liberal.