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Marktwirtschaft
Die soziale Markwirtschaft - ein Erfolgsmodell

Das Grundprinzip, dass der Staat als Schiedsrichter über die Regeln wacht, während private Marktteilnehmer das Spiel austragen, gilt auch im 21. Jahrhundert noch - und das ist auch gut so.
Erfolgsfaktoren der sozialen Marktwirtschaft
© Friedrich-Naumann-Stiftung

Zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise wurden in den letzten Monaten riesige Hilfspaket verabschiedet und zahlreiche Einzelmaßnahmen ergriffen. Grundsätzlich ist dies angesichts der Interaktionskrise richtig. Zur Eindämmung der Virusverbreitung wurden menschliche Kontakte drastisch eingeschränkt. Für einzelne Branchen und Unternehmen bedeutete dies enorme, staatlich verordnete, Einbußen. Hier nicht mit Hilfsmaßnahmen zu reagieren wäre fahrlässig gewesen. Aber leider scheint über die vielen Eingriffe der ohnehin schon schwelende Hang zu einem neuen staatlichen Interventionismus voll entflammt zu sein. Alle ordnungspolitischen Grundsätze wurden anscheinend über Bord geworfen. Mit negativen Folgen für unseren Wohlstand und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Deshalb sollten wir den Blick wieder auf die grundlegenden Prinzipien werfen, die unsere Wirtschaftsordnung über rund 70 Jahre so erfolgreich gemacht haben. Dies gilt umso mehr, da wir angesichts der wieder steigenden Infektionszahlen vor einem schwierigen Herbst und Winter stehen. Und trotzdem sollte bei der Krisenbewältigung nicht der Kern der Sozialen Marktwirtschaft über Bord geworfen werden. Der Staat ist auch angesichts der Coronakrise nicht der bessere Unternehmer. Wohlstand muss immer noch erst erwirtschaftet werden, bevor er verteilt werden kann.

Vor diesem Hintergrund lenkt Dr. Daniel Nientiedt in seinem Gutachten „Erfolgsfaktoren der Sozialen Marktwirtschaft“ den Blick auf die historische Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft und ihre grundlegenden Prinzipien. Natürlich muss eine moderne Wirtschaftsordnung heute anders aussehen als noch vor 70 Jahren. Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung erforderten und erfordern Anpassungen der Rahmenordnung. Aber das Grundprinzip, dass der Staat als Schiedsrichter über die Regeln wacht, während private Marktteilnehmer das Spiel austragen, ist immer auch für das 21. Jahrhundert die richtige Leitlinie für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik.

Das wirtschaftspolitische Konzept der Freiburger Schule

Die Soziale Marktwirtschaft ist das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs eingeführt wurde. Das ihr zugrundeliegende wirtschaftspolitische Konzept wurde jedoch bereits in den 1930er und 1940er Jahren entwickelt. Es handelt sich um den Ordoliberalismus der Freiburger Schule, der als Reaktion auf die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zwischenkriegszeit – wie Inflation und Massenarbeitslosigkeit – verstanden werden muss.

Die Freiburger Schule war eine Forschungs- und Lehrgemeinschaft von Volkswirten und Juristen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihr wichtigster Vertreter war der Ökonom Walter Eucken (1891–1950). Der Ordoliberalismus ist die deutsche Variante des Neoliberalismus. Beide entstanden in Abgrenzung zum Laissez faire-Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Zwar stellte auch für Eucken und seine Kollegen die Freiheit des Individuums den höchsten politischen Wert dar. Allerdings waren sie der Ansicht, dass eine funktionierende Marktwirtschaft eine aktive Rolle des Staates voraussetzt.

Im Mittelpunkt des theoretischen Ansatzes der Freiburger Schule steht der Begriff der Wirtschaftsverfassung. Die Wirtschaftsverfassung ist die Gesamtheit aller (rechtlichen)
Regeln und Institutionen, die das wirtschaftliche Leben bestimmen (Eucken 1940/1989). Eucken verwendet dafür auch die Metapher der „Spielregeln“ des Marktes. Während Ökonomen normalerweise die Frage untersuchen, wie sich Menschen innerhalb gegebener Spielregeln verhalten, fragt die Freiburger Schule, wie sich unterschiedliche Spielregeln auf das Handeln der Beteiligten auswirken. Die wirtschaftliche Bedeutung von Institutionen wurde in jüngerer Zeit beispielsweise auch von den Vertretern der Neuen Institutionenökonomik (z. B. Douglass North) sowie der Verfassungsökonomik (z. B. James M. Buchanan) untersucht.

In der Wirtschaftspolitik unterscheidet die Freiburger Schule zwischen zwei verschiedenen Arten von Staatseingriffen. Zum einen kann der Staat Marktergebnisse durch Regelsetzung beeinflussen. Dieses Vorgehen wird als Ordnungspolitik bezeichnet. Zum anderen kann er direkt ins Marktgeschehen eingreifen. Diese Art der Wirtschaftspolitik heißt Prozesspolitik. Eine zentrale Aussage der Freiburger Schule besteht darin, dass die Ordnungspolitik der Prozesspolitik grundsätzlich vorzuziehen ist.

Ordnungspolitische Eingriffe bieten zwei wesentliche Vorteile. Erstens bleibt die Funktionsweise des Marktes erhalten. Das Verhalten der Marktteilnehmer wird weiterhin über das Preissystem koordiniert, was eine optimale Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gewährleistet. Zweitens wird die Freiheit der Bürger möglichst wenig eingeschränkt. Innerhalb des Regelrahmens kann jeder Mensch seine eigenen Ziele verfolgen.

Die Betonung der Freiheit im Werk Euckens ist nicht zuletzt auf die historische Erfahrung des Nationalsozialismus zurückzuführen. Als evangelischer Christ und Liberaler lehnte Eucken die nationalsozialistische Ideologie von Anfang an ab. Zusammen mit dem Juristen Franz Böhm (1895–1977) und anderen engagierte er sich in den oppositionellen „Freiburger Kreisen“ und formulierte Ideen für eine freiheitliche und marktwirtschaftliche Nachkriegsordnung (Rieter und Schmolz 1993).

Euckens posthum veröffentlichtes Hauptwerk Grundsätze der Wirtschaftspolitik (1952/2004) enthält konkrete Vorschläge, wie der Staat durch ordnungspolitische Maßnahmen sowohl den materiellen Wohlstand als auch die Freiheit seiner Bürger zu sichern vermag. Euckens ideale Wirtschaftsverfassung ist die sogenannte Wettbewerbsordnung. Er beschreibt sie anhand von sieben konstituierenden und vier regulierenden Prinzipien, die im Folgenden einzeln dargestellt werden sollen. Grundlagen für die Funktionsweise einer freien Marktwirtschaft sind zunächst die sieben konstituierenden Prinzipien (ibid, S. 254–291).

1. Grundprinzip. Das Grundprinzip ist die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems unter Wettbewerbsbedingungen. Das Preissystem vermittelt Informationen über die relative Knappheit von Gütern und dient als Grundlage für wirtschaftliche Entscheidungen. Die Lenkung des Wirtschaftsprozesses erfolgt dezentral durch die Konsumenten.

2. Primat der Währungspolitik. Veränderungen des Geldwerts in Form von Inflation oder Deflation gefährden die Informationsfunktion der Preise. Eine stabile Währung ist Voraussetzung für verlässliche Preissignale, funktionierende Kreditmärkte und langfristige Sparpläne.

3. Offene Märkte. Vorschriften und Bestimmungen, die Konkurrenten den Zutritt zum Markt erschweren, sollen abgebaut werden. Dies gilt sowohl innerhalb einer Volkswirtschaft (z. B. Konzessionen) als auch für den internationalen Handel (z. B. Zölle).

4. Privateigentum. Privateigentum sichert die Handlungsfreiheit des Individuums. Unter Wettbewerbsbedingungen werden private Produktionsmittel so eingesetzt, dass sie allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen.

5. Vertragsfreiheit. Jeder darf im Rahmen der gesetzlichen Regelungen Verträge schließen und seinen Beruf frei wählen. Die Vertragsfreiheit darf jedoch nicht dazu missbraucht werden, Verträge zu schließen, die den Wettbewerb behindern (z. B. Kartellverträge).

6. Haftung. Jeder soll Verantwortung für sein wirtschaftliches Handeln übernehmen. Verluste dürfen nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden. Nur so funktioniert die Belohnungs- oder Bestrafungsfunktion des Marktes.

7. Konstanz der Wirtschaftspolitik. Die wirtschaftlichen Pläne der Menschen basieren auf Erwartungen über die Zukunft. Wirtschaftspolitik soll für verlässliche Rahmenbedingungen sorgen, damit langfristige Investitionsvorhaben umgesetzt werden können.

Eucken war sich bewusst, dass wettbewerblich organisierte Märkte auch versagen können. Die konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung werden daher um vier regulierende Prinzipien ergänzt, die Störungen entgegenwirken (ibid, S. 291–304).

1. Monopolkontrolle. Eine Wettbewerbsbehörde soll die Entstehung von schädlichen wirtschaftlichen Machtpositionen verhindern, insbesondere von Kartellen und Monopolen. Im Fall, dass sich ein Monopol nicht auflösen lässt, muss sein Verhalten reguliert werden.

2. Einkommenspolitik. Einkommen sollen in einem gewissen Maße umverteilt werden, um die Bedürfnisse der Ärmsten in der Gesellschaft zu befriedigen. Das Prinzip impliziert die Einrichtung einer Grundsicherung im Sinne eines gesellschaftlichen Existenzminimums.

3. Wirtschaftsrechnung. Negative Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeit auf Dritte – z. B. Umweltverschmutzung – sollen in die Kalkulation der Unternehmen aufgenommen und damit reduziert werden. Dies erfolgt typischerweise durch eine Lenkungsabgabe („Pigou-Steuer“).

4. Anomales Verhalten des Angebots. Wenn der Arbeitsmarkt nicht den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgt, kann der Staat korrigierend eingreifen. Falls sinkende Löhne zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots führen, müsste ein Mindestlohn geschaffen werden.

Bei der Anwendung der konstituierenden und regulierenden Prinzipien ist zu beachten, dass zwischen den Spielregeln der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen eine Interdependenz besteht. Beispielsweise kann die wirtschaftliche Freiheit der Wettbewerbsordnung durch mangelnde politische Freiheit gefährdet werden (ibid, S. 332–334). Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und ein demokratisches Gemeinwesen hingegen unterstützen die Funktionsweise der Wettbewerbsordnung.

Müller-Armack
Müller-Armack mit Ludwig Erhard und Karl Carstens 1963 in Brüssel. © picture-alliance/ dpa | DB

Das Soziale in der Sozialen Marktwirtschaft

Die oben genannten Prinzipien bilden die Voraussetzung für eine funktionierende Marktwirtschaft mit fairem Wettbewerb und wirtschaftlicher Dynamik. Ein solches Wirtschaftssystem schafft materiellen Wohlstand und erfüllt auf diese Weise eine wichtige soziale Funktion. Die Soziale Marktwirtschaft ist schon deshalb sozial zu nennen, weil sie das Problem der Güterknappheit bestmöglich löst. Der Markt versorgt die Menschen entsprechend ihrer Präferenzen mit Produkten und Dienstleistungen, deren Preise durch den Wettbewerb tendenziell sinken. Erst an zweiter Stelle tritt daneben die Sozialpolitik.

Das sozialpolitische Element der Sozialen Marktwirtschaft wurde von Alfred Müller-Armack (1901–1978) präzisiert. Müller-Armack war ab 1952 Mitglied der Grundsatzabteilung des Bundeswirtschaftsministeriums und in dieser Funktion für die politische Umsetzung der Freiburger Ideen mitverantwortlich. Er prägte den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft und definierte ihn wie folgt: „Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es, das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (Müller-Armack 1956/1976, S. 243). Dies entspricht der heutigen Lesart des Konzepts. So charakterisiert Bundeskanzlerin Angela Merkel die Soziale Markwirtschaft als eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die „wirtschaftliche Kraft und sozialen Ausgleich miteinander verbindet“ (Merkel 2014).

Wie soll der soziale Ausgleich erfolgen? Ebenso wie Eucken war Müller-Armack der Ansicht, dass dem Schutz des Wettbewerbs eine hohe Bedeutung zukommt. Sozialpolitische Maßnahmen sollen daher nicht direkt ins Marktgeschehen eingreifen, sondern marktkonform durchgeführt werden. Marktkonformität bedeutet dabei insbesondere, dass der Preismechanismus erhalten bleibt: „Gegenüber sozialpolitischen Eingriffen, die die Preisbildung selbst berühren, scheint es richtiger zu sein, einen direkten Einkommensausgleich zwischen hohen und niedrigen Einkommen durch eine unmittelbare Einkommensumleitung vorzunehmen“ (Müller-Armack 1946/1976, S. 132).

Welche sozialpolitischen Maßnahmen zu ergreifen sind, wird von Müller-Armack nicht im Detail beschrieben. Er deutet aber an, dass dies eine politisch zu klärende Frage darstellt, deren Beantwortung in verschiedenen Kontexten unterschiedlich ausfallen mag. Denn entscheidend für die Ausgestaltung der sozialpolitischen Elemente der Sozialen Marktwirtschaft sind laut Müller-Armack die vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen in einer Gesellschaft sowie der Wunsch der Bürger nach sozialer Sicherheit (Müller-Armack 1978, S. 327).

Müller-Armacks Konzept leistete einen wichtigen Beitrag zur politischen Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Systems in Deutschland. In der Nachkriegszeit war die Einführung der Markwirtschaft nicht unumstritten; auch gemeinwirtschaftliche oder sozialistische Ansätze standen zur Diskussion. Doch schon Mitte der 1950er Jahre notierte Müller-Armack: „Die Grundannahme der Sozialen Marktwirtschaft, daß es möglich sein müsse, bei breitesten Schichten Zutrauen zu den sozialen Leistungen der Marktwirtschaft zu gewinnen, wurde inzwischen bestätigt“ (Müller-Armack 1956/1976, S. 248). In diesem Sinne kann man den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft als eine „politische Integrationsformel“ (Zweynert 2008) verstehen. Er macht Skeptiker der Marktwirtschaft darauf aufmerksam, dass wirtschaftliche Dynamik und sozialer Ausgleich keine Gegensätze sind.