Umfrage
Europäer wünschen sich eine wertebasierte Außenpolitik und eine Abschaffung des Vetorechts
Europäer wünschen sich eine EU-Außenpolitik, die auf Werten basiert und sich auf Sicherheit, Menschenrechte und Freiheit konzentriert. Außerdem ist die Mehrheit der Meinung, dass das Vetosystem des EU-Rates, welches es einzelnen EU-Mitgliedstaaten ermöglicht, gemeinsame Entscheidungen zu stoppen oder zu verzögern, einer einheitlicheren Außenpolitik im Wege steht.
Dies ist das Ergebnis einer neuen Umfrage von 2752 EU-Bürgern in zehn EU-Mitgliedstaaten. Das Europäische Dialogbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Brüssel hat diese Umfrage in Auftrag gegeben.
Diese Ergebnisse gehen über das hinaus, was wir in anderen Umfragen seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges gesehen haben. Der Krieg hat zweifellos dazu geführt, dass sich Meinungen neu orientieren. Wofür steht die Europäische Union und was bedeutet sie für die Zukunft der europäischen Bürger?
Zweite Geige
Viele Jahre lang war die europäische Außenpolitik Angelegenheit von Diplomaten und einigenExperten. Die EU spielte auf der Weltbühne die zweite Geige hinter einigen ihrer größeren Mitgliedstaaten, insbesondere hinter den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats sowie Deutschland und teilweise auch Italien und Spanien. Heute wird die Europäische Union mehr und mehr als eigenständiger internationaler Akteur wahrgenommen. Bei Handelsverhandlungen ist dies schon seit langem der Fall. Aber die Welt ist sich nun auch zunehmend der Auswirkungen bewusst, die EU-Entscheidungen auf die internationale Wirtschaftsentwicklung haben, z. B. durch ihre Kartellvorschriften, die sich auf globale Unternehmen auswirken, oder durch ihre Umwelt- und Gesundheitsvorschriften, die allein aufgrund der Größe des europäischen Marktes bereits neue globale Standards setzen.
Diese verstärkte Rolle der EU auf der Weltbühne ist vielleicht eher zufällig als beabsichtigt, obwohl die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) im Jahr 2011, der praktisch als Außenministerium der EU fungiert und von einem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik (mit anderen Worten: einem EU-Außenminister) geleitet wird, allmählich einen echten Unterschied macht. Der derzeitige Hohe Vertreter Josep Borrell, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments und spanischer Außenminister,kann aufgrund seiner vorherigen Positionen mit einer gewissen Autorität sprechen.
Die Welt außerhalb Europas nimmt die EU immer ernster. Und wie die Umfrage zeigt, haben die europäischen Bürger begonnen, sich dafür zu interessieren.
Die Geschichte der bedeutenderen und wirkungsvolleren EU-Interventionen begann mit einigen vorsichtigen friedenserhaltenden Maßnahmen, zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien. Seit 2002, dem Ende des Jugoslawienkriegs, hat die EU 30 Mal in Europa, Asien und Afrika militärisch interveniert. Und in den letzten Jahren hat die EU eine globale Rolle übernommen, indem sie sich sowohl für den Klimawandel als auch für mehr Nachhaltigkeit einsetzt. Auch während der Covid-Pandemie spielte sie eine wichtige Führungsrolle. Doch beide Themen wurden den europäischen Entscheidungsträgern mehr oder weniger aufgezwungen.
Der wirkliche Wandel hat sich jedoch erst in jüngster Zeit vollzogen, und zwar durch den russischen Angriff auf die Ukraine sowie durch das wachsende Bewusstsein für die Rolle, die China auf der Weltbühne spielt, und die Einmischung Chinas und Russlands in demokratische Prozesse in unseren eigenen Ländern. Zurücklehnen ist keine Option mehr. Die Ergebnisse unserer Umfrage bestätigen dies.
Gemeinsame Außenpolitik
Im Jahr 2019, vor dem Ukraine-Krieg, hatte der Klimawandel für die Europäer oberste Priorität. Diese Priorität wurde damals von Armut, Terrorismus und Arbeitslosigkeit gefolgt. Jetzt, vier Jahre später, wünschen sich aufgrund des russischen Einmarsches in der Ukraine mehr als drei Viertel der Europäer eine stärkere gemeinsame europäische Außenpolitik. Auf nationaler Ebene ist dieser Anteil in Frankreich, Ungarn, der Tschechischen Republik und Österreich am niedrigsten, liegt aber immer noch über 75 %. In Belgien, Spanien und Finnland hingegen liegt er sogar über 89 %, 91 % und 95 %. Ähnlich groß ist die Unterstützung für eine stärkere Zusammenarbeit in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit.
In der Tat ist für die Europäer Sicherheit die wichtigste Priorität der EU-Außenpolitik, dicht gefolgt von der Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie. Dieses Ergebnis ist für alle zehn untersuchten Länder gleich.
Diese Verschiebung ist bedeutsam. Denn in der Vergangenheit wurde die Unterstützung der EU den zögerlichen europäischen Bürgern oft als ihr natürliches Eigeninteresse verkauft. Daher würde man erwarten, dass Wirtschaftswachstum und Handel ganz oben auf ihrer Prioritäten-Liste stehen. Doch laut unserer Befragten stehen diese nur noch an dritter bzw. siebter Stelle. Die Debatte über die systemische Rivalität zwischen Europa und China hat ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen. "Die Bekämpfung des chinesischen Einflusses" steht an vierter Stelle der außenpolitischen Prioritätenliste.
Es besteht also ein klarer Handlungsbedarf für eine effektivere und kohärentere gemeinsame Außenpolitik. Eine Mehrheit in allen zehn befragten Ländern ist der Meinung, dass das Vetosystem im EU-Rat, mit dem ein einzelner Mitgliedstaat außenpolitische Entscheidungen blockieren kann, dieser gemeinsamen Außenpolitik im Wege steht. In den Niederlanden, Deutschland, Frankreich, Spanien, Finnland und Schweden würden sogar mehr als 75 % der Befragten das Vetosystem gerne abschaffen. Sie unterstützen damit die Initiative einer Gruppe von neun EU-Ländern, die sich zusammengeschlossen haben, um genau die Abstimmungsregeln zu reformieren, die derzeit für die außen- und sicherheitspolitischen Beschlüsse der Union gelten: denn zur Zeit müssen diese einstimmig gefasst werden und fallen so oft dem Vetorecht eines einzelnen Mitgliedstaates zum Opfer. Die neu gegründete "Gruppe der Freunde der qualifizierten Mehrheit" besteht aus Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Slowenien und Spanien und ist offen für weitere Länder, die sich anschließen möchten.
Vor allem Ungarn wurde heftig kritisiert, weil es ausgiebig von seiner individuellen Macht Gebrauch gemacht hat, um wichtige Vereinbarungen zu blockieren, z. B. ein EU-weites Verbot russischer Öleinfuhren, ein 18-Milliarden-Euro-Finanzhilfepaket für Kiew und eine Vereinbarung zur Einführung einer Mindestkörperschaftssteuer von 15 %. Die Vetos wurden schließlich aufgehoben, aber erst, nachdem einseitigen Forderungen der Orban-Regierung vollständig erfüllt wurden. Unter solchen Umständen ist der Veto-Mechanismus offensichtlich anfällig dafür, zu einem Instrument der politischen Erpressung zu werden. Ein weiterer Fall, der für Schlagzeilen sorgte, ereignete sich im September 2020, als Zypern im Alleingang EU-Sanktionen gegen Belarus wegen eines nicht damit zusammenhängenden Streits mit der Türkei blockierte.
Nationale Identität
Auch dieser Wandel in der öffentlichen Meinung über das Vetorecht ist von Bedeutung. Außenpolitik wird zu Recht als ein wichtiger Teil der nationalen Identität angesehen. Wie sich ein Land auf der Weltbühne präsentiert, spiegelt wider, wofür es steht, mit anderen Worten, "wer es ist". Das nationale Veto in der europäischen Außenpolitik war Ausdruck dieses Wunsches, die nationalen Identitäten aller 27 Mitgliedstaaten zu schützen. Nun wünschen sich die europäischen Bürgerinnen und Bürger aber offenbar auch eine gemeinsame europäische Identität auf der globalen Bühne, und das ohne dass ein einzelner Mitgliedstaat die gesamte EU aufhalten kann.
Es zeigt auch etwas Anderes, das vielleicht noch bedeutsamer ist: nämlich, dass die Europäer glauben, dass es so etwas wie eine wachsende europäische Identität gibt, wahrscheinlich parallel oder zusätzlich zu den nationalen und regionalen Identitäten. Von dort aus ist es kein großer Schritt zu erkennen, dass es tatsächlich ein europäisches Gemeinschaftswesen gibt - eine politische Sphäre, die über die nationalen Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinausgeht. Man ging davon aus, dass ein solcher politischer Raum auf europäischer Ebene nicht existierte oder auch nur existieren könnte: die politische Beteiligung und Identifikation der Bürger war auf den lokalen und nationalen politischen Raum beschränkt; genauso wie es auch keine europaweiten Medien gibt oder gab. Dies ist zwar nur ein Anfang, aber es ist nicht mehr so undenkbar, wie es viele Jahre lang war.