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Parlamentswahlen
Frankreich: Rechte auf dem Vormarsch

Demonstranten versammeln sich am Place de la République, um gegen die zunehmende rechte Bewegung nach dem Sieg des Rassemblement National in der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen in Paris, Frankreich, am 30. Juni zu protestieren.

Demonstranten versammeln sich am Place de la République, um gegen die zunehmende rechte Bewegung nach dem Sieg des Rassemblement National in der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen zu protestieren.

© picture alliance / Anadolu | Luc Auffret

Der Rassemblement National (RN) und seine Verbündeten erhalten nach Ablauf des ersten Wahlgangs der französischen Parlamentswahlen 33,34% der Stimmen und können mit 39 Abgeordneten von insgesamt 577 zu wählenden Volksvertretern direkt in die französische Nationalversammlung einziehen. Die linksgerichtete Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire) erhält 27,99% der Stimmen und zieht mit 32 Abgeordneten direkt ins französische Parlament –  weit vor Macrons Bündnis Ensemble pour la République („Gemeinsam für die Republik“), das mit 20,04% und lediglich zwei direkt gewählten Abgeordneten ins Parlament einzieht.

Knapp zehn Millionen Wähler haben bei der ersten Runde der Parlamentswahlen das rechtsextreme Rassemblement National (RN) gewählt. Die Partei um den Spitzenkandidaten Jordan Bardella, der insbesondere von jungen Französinnen und Franzosen wie ein Shootingstar bejubelt wird, wurde Mitte März 2024 vom französischen Verfassungsrat als „extrem“ eingestuft. Mit 33,14% kann der RN nun eine Verdopplung seines Wahlergebnisses von 2022 (18,7%) vermelden und findet damit eine Bestätigung der bereits bei den Europawahlen verzeichneten Dynamik, bei denen er ebenfalls stärkste Kraft wurde und mit 31% mehr als doppelt so stark wie das Bündnis von Präsident Macron aus den Wahlen hervorging.

Nach aktuellen Prognosen zum Ausgang der zweiten Wahlrunde am 7. Juli ist das Erreichen einer absoluten Mehrheit für den RN nicht auszuschließen. Damit könnte den Republikanern eine Schlüsselfunktion zukommen, um den RN gegebenenfalls an die Macht zu verhelfen, sollten nur einige Abgeordnete zur absoluten Mehrheit fehlen. Der Vorsitzende der Républicains hatte im Vorfeld ohne Abstimmung mit der Basis entschieden, gemeinsame Kandidaten aufzustellen, wodurch es zum Eklat mit den restlichen Républicains kam, sodass diese eigene Kandidaten aufstellten.

ordan Bardella, hält nach dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen eine Rede

Jordan Bardella hält nach dem ersten Wahlgang der Parlamentswahlen eine Rede.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Aurelien Morissard

Wer sind die Wähler der politischen Ränder?

Grund zur Besorgnis bereitet der Blick auf die Wählersoziologie, also auf die Frage, wer für den RN gestimmt hat. Auch wenn die Partei weiterhin von ihrer Stammwählerschaft gewählt wird, die zu 57% aus Arbeitern (12 Prozentpunkte mehr als 2022) besteht, konnte sie Zuwächse in nahezu allen Bevölkerungsschichten verzeichnen. So wuchs der Anteil von Angestellten, die RN wählten, auf 44% an, unter Rentnern von 18% auf 32% und bei Frauen von 17% auf 32%. Am schlechtesten schnitt der RN bei Führungskräften und Akademikern ab, aber auch hier verdoppelte sich der Anteil der Stimmen von 11% auf 22%, wie die Daten des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zeigen.

Demgegenüber konnte das aus der Not wiedergeborene Linksbündnis der Nationalen Volksfront (Nouveau Front Populaire, NFP) 27,99% bzw. knapp neun Millionen Stimmen verzeichnen. Seine Wähler sind vor allem jung (15 Prozent Zuwachs bei den 18- bis 24-Jährigen), meist Akademiker und wohnen tendenziell eher in urbanen Gebieten. Trotz der internen Zerstrittenheit innerhalb des Bündnisses, das aus dem von Jean-Luc Mélenchon gegründeten LFI, Parti Socialiste, Place Publique, den Grünen (Ecologistes) sowie den Kommunisten besteht, konnte das Bündnis ein gutes Ergebnis erzielen, auch wenn es ohne klares Bekenntnis über einen möglichen Premierminister ins Rennen gegangen war. Meinungsforscher in Frankreich gehen nicht davon aus, dass das Linksbündnis nach dem zweiten Wahlgang am 7. Juli in der Lage sein wird, eine absolute Mehrheit zu stellen, sondern höchstens mit Macrons Lager eine Art Zweckbündnis bilden könnte.

Marine Le Pen gestikuliert nach ihrer Rede, nachdem die Hochrechnungen auf Grundlage der tatsächlichen Stimmenauszählung in ausgewählten Wahlkreisen veröffentlicht wurden

Marine Le Pen nach ihrer Rede, nachdem die Hochrechnungen auf Grundlage der tatsächlichen Stimmenauszählung in ausgewählten Wahlkreisen veröffentlicht wurden.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Thibault Camus

Viele Stichwahlen mit drei Kandidaten

Die Wahlbeteiligung ist mit 66,71% stark gestiegen gegenüber 47,5% im Jahr 2022. So eine hohe Wahlbeteiligung gab es zuletzt 1997. Das System in zwei Wahlgängen, bei dem sich Kandidaten ab 12,5% der Stimmen aller eingetragenen Wähler qualifizieren, favorisiert bei steigender Wahlbeteiligung sogenannte „triangulaire“, also Stichwahlen mit mehr als zwei Kandidaten. Dies könnte potenziell dem Rassemblement National zugutekommen, sollte ein linker und ein Kandidat aus Macrons Lager gegeneinander antreten und sich damit ausstechen. Entsprechend schnell äußerten sich der amtierende Premierminister Gabriel Attal und auch Emmanuel Macron zum Wahlausgang und riefen zu einer „republikanischen Brandmauer“ gegen den RN auf, in dem auf die Kandidatur eines dritten Kandidaten verzichtet werden solle, wenn dadurch der RN an dem Erreichen einer Mehrheit gehindert werden kann. Allerdings bleibt unklar, inwieweit diese Brandmauer auch für die Linksaußenkandidaten von LFI gilt, sprich, ob sich Kandidaten von Macrons Ensemble zugunsten eines LFI-Kandidaten zurückziehen würden. So hatte zwar die macronistische Kandidatin Albane Branlant noch am Wahlabend auf X bekannt gegeben, ihre Kandidatur zugunsten des als gemäßigt geltenden LFI-Abgeordneten François Ruffin zurückzuziehen. Aurore Bergé, Ministerin für Gleichstellung und Antidiskriminierung des Präsidentenlagers, brachte hingegen in der Fernsehdebatte auf France 2 ihre Zurückhaltung gegenüber einigen LFI-Kandidaten LFI zum Ausdruck. Man dürfe nicht für antisemitische und antidemokratische Kandidaten stimmen, was letztendlich einer Fall-zu-Fall Zustimmung seitens der Macronisten gleichkäme. Die Kandidaturen für den zweiten Wahlgang können noch bis Dienstagabend 18 Uhr eingereicht werden.

Anders positionierte sich der Chef der Partei Horizon (Renew Europe) und ehemalige Premierminister Edouard Philippe, der sich ebenfalls für eine republikanische Brandmauer aussprach, aber ausschloss, dass seine Kandidaten sich gegenüber einem LFI-Konkurrenten zurückziehen. Die gleiche Position nahm auch Wirtschaftsminister Bruno le Maire ein. Einmal mehr zeigt sich: Das Präsidentenlager ist nicht auf Linie. Die Entscheidung Emmanuel Macrons, angesichts der desolaten Resultate der Europawahlen Neuwahlen aufzurufen, hat zu viel Unverständnis auch innerhalb des Regierungsbündnisses geführt. Premierminister Attal versuchte noch verzweifelt, Macron von seinen Plänen abzubringen und war bereit, sein Amt zu opfern. Der vertikale Führungsstil Macrons, sein präsidiales Amtsverständnis, das das Parlament in Augen vieler Abgeordneter gegenüber der Regierung klein hält, hat im Laufe der Jahre für Unmut innerhalb der eigenen Reihen gesorgt. So forderte die deutsch-französische Modem-Abgeordnete Sabine Thillaye im Gespräch mit der FAZ kürzlich, endlich das Verhältniswahlrecht einzuführen – eine lang geforderte Maßnahme der zentristischen Modem-Partei (Renew Europe), die bislang auf taube Ohren seitens des Elysée stieß.

Der französische Präsident Emmanuel Macron verlässt die Wahlkabine

Der französische Präsident Emmanuel Macron verlässt die Wahlkabine.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Yara Nardi

Spaltungstendenzen innerhalb des Präsidentenbündnisses

2022 waren die verschiedenen Parteien des Zentrums – die Partei Modem, Macrons Partei Renaissance (ehemals la République en Marche) und die bürgerliche Partei Horizon – noch auf einer gemeinsamen Wahlliste angetreten, konnten aber keine absolute Mehrheit erreichen und mussten in der Folge innerhalb der Nationalversammlung jeweils Mehrheiten für ihre Gesetzesvorhaben suchen. Bei diesen Parlamentswahlen kam es nun aber zu einer stärkeren Distanzierung seitens der Horizon-Partei von Edouard Philippe, der mit Blick auf das potenzielle Machtvakuum ab 2027 und die Frage, welcher Kandidat Emmanuel Macron als französischer Präsident folgen könnte, sicherlich darauf bedacht ist, sich entsprechend als Anwärter zu platzieren. Zwar entschieden die Parteichefs der zentristischen Parteien, unter einem gemeinsamen Banner in den Wahlkampf zu ziehen, allerdings war Philippe darauf bedacht, 82 eigene Kandidaten aufzustellen und sich damit auch finanziell unabhängig von seinen Verbündeten zu machen. Diese Strategie scheint jedoch nur bedingt aufgegangen zu sein, schließlich hat Horizon lediglich 0,7% der Stimmen geholt und 40% seiner Kandidaten wurden nach der ersten Wahlrunde eliminiert.

Wer zieht sich zurück?

Bei dem zweiten Wahlgang am 7. Juli wird es vor allem darauf ankommen, wer sich zurückzieht. LFI-Anführer Jean-Luc Mélenchon hat dazu aufgerufen, die drittplatzierten Kandidaten zurückzuziehen und sich so an der „republikanischen Brandmauer“ zu beteiligen. Keine klare Wahlempfehlung sprachen allerdings die konservativen Républicains aus, die tief gespalten scheinen. So sagte die Vize-Präsidentin der Républicains Florence Portelli bei France 2, dass sie ihren Wählern keine Vorschriften erteilen werde, wen sie wählen sollen, und die Républicains weder für den RN noch für andere Parteien werben würden. Ganz im Gegensatz dazu positionierte sich der sozialdemokratische Europaabgeordnete Raphaël Glucksmann auf X, für den die Wahl ein Referendum über Rechtsextreme ist.

Eine Koalition auf Projektbasis könnte rechnerisch schwierig werden

Sollte der RN nicht die absolute Mehrheit erreichen, wäre eine Art „große Koalition“ zwischen Macrons Lager und der Neuen Volksfront (NFP) denkbar. Doch auch dies könnte schwierig werden angesichts der 70 bis maximal 100 prognostizierten Sitze für Macrons Lager und der vorläufigen Sitzprognosen für NFP, die mit 125 bis 165 Abgeordneten vertreten sein könnte. Es gilt als ausgeschlossen, dass das Präsidentenbündnis mit den LFI-Abgeordneten, die Teil der NFP sind, eine formale Zusammenarbeit eingehen wird.

Macron scheint noch auf einen Achtungserfolg mit bis zu 150 Abgeordneten aus dem eigenen Camp zu hoffen. Allerdings sind diese Prognosen nur bedingt gültig, da sie auf Annahmen beruhen, bei denen die sog. „désistements“, also der Rückzug der Dritt- bzw. Viertplatzierten noch nicht mit eingerechnet ist. Gleichzeitig bereitet Macron sich hinter den Kulissen auf eine Machtübernahme seitens des RN vor. Eine Interpretation von Macrons ‚Coup‘, vorgezogenen Neuwahlen auszurufen, besteht schließlich darin, dem RN jetzt bewusst an die Macht zu helfen, um seine Regierungsunfähigkeit zu demonstrieren und damit einen Wahlsieg des RN bei den Präsidentschaftswahlen 2027 zu vermeiden. In den letzten Wochen hat er innen- und europapolitisch wichtige politische Figuren platziert: mit Alexandre Adam als stellvertretendem Kabinettschef Ursula von der Leyens und seinem Vorschlag, den französischen Binnenmarktkommissar Thierry Breton erneut kandidieren zu lassen sowie der Besetzung von Spitzenposten in Militär und Außenamt. Potenzielle Schadensbegrenzung sozusagen.

Besorgte Reaktionen aus Deutschland

Mit Anspannung wurden die Ergebnisse der ersten Wahlrunde in ganz Europa beobachtet. Insbesondere in Deutschland herrscht große Sorge darüber, dass ein möglicher Wahlsieg der Rechtsextremen die mühsam erarbeiteten Fortschritte der deutsch-französischen Beziehungen zunichtemachen könnte. Dies betrifft zum einen die parlamentarische Zusammenarbeit innerhalb der Deutsch-Französisch-Parlamentarischen Versammlung, die Ende Juni tagen sollte und deren Arbeitsgruppen durch die Neuwahlen nun aber ausgesetzt sind. Die deutschen Parlamentarier werden unabhängig von der Frage, ob der RN die absolute Mehrheit erhält, mit weit mehr Parlamentariern aus dem rechtsextremen Spektrum rechnen müssen, was die ohnehin schon herausfordernde Zusammenarbeit (das Verständnis der Rolle der Parlamente unterscheidet sich in beiden Ländern sehr) weiter erschwert bis verunmöglicht. Diese Sorge äußerte beispielsweise auch die FDP-Politikerin Sandra Weeser, Deutsch-Französin und Mitglied des Vorstands der DFPV in einem Austausch.

Doch auch wenn das Schreckensszenario RN noch abgewendet werden könnte, stehen Frankreich und damit der deutsch-französischen sowie europapolitischen Zusammenarbeit schwere Zeiten bevor. Schließlich kennt Frankreich – im Gegensatz zu Deutschland – keine Regierungsarbeit, die auf Koalitionen mehrerer Parteien beruht. Eine Vereinbarung der republikanischen Kräfte, bestehend aus dem Präsidentenbündnis (Renaissance, Modem, Horizon) sowie Teilen der neuen Volksfront (wahrscheinlich unter Ausschluss der Linksaußenpartei La France Insoumise) sowie möglicherweise einigen Républicains, würde ein äußerst heterogenes Gebilde darstellen; Instabilität wäre vorprogrammiert. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass zumindest auf europapolitischer Ebene ein solcher Schulterschluss zwischen verschiedenen französischen Parteien durchaus immer mal wieder funktioniert, wie der Europaabgeordnete Jan-Christoph Oetjen, Vizepräsident des Europaparlaments, im Interview mit Le Point als Reaktion auf die Wahlergebnisse deutlich macht.  

Schließlich zeigt die Wahl auch einmal mehr, wie schwer sich in Frankreich eine politische Kultur der gemäßigten Mitte durchsetzen lässt. Emmanuel Macron ist 2017 mit dem Wahlversprechen angetreten, weder rechts noch links zu sein und hat mit seiner politischen Bewegung die Erosion der traditionellen Volksparteien Parti Socialiste und Républicains weiter vorangetrieben. Es scheint, als hätte sich mit dem RN, das immer stärker in bürgerliche Schichten vordringt, und dem Pakt zwischen PS und LFI eine Neukonfiguration der Rechts-Links-Spaltung ergeben, die wiederum keinen Platz für eine moderate Mitte-Partei lässt. Immer wieder wird Macrons Politikstil medial als entweder rechts oder links kategorisiert. Diese Bipolarisierung ist für das politische Verständnis der Franzosen letztlich konstitutiv. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Wette mit der republikanischen Brandmauer erneut bewahrheitet, da sonst mit Blick auf einen Wahlsieg des RN oder einer blockierten Fünften Republik Frankreich als politischer Partner Deutschlands nachhaltig geschwächt sein wird.

Jeanette Süß ist seit März 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienkomittee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) des französischen Instituts für internationale Beziehungen (Ifri). Zuvor war sie als European Affairs Managerin beim Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, wo sie unter anderem die Frankreich-Projekte der Stiftung betreute.