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Krieg in Europa
Südasien leidet unter wirtschaftlichen Verwerfungen – kleinere Länder fürchten um ihre Souveränität

Protest Indien
© Arun Kumar via Shutter stock

Ihre Unabhängigkeit feierten die Inder mit Freundschaftsgrüßen aus Moskau. Indien genieße zu Recht eine wichtige Rolle auf der Weltbühne, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin anlässlich des 75. Jahrestags der Staatsgründung Mitte August. Die russisch-indischen Beziehungen entwickelten sich ganz im Geiste einer "privilegierten strategischen Partnerschaft", lobte der Kremlchef. Er sei sich sicher, dass die Zusammenarbeit beider Länder die "regionale und globale Sicherheit" weiter fördere.

Putins zur Schau gestellte Zuneigung zu Indien hat ihren Grund: In dem ersten halben Jahr seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat sich das südasiatische Land für den Kreml als wichtige diplomatische und wirtschaftliche Stütze erwiesen. Die Regierung in Neu-Delhi lehnt es nach wie vor ab, Russlands Verhalten zu verurteilen – und widersetzte sich dem westlichen Druck, Sanktionen gegen die Führung in Moskau einzuführen. Während sich Europa und Amerika bemühen, Russland zu isolieren, baut Indien seine Verbindungen nach Moskau kräftig aus – und stützt mit umfangreichen Energieimporten den russischen Staatshaushalt.

Mit der Reaktion ist Indien in Südasien nicht alleine: Die beiden bevölkerungsreichen Nachbarn – Pakistan und Bangladesch – wollen ungeachtet des Krieges in der Ukraine gute Beziehungen zu Russland aufrechterhalten. Imran Khan, der zu dem Zeitpunkt noch Pakistans Regierungschef war, besuchte Wladimir Putin gar am Tag des Einmarschs in der Ukraine. Komplette Einigkeit besteht in der Region jedoch nicht. Mehrere kleinere Staaten haben sich von dem russischen Vorgehen klar distanziert. Der Spalt, der sich durch Südasien zieht, wurde Anfang März besonders deutlich, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen über eine Resolution abstimmte, wonach "die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine auf das Schärfste missbilligt" werde. 141 Staaten stimmten dem Text zu – darunter Nepal, die Malediven und Bhutan. Sri Lanka zählte wie Pakistan, Bangladesch und Indien zu den 35 Enthaltungen.

Indien bemühte sich in den vergangenen Monaten, klarzustellen, dass diese Enthaltung nicht als indirekte Unterstützung des russischen Einmarsches verstanden werden sollte. Stattdessen reklamiert die Regierung in Neu-Delhi in dem Konflikt Neutralität für sich. Premierminister Narendra Modi forderte mehrfach beide Seiten zu einem Waffenstillstand auf. Dialog sei der einzige Weg zur Lösung des Konfliktes, sagte der Regierungschef bei einem Deutschlandbesuch im Mai. Modi telefonierte seit Kriegsbeginn sowohl mit dem russischen Präsidenten Putin als auch mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Auch Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar hält Kontakt mit seinen Amtskollegen aus den beiden Ländern. In einem Gespräch mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba versprach er weitere humanitäre Hilfen aus Indien für das angegriffene Land.

Indien sieht sich allerdings auch selbst als Betroffenen des Konflikts. Modi beklagte, dass es in der Folge zu Nahrungsmittelengpässen gekommen sei und dass die Preise für Energie "in astronomische Höhen geschossen" seien. Ärmere Länder seien davon besonders stark betroffen. Am heftigsten fielen die Verwerfungen in Sri Lanka aus. Der Inselstaat im Indischen Ozean war bereits vor Kriegsbeginn wirtschaftlich schwer angeschlagen. Die Kostenexplosion bei Öl- und Nahrungsmittelimporten machte eine Staatspleite schließlich unvermeidbar. Das Land schlitterte dadurch in eine schwere politische und humanitäre Krise.

Von ähnlich drastischen Folgen blieb Indien zwar verschont. Die Regierung sah es dennoch als ökonomische Notwendigkeit, sich mit Hilfe von russischen Energieimporten gegen die schädlichen Auswirkungen des Konflikts zu wappnen. Weil die Nachfrage nach russischem Öl im Westen massiv zurückging, konnte Indien beim Kauf erhebliche Preisnachlässe durchsetzen. Zeitweise lagen sie im Vergleich zu saudi-arabischem Rohöl bei 19 Dollar per Barrel.  Für die indischen Raffinerien stieg Russland in der Folge von einem noch im vergangenen Jahr relativ unbedeutenden Lieferanten zum zuletzt zweitwichtigsten auf. Im Juni bezog Indien nur aus dem Irak noch mehr Öl. Auch Kohlelieferungen aus Russland stiegen kräftig an. Im Juli importierte Indien aus dem Land die Rekordmenge von mehr als zwei Millionen Tonnen.

Im Westen sieht sich Indien mit dem Vorwurf konfrontiert, durch die Energiegeschäfte indirekt Russlands Krieg mitzufinanzieren. Die Regierung in Neu-Delhi empfindet diese Sichtweise jedoch als ungerecht – besonders mit Blick auf Europas anhaltende Energieimporte aus Russland: "Ich will jetzt nicht streitlustig klingen", sagte Außenminister Jaishankar bei einer Konferenz in Bratislava im Juni auf eine entsprechende Frage. "Aber ist es wirklich nur das indische Geld, das den Krieg finanziert – nicht aber die Gaslieferungen an Europa?", fragte er rhetorisch. Jaishankar kritisierte zudem, dass der Westen auch Ölgeschäfte mit dem Iran und Venezuela erschwere: Europa und Amerika hätten alle alternativen Ölquellen abgeklemmt. "Jetzt sagen sie uns, dass wir nicht den besten Deal für unser Volk aushandeln dürfen – ich denke nicht, dass das ein fairer Ansatz ist."

Die massiven Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf ihre Energieversorgung rückten zuletzt auch für die anderen Schwellenländer der Region in den Fokus. Sowohl Pakistan als auch Bangladesch stehen angesichts stark gestiegener Weltmarktpreise und akuter Engpässe bei der Lieferung fossiler Energieträger vor großen Problemen. Bangladesch sah sich zuletzt gezwungen, die normalerweise stark subventionierten Treibstoffpreise um 50 Prozent zu erhöhen. Tausende Menschen protestierten in der Hauptstadt Dhaka Anfang August gegen die Entscheidung. Die Regierung betonte, dass sie aufgrund der angespannten Marktlage keine andere Wahl habe.

Das fast 170 Millionen Einwohner große Land leidet seit Wochen auch an großen Problemen bei der Elektrizitätsversorgung und landesweiten Stromausfällen. Ein Grund dafür ist der stark gestiegene Wettbewerb um Flüssigerdgas (LNG). Der per Schiff importierte Energieträger deckte in der Vergangenheit ein Fünftel von Bangladeschs Gasbedarf ab. Doch in den vergangenen Monaten wurden die Lieferungen zunehmend nach Europa umgeleitet, wo LNG als Alternative zum Gas aus russischen Pipelines genutzt wird. Die Preise sind inzwischen so hoch, dass sich Bangladesch nicht mehr leisten kann, mitzubieten. "Die Lieferanten versorgen lieber die Hochpreismärkte in Europa", kritisierte Golam Moazzem, Ökonom am Centre for Policy Dialogue in Dhaka. "Wir werden vom Markt verdrängt, was Millionen Menschen in die Dunkelheit stürzt."

Auch Pakistan ist von dem LNG-Engpass betroffen. Mehrere Kraftwerke mussten den Betrieb einstellen, weil ihnen die Brennstoffe fehlen. Im Juli stand ein Viertel der Stromproduktionskapazitäten in dem Land nicht zur Verfügung. Regelmäßige, stundenlange Stromausfälle sind die Folge. Angesichts der Probleme erwägen sowohl Pakistan als auch Bangladesch, Indiens Beispiel zu folgen und die Energieimporte aus Russland auszuweiten. Die Regierung in Islamabad teilte mit, Pakistan sei "offen für die Idee, billiges Öl aus Russland zu importieren" – vorausgesetzt man käme dadurch nicht ins Visier westlicher Sanktionen. In Bangladesch beauftragte Regierungschefin Sheikh Hasina ihr Kabinett, Ölgeschäfte mit Russland vorzubereiten. "Die Premierministerin sagte: Wenn Indien Treibstoff aus Russland importieren kann, warum können wir das nicht auch?", zitierte ein Minister aus einer Sitzung des Nationalen Wirtschaftsrats.

Bangladesch pflegt ebenso wie Indien seit Jahrzehnten enge Beziehungen zur Regierung in Moskau. 1971 unterstützte die Sowjetunion die Unabhängigkeit des Landes von Pakistan. Seither kooperieren die beiden Länder unter anderem in der Sicherheitspolitik. Anfang des Jahres beschloss das Verteidigungsministerium in Dhaka, Bangladeschs Armee mit in Russland gefertigten AK-15-Sturmgewehren auszurüsten. Im Fall Indiens ist die Rüstungskooperation mit Russland noch stärker ausgeprägt: Der überwiegende Teil der indischen Militärausrüstung stammt aus Russland. Für mehr als fünf Milliarden Dollar hat Indien zudem russische Luftabwehrsysteme des Typs S-400 erworben, die bis 2023 vollständig geliefert werden sollen.

Mit Blick auf die angespannte Sicherheitslage im Verhältnis zu seinen Nachbarn China und Pakistan sieht sich Indien nicht in der Lage, auf russische Rüstungsgüter zu verzichten. Die indische Diplomatin Bhaswati Mukherjee warb in einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung um Verständnis dafür, dass ihr Land in der Frage seinen nationalen Interessen folge. "Wir sind abhängig von russischen Waffenlieferungen", sagte die frühere indische Botschafterin in den Niederlanden.

Während für Südasiens große Volkswirtschaften der Schutz der bisherigen Beziehungen zu Russland im Umgang mit dem Ukraine-Krieg im Vordergrund stand, dominierten bei den kleineren Ländern völkerrechtliche Überlegungen. "Dass ein Staat in ein souveränes Nachbarland einmarschiert, ist für die internationale Gemeinschaft inakzeptabel", erklärte der bhutanische Journalist Gopilal Acharya. Sein Land, das im Norden an China und im Süden an Indien grenzt, sei durch die Invasion daran erinnert worden, wie verwundbar kleine Staaten sind, wenn das Völkerrecht missachtet wird. Auch die Malediven begründeten ihre Verurteilung des russischen Angriffskriegs mit der außenpolitischen Grundsatzhaltung, dass die Souveränität aller Staaten geachtet werden müsse. Als kleiner Inselstaat stünden die Malediven fest zu diesem Prinzip, sagte Präsident Ibrahim Mohamed Solih.

In Nepal, das sich in der UN-Vollversammlung ebenfalls gegen den russischen Angriffskrieg stellte, wird die Invasion der Ukraine als Zeitenwende betrachtet. "Eine Auswirkung des Krieges ist das zunehmende Bedrohungsgefühl, das kleine Länder mit Blick auf ihre großen Nachbarn empfinden", kommentierte Bishnu Raj Upreti, der die lokale Denkfabrik Policy Research Institute (PRI) leitet. In einem Bericht seines Instituts über die Folgen des Krieges heißt es: "Aus geopolitischer Sicht befindet sich Nepal ebenso wie die Ukraine in einer heiklen Situation." Auch Nepal grenzt an Indien und China – und damit an zwei militärisch deutlich überlegene Länder.

Nepals Verurteilung des russischen Einmarschs in der Ukraine löste im Land eine Debatte darüber aus, ob die Positionierung aufseiten der westlichen Staaten einen Verstoß gegen die traditionelle Politik der Blockfreiheit darstelle. Befürchtet wurde, dass die Nachbarn China und Indien dies als Affront betrachten könnten. PRI-Chef Upreti glaubt jedoch, dass die Regierung zurecht eine prinzipientreue Haltung in der Situation eingenommen habe. Der Report seines Instituts legt aber nahe, dass Nepal seine Position Indien und China besser erklären müsse, um Missverständnisse zu vermeiden. Die wichtigste Lektion aus dem Ukraine-Krieg sei für kleinere Länder wie Nepal aus Upretis Sicht, dass sie sich deutlich besser darauf vorbereiten müssten, in den zunehmend unruhigen Gewässern der Geopolitik zu navigieren.

 

https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressestatements-von-bundeskanzler-scholz-und-premierminister-modi-bei-den-6-deutsch-indischen-regierungskonsultationen-am-2-mai-2022-2029916

 

https://www.bloomberg.com/news/articles/2022-08-04/russia-undercuts-saudi-oil-in-india-as-competition-heats-up

 

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