Israel
Ein liberaler Premier auf Zeit
Durch die geplante Auflösung der Knesset beruft der aktuelle Koalitionsvertrag den Liberalen Yair Lapid zum Premierminister Israels bis zu den Neuwahlen im Oktober und zur nächsten Regierungsbildung. Damit wird entgegen der traditionell regierenden linken und rechten Lager zum dritten Mal in der Geschichte Israels ein Politiker der Mitte Premierminister. Der Wechsel der Regierungsführung vom Rechten Naftali Bennet zum Liberalen Yair Lapid ist ein Ergebnis des Scheiterns ihrer Koalition der Nationalen Einheit gegenüber rechten Mehrheiten.
Die ideologisch diverseste Regierung seit Staatsgründung war 2021 angetreten, die aufgehetzte Stimmung und Polarisierung der Netanjahu-Jahre durch eine Koalition der Vernunft und des Kompromisses zu ersetzen. Zum ersten Mal hatte sich eine arabische Partei, die moderat islamistische Ra’am Partei unter Mansour Abbas, entschieden, sich an einer israelischen Regierung zu beteiligen. Und zum ersten Mal hatten durch die Gegnerschaft zu Benjamin Netanjahu und durch das Verhandlungsgeschick von Yair Lapid Säkulare und Religiöse, Linke, Rechte und das liberale Zentrum zu einer Regierung zusammengefunden.
Mit dem jetzigen Zerfall dieser Koalition scheint auf den ersten Blick die radikale Oppositionspolitik von Benjamin Netanjahu erfolgreich gewesen zu sein. Seine Taktik, entgegen eigenen ideologischen Prinzipien auch rechte Gesetzvorhaben bedingungslos zu torpedieren, konnte rechtliche Unsicherheiten schaffen, der Regierung die Unterstützung einzelner Abgeordneter entziehen und so die knappe Mehrheit der Regierungskoalition kappen. Nach aktuellen Umfragen könnte seine rechtspopulistische Likud-Partei ihren Vorsprung als stärkste Fraktion auf 35-36 der 120 Knessetsitze ausbauen.
„Trotz aller Schönrederei wird er keine 61 Stimmen zusammenbringen, genauso wenig wie nach der letzten Wahl“
Aber vielleicht bleibt der vermeidliche Sieg Netanjahus nur ein Pyrrhus-Sieg. Denn Gideon Sa’ar, ehemaliger Likud-Politiker und Justizminister in der aktuellen Regierung, bringt das Ergebnis der Umfragen für Netanjahu auf den Punkt: „Trotz aller Schönrederei wird er keine 61 Stimmen zusammenbringen, genauso wenig wie nach der letzten Wahl.“ Die aktuellen Umfragen zeigen, dass die Likud-Partei mit ihren festen Koalitionspartnern der nationalreligiösen „Religiösen Zionisten“ (9 Sitze) und den ultraorthodoxen Parteien Shas (8 Sitze) und Vereinigtes Thora-Judentum (7 Sitze) keine Regierungsmehrheit zusammenbringt.
Nach den Umfragen könnte auch die liberale Partei Yesh Atid („Es gibt eine Zukunft“) von Yair Lapid, Mitglied der Liberalen Internationalen, ihre Position als zweitstärkste Fraktion von 17 auf 20 bis 22 Sitze ausbauen. Der vor knapp über einem Jahr politisch für tot erklärte Verteidigungsminister Benny Gantz kann nach der Mehrzahl der Umfragen einen neunten Sitz mit seiner liberal-konservativen „Blau-Weiß“-Partei gewinnen. Anders als von vielen Analytikern vorhergesagt, würde auch Mansour Abbas mit Ra’am seine vier Sitze erfolgreich verteidigen. Er scheint damit - auch wegen vorzeigbarer Erfolge in der kurzen Regierungsbeteiligung - einen großen Teil der arabischen Wählerschaft Israels davon überzeugt zu haben, konstruktiv mit einer zionistischen Regierung kooperieren zu können.
Die linken Koalitionspartner Avoda („Arbeit“) und Meretz („Tatkraft“) verlieren nach den Umfragen jeweils 1 bis 2 Sitze, erklärbar durch die Enttäuschung linker Wähler, dass im Friedensprozess mit den Palästinensern keine Fortschritte gemacht wurden. Das Thema war aufgrund der großen ideologischen Differenzen von Beginn der Koalition an bewusst ausgeklammert worden. Aber die Kompromisse bei der Siedlungspolitik (einzelne, besonders umstrittene Siedlungen durften nicht ausgebaut werden, andere aber doch) oder bei Verhandlungsprozessen (Bemühungen um einen neuen Dialog mit der Palästinensischen Autonomiebehörde durch Verteidigungsminister Benny Gantz und Außenminister Yair Lapid, bei gleichzeitiger Absage an die Zweistaatenlösung durch Premierminister Naftali Bennet) konnten auch keine großen Hoffnungen schüren.
Benjamin Netanjahu kann besiegt werden
Die rechten Koalitionspartner Israel Beteinu („Unser Haus Israel“) des Finanzministers Avigdor Liberman, Yamina („Rechts“) des bisherigen Premierministers Naftali Bennet und Tikwa Chadascha („Neue Hoffnung“) des Justizministers Gideon Sa’ar drohen nach denselben Umfragen jeweils Verluste von 2-3 Sitzen. Denn auch rechte Wählerschaften hatten sich auf eine Positionierung gegen Benjamin Netanjahu einigen können, aber bleiben derzeit enttäuscht über die ausbleibende Durchsetzungsfähigkeit rechter Anliegen in der Kompromissfindung der Regierung.
Doch bis zum voraussichtlichen Wahltag im Oktober und darüber hinaus bleibt die aktuelle Regierung unter der neuen Führung von Yair Lapid im Amt. Und das bedeutet, dass ihr noch wichtige Monate der Regierungsführung bleiben, die ihr Vorteile im Wahlkampf verschaffen können. Yair Lapid hatte bereits vor einem Jahr gezeigt, dass das politische Genie und die Dominanz Benjamin Netanjahus besiegt werden kann. Er hatte in kurzer Zeit als Außenminister neue Unterstützung aus Europa und den Vereinigten Staaten erreichen und die Beziehungen mit arabischen Nachbarländern weiter ausbauen können. Damit hatte er nach seinem Verhandlungsgeschick bei der Regierungsbildung auch auf dem internationalen Parket bewiesen, Netanjahu das Wasser reichen zu können.
Bei den knappen Mehrheiten der israelischen Politik könnte Lapid bei erfolgreicher Regierungsführung in den kommenden Monaten weitere Stimmen gewinnen und sich damit auch im Herbst wieder eine Regierungsmehrheit sichern. Aber auch er weiß, dass ein echter Paradigmenwechsel aus der aktuellen Pattsituation zwischen den polarisierten Lagern nur durch die Mobilisierung arabischer Wähler entstehen kann. Die unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung in arabischen Siedlungsgebieten von 44,6 % gegen den nationalen Durchschnitt von 67,4 % bei der Wahl im vergangenen Jahr zeigen ein unausgeschöpftes Wählerpotenzial. Wären Araber entsprechend ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung in der Knesset vertreten, würden sie mit über 25 Mandaten schon heute als zweitstärkste Kraft zum Königsmacher werden.
Der israelischen Regierung unter Yair Lapid bleiben damit kostbare Monate, eigene Vorhaben von liberalen Wirtschaftsreformen bis zu gesellschaftspolitischen Weichenstellungen vorwärtszubringen. In einer Pressekonferenz am Montag betonte Yair Lapid: “Vor einem Jahr haben wir den Prozess des Wiederaufbaus begonnen. Jetzt führen wir diesen weiter und zwar gemeinsam.” Auf dem Podium neben dem bisherigen Premierminister Naftali Bennett fügte er klare Worte gegen die Polarisierung radikaler Kräfte, aber auch durch Netanjahu hinzu: “Was wir heute tun müssen, ist eine Rückkehr zum Konzept der israelischen Einheit zu wagen - und uns nicht von dunklen Kräften von innen zerreißen zu lassen. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir uns gegenseitig lieben, unser Land lieben, und dass wir es nur gemeinsam schaffen können.” Mit etwas Glück darf die israelische Regierung unter Yair Lapid die ersten Ergebnisse ihrer Reformen in der Außen-, Fiskal- und Handelspolitik ernten. Denn jenseits der Bewertung von Benjamin Netanjahu wird die Regierung an der Wahlurne nach einer Verbesserung der sozio-ökonomischen Verhältnisse beurteilt werden. Mit etwas Glück darf die Regierung bereits die ersten Ergebnisse ihrer Reformen in der Außen-, Fiskal- und Handelspolitik ernten. Denn jenseits der Bewertung der Person und Persönlichkeit Benjamin Netanjahus wird die Aussicht auf Verbesserung der sozio-ökonomischen Verhältnisse die Entscheidung der Bürger an den Wahlurnen bestimmen.
Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Jerusalem.