Südafrika
Schicksalswahlen am Kap der guten Hoffnung: Ein Wendepunkt nach 30 Jahren Demokratie?
Am 29. Mai 2024 schreitet Südafrika an die Wahlurnen, um über die künftige Zusammensetzung des Parlaments und der Provinzregierungen zu entscheiden. Diese Wahl ist von historischer Tragweite, da sie das 30-jährige Jubiläum der ersten demokratischen Wahlen markiert und inmitten erheblicher politischer und sozialer Umwälzungen stattfindet. Nach drei Jahrzehnten Demokratie steht in diesem Jahr zum ersten Mal wirklich viel auf dem Spiel. Umfragen deuten darauf hin, dass der regierende African National Congress (ANC), der einst unter der berühmten Führung von Nelson Mandela stand, nach 30 Jahren ununterbrochener Macht seine Mehrheit verlieren könnte.
Von der Hoffnung zur Ernüchterung: 3 Jahrzehnte Demokratie in Südafrika
1994 erlebte Südafrika seine ersten freien Wahlen, die das Ende der Apartheid und den Beginn einer neuen Ära der Demokratie einläuteten. Unter der Führung von Nelson Mandela versprach der ANC, das Land in eine Regenbogennation zu verwandeln und garantierte „ein besseres Leben für alle!“ (Wahlkampfversprechen in 1994: A better life for all!). Heute, 30 Jahre später, ist die anfängliche Euphorie vielerorts einer tiefen Enttäuschung gewichen. Die Ursachen für die teilweise als gescheitert bezeichnete Demokratie sind in den lokalen Lebensbedingungen zu finden: Trotz der Tatsache, dass Südafrika die stärkste Volkswirtschaft des Kontinents ist, haben viele seiner Bürger mit gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu kämpfen, so hat der südafrikanische Rand allein in den letzten 10 Jahren in der Spitze 66% an Wert gegenüber dem Euro verloren. Nach anfänglicher Euphorie – viele Südafrikaner hatten Dank des ANCs zum ersten Mal ein politisches Mitspracherecht, während sie vorher als reine Arbeitskräfte für den perfiden Apartheidsapparat dienten – waren insbesondere die letzten Jahre für viele augenöffnend: massive Ungleichheit, hohe Arbeitslosigkeit und eine marode öffentliche Infrastruktur. Die Wahl bietet daher eine Gelegenheit, die politische und wirtschaftliche Ausrichtung des Landes kritisch zu hinterfragen und notwendige Reformen anzustoßen.
Spannungen und Hoffnungen: Die aktuelle politische Stimmungslage
Die politische Stimmung in Südafrika ist angespannt. Der ANC, einst unangefochten, sieht sich wachsender Kritik und schwindender Unterstützung gegenüber. Lange als Garant für Stabilität und Fortschritt betrachtet, muss die Partei nun mit der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung über Korruption, Arbeitslosigkeit und eine marode Infrastruktur kämpfen. Die Arbeitslosenquote ist alarmierend hoch. Im ersten Vierteljahr 2024 betrug die offizielle Quote 41,9%, für die 15–35-Jährigen wurde sogar eine Arbeitslosenquote von 43,8% verzeichnet, was zu massiver Frustration führt. Oppositionsparteien wie die liberale DA und die linkspopulistische EFF setzen mit ihrem Wahlprogramm geschickt an diesen wunden Stellen an und machen sich große Hoffnungen auf bedeutende Stimmenzugewinne.
Auch kleinere neue Parteien, bei denen es sich hauptsächlich um Abspaltungen der DA sowie des ANC handelt, wie ActionSA, Build One South Africa (BOSA), Rise Mzansi und die Inkatha Freedom Party (IFP) gewinnen zunehmend an Bedeutung. (Eine Übersicht über die verschiedenen Parteien finden Sie hier). Durch geschickte Wahlkampfstrategien und spezifische Koalitionsoptionen könnten sie bei der Regierungsbildung eine entscheidende Rolle spielen.
Die Aussicht auf mögliche Koalitionsregierungen und die Ungewissheit über den Ausgang der anstehenden Wahl machen den Wahlkampf für die Parteien nicht einfach. Die Bürger zeigen ein Interesse so groß wie nie zuvor an den Wahlprogrammen der Parteien, den sogenannten Manifestos. Bisher standen häufig die jeweiligen Parteiführer im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, doch nun rücken die konkreten politischen Inhalte und Versprechen stärker in den Fokus der Wählerinnen und Wähler. Diese Entwicklung zeigt eine zunehmende politische Reife und das Bestreben, gut informierte Entscheidungen bei der Stimmabgabe zu treffen.
Politische Landschaft im Wandel: Entwicklungen seit den letzten Wahlen
Seit den letzten Wahlen hat Südafrika eine Reihe signifikanter Ereignisse und Entwicklungen erlebt, die das politische und soziale Gefüge des Landes geprägt haben. Politische Skandale, darunter wiederholte Korruptionsvorwürfe gegen hochrangige Mitglieder des ANC und die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma wegen Missachtung des Gerichts, haben das Vertrauen in die politische Führung endgültig erschüttert. Hinzu kommen wirtschaftliche Herausforderungen, wie ein Rekordhoch bei den geplanten Stromabschaltungen (Loadshedding) – so gab es im Jahr 2023 an 335 Tagen Loadshedding, die südafrikanische Zentralbank geht davon aus, dass die Abschaltungen das Land 2 Prozentpunkte des ohnehin geringen Wirtschaftswachstums gekostet haben – und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, die die sozialen Spannungen im ohnehin ungleichsten Land der Welt weiter verschärft haben. Während im Februar im Rahmen der Rede zur Lage der Nation das Land noch mehrere Stunden Loadshedding pro Tag verzeichnete und der Präsident versprach, dass noch bis zum Ende des Jahres die Stromabschaltungen Geschichte wären, wird das Land nun tatsächlich seit Ende März ununterbrochen mit Strom versorgt. Kritiker vermuten, dass es sich dabei um strategischen Wahlkampf handeln könnte. Tatsächlich erhärten sich jedoch die Hinweise, dass die Investitionen in erneuerbare Energien durch private Haushalte und Unternehmen den staatlichen Stromanbieter Eskom entlasten und sich diese bereits sichtbar auszahlen.
Öffentliche Meinungen und Umfragen vor der Wahl
Im Vorfeld der anstehenden Wahlen zeichnet sich ein Bild einer zunehmend fragmentierten Wählerschaft ab, die inmitten wachsender Unsicherheit und politischer Unentschlossenheit nach Alternativen sucht. Das Vertrauen in das politische Establishment schwindet, während eine Politikverdrossenheit aufgrund steigender Frustration und Enttäuschung über die bestehende Demokratie droht. Die langjährige Dominanz einer einzelnen Partei steht möglicherweise vor dem Ende, da Umfragen darauf hindeuten, dass der ANC erstmals seit seiner Regierungsübernahme vor 30 Jahren unter die 50-Prozent-Marke fallen könnte. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass der ANC bei etwa 47% der Stimmen landen könnte, wobei zwischenzeitlich einige Prognosen sogar einen Rückgang auf unter 40% vorhersagten. Dennoch bleibt der ANC als ehemalige Freiheitsbewegung und als Retter aus der Apartheid insbesondere in ländlichen Gebieten weiterhin stark verankert. Die DA könnte indes bis zu 26% der Stimmen erzielen und hofft laut ihrem Wahlslogen „Rescue South Africa“ Südafrika nach Jahren der ANC-Regierung retten zu können. Die finalen Tage vor der Wahl sind von entscheidender Bedeutung, da viele Wähler laut Umfragen noch immer unschlüssig sind, wem sie ihre Stimme geben sollen. Hinzu kommt die jüngste Entscheidung des südafrikanischen Verfassungsgerichts vom 20. Mai, die Ex-Präsident Zuma die Kandidatur für die neugegründete Partei MK untersagt hat, was die politische Landschaft zusätzlich in Bewegung versetzt.
Wahlvorbereitungen durch die Unabhängige Wahlkommission
Die unabhängige Wahlkommission, die sogenannte Independent Electoral Commission (IEC), ist entschlossen, einen reibungslosen Ablauf sowie transparente und faire Bedingungen der Wahlen sicherzustellen. Die IEC hat umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um die Logistik zu verbessern und frühere Herausforderungen anzugehen, was das Vertrauen in den demokratischen Prozess stärken soll.
Am 17. und 18. Mai durften bereits die im Ausland lebenden Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben. Unter der Leitung von Chief Electoral Officer Sy Mamabolo hat die IEC den Prozess für die Stimmabgabe außerhalb des Landes transparent dargelegt und damit die Bedenken derjenigen zerstreut, die mit dem Verfahren zur Stimmabgabe im Ausland nicht vertraut sind.
Prognosen und mögliche Ergebnisszenarien
Einschätzungen von Experten und Analysten zu den Wahlergebnissen
Politische Analysten gehen davon aus, dass der ANC bei diesen Wahlen zum ersten Mal in seiner 30-jährigen Regierungsgeschichte unter die 50%-Marke fallen könnte. Umfragen von Ipsos und der Brenthurst Foundation zeigen, dass die Unterstützung für den ANC zwischenzeitlich auf 40,2% bzw. 39% gesunken war. In den letzten Wochen sind diese Werte jedoch wieder etwas angestiegen. Momentan geht man von 47% der Stimmen für den ANC aus. Dies könnte den Weg für eine Koalitionsregierung ebnen. Während die DA und die EFF Zugewinne erwarten, auch wenn dabei Ungewiss ist, ob die DA ihr Wahlergebnis von 2019 in Höhe von 21% überbieten kann und die EFF bei momentan rund 11% liegen, bleibt die Möglichkeit bestehen, dass sich der ANC, wenn nicht sogar alleine, so doch mit nur einem kleinen Koalitionspartner die absolute Mehrheit der Stimmen sichern könnte.
Investoren scheinen derweil eine klare Präferenz für politische Kontinuität zu haben. Der südafrikanische Rand hat in den letzten zehn Tagen eine Aufwertung von rund 2% gegenüber dem Euro erlebt. Diese Entwicklung fällt exakt mit den zuletzt gesteigerten Umfrageergebnissen des ANC zusammen. Ob dieser Trend über die Wahlen hinaus Bestand haben wird, hängt sicherlich vom konkreten Ergebnis ab.
Mögliche Koalitionen und ihre Auswirkungen auf die Regierungsbildung
Sollte der ANC keine absolute Mehrheit erreichen, könnten verschiedene Koalitionsszenarien in Betracht kommen. Während der ANC möglicherweise auf die größeren Oppositionsparteien DA oder die EFF angewiesen sein könnte, hat die DA für ihr bevorzugtes Szenario bereits eine Multi-Party Charter initiiert, die eine Koalition mit mehreren kleinen Oppositionsparteien vorsieht, jedoch die EFF ausschließt. Eine Koalition würde komplexe Verhandlungen und erhebliche Kompromisse erfordern, einschließlich der Verteilung von Kabinettsposten und der Festlegung gemeinsamer legislativer Ziele. Wirklich herausfordernd dürfte im Rahmen dessen jedoch sein, die Koalitionsverhandlungen in einem Zeitraum von nur 14 Tagen abzuschließen, wie man am Beispiel Deutschlands sieht.
Szenarien für den Fall, dass keine Partei eine klare Mehrheit erhält
Falls keine Partei eine klare Mehrheit erreicht, könnte dies im Land, welches bislang wenig Erfahrung mit Koalitionsregierungen hat, zu politischer Instabilität und möglicherweise zu vorgezogenen Neuwahlen führen. Der ANC könnte gezwungen sein, entweder informelle Abkommen mit kleineren Parteien einzugehen oder formelle Koalitionen zu bilden, um seinen Platz in der Regierung zu sichern. Im schlimmsten Fall könnten sich Szenarien abzeichnen, in denen der ANC mit den EFF und der MK koaliert, was von Analysten als „Doomsday-Koalition“, also Weltuntergangskoalition, bezeichnet wird. Dies würde verschiedene Fraktionen des ANC zusammenbringen und basiert auf der Annahme, dass der derzeitige "gute" ANC durch den Beitritt dieser „radikalen Abtrünnigen“ negativ beeinflusst wird. Ein solches Bündnis könnte erhebliche negative Auswirkungen auf die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes haben.
Ausblick auf die Wahl und die unmittelbare Zukunft
Während bei den letzten beiden Wahlzyklen die Wahlbeteiligung zurückging, zeigt die Rekordzahl von 27,79 Millionen registrierten Wählern (etwa 70% der Wahlberechtigten) für die siebte allgemeine Wahl Südafrikas seit dem Ende der weißen Minderheitsherrschaft das hohe Interesse der Bevölkerung, trotz der Herausforderungen und Enttäuschungen, die die letzten Jahrzehnte geprägt haben. Die finalen Wahlergebnisse werden spätestens am 2. Juni bekanntgegeben, aber erste Hochrechnungen könnten bereits kurz nach Schließung der Wahllokale eine klare Tendenz aufzeigen.
Jacob Zuma bleibt eine Belastung für Präsident Ramaphosa. Nachdem er im Jahr 2021 wegen Missachtung des Gerichts kurzzeitig eine Gefängnisstrafe absaß und dann jedoch aufgrund angeblich schwerer Krankheit die Haftstrafe aussetzen konnte, wurde er der Anführer der MK-Partei und war bis letzte Woche Spitzenkandidat auf deren Parlamentsliste. Aufgrund der gleichen Zielgruppe könnte seine Partei dem ANC schmerzliche Stimmverluste zufügen, die ihn möglicherweise die angestrebte absolute Mehrheit kosten könnten.
Langfristige Perspektiven und mögliche Veränderungen nach der Wahl
Die Ergebnisse der bevorstehenden Wahlen werden tiefgreifende Auswirkung auf Südafrikas Fähigkeit haben, seine sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Eine mögliche Verringerung der Dominanz des ANC könnte den Weg für bedeutende politische Reformen und eine gestärkte Rechenschaftspflicht ebnen. Koalitionsregierungen könnten neue Ansätze und Innovationen fördern, die dringend benötigt werden, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern und die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben und so den dringenden Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht werden. Dies erfordert jedoch, dass die Oppositionsparteien eine größere Reife zeigen als bisher, insbesondere im Hinblick auf Koalitionsregierungen auf lokaler Ebene.
Erwartungen der Bevölkerung und Rolle der Zivilgesellschaft
Die Erwartungen der Wähler sind insbesondere seit den Wahlen im Jahr 2019 hoch. Zu diesem Zeitpunkt sprach Präsident Ramaphosa offen die Missstände und die Korruptionsproblematik des Landes an und versprach Aufklärung.
Insbesondere die jungen Südafrikaner verlangen nunmehr eine Regierung, die entschlossen gegen Korruption vorgeht und gleichzeitig wirtschaftliche Chancen und soziale Gerechtigkeit fördert. Die Zivilgesellschaft spielt hierbei eine zentrale Rolle. Organisationen und Aktivisten, die sich für Transparenz und Rechenschaftspflicht einsetzen, werden auch weiterhin eine wichtige Kontrollfunktion übernehmen. Die Arbeit der Zivilgesellschaft wird auch in Zukunft entscheidend dazu beitragen, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu stärken und sicherzustellen, dass die Regierung den Willen des Volkes respektiert und umsetzt.
Inmitten dieser Umstände bleibt die Hoffnung, dass Südafrika trotz allen Schwierigkeiten weiterhin ein stabiler Anker in der Region bleibt, Wohlstand schafft und die Vision einer Regenbogennation wiederbelebt.