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Brasilien
Entscheidung über Brasiliens Präsident fällt erst in der Stichwahl Ende des Monats

Bolsonaro

Der erste Durchgang der Präsidentschaftswahl in Brasilien ist entschieden - es kommt zur Stichwahl zwischen Lula und Bolsonaro

© picture alliance / EPA | JOEDSON ALVES

Das Rennen um das höchste Staatsamt in Brasilien geht in die Verlängerung. Bei der Präsidentschaftswahl am 2. Oktober erhielt Luiz Inácio Lula da Silva, der von einem Linksbündnis getragene Herausforderer, die meisten Stimmen. Mit 48,4 Prozent der gültigen Stimmen verfehlt er allerdings die für den Einzug in den Palast der Morgenröte in Brasília erforderliche absolute Mehrheit. Am 30. Oktober kommt es nun zur Stichwahl, zum Duell mit Jair Messias Bolsonaro, dem rechtspopulistischen Amtsinhaber, der sich nach vier Jahren zur Wiederwahl stellt. Bolsonaros Ergebnis war die eigentliche Überraschung des Wahltags: 43,2 Prozent holte er, deutlich mehr als ihm die meisten Umfragen vorausgesagt hatten.

Lula, Mitgründer und ehemaliger Vorsitzender der Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT), verfügt über Wahlkampferfahrung wie kaum ein zweiter Spitzenpolitiker im Land. Mehrfach hatte sich der charismatische ehemalige Gewerkschaftsfunktionär vergebens um die Präsidentschaft bemüht. 2002 schließlich war er erfolgreich. 2006 wurde er für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. Diesmal zog Lula an der Spitze des aus sieben Einzelparteien bestehenden Linksbündnisses „Vamos Juntos Pelo Brasil“ (Wir gehen zusammen für Brasilien) in den Wahlkampf. Bolsonaro war und ist Spitzenkandidat der Partido Liberal (Liberale Partei, PL). Parteienamen sind in Brasilien zumeist Schall und Rauch. Liberal sind weder die Partei noch ihr Spitzenmann. Zwecks Maximierung der Erfolgschancen ihres Kandidaten hat sich die PL mit zwei rechtskonservativen Kräften, den Progressistas (Progressiven) und den Republicanos (Republikanern), zum Wahlbündnis „Pelo Bem do Brasil“ (Zum Wohle Brasiliens) zusammengeschlossen.

Handfeste Blamage für die Demoskopen

Wie schon vor vier Jahren bescherte das Ergebnis vom 2. Oktober dem Berufsstand der Demoskopen eine handfeste Blamage. Das Gros der Umfragen aus den Tagen und Wochen vor dem Wahltag hatte Lula zwar ein Ergebnis um die fünfzig Prozent prognostiziert. Bolsonaro hingegen sah man abgeschlagen bei zum Teil deutlich unter vierzig. Wer in den zurückliegenden Wochen allerdings mit offenen Augen und Ohren durch die Straßen gegangen war, den konnte das vergleichsweise starke Abschneiden des Amtsinhabers nicht überraschen. Die Eckdaten der Wirtschaft und damit die generelle Stimmung verbessern sich seit Monaten. Das ist für fast jeden Amtsinhaber auf der Welt die ideale Voraussetzung für steigende Zustimmungswerte.

In der Stichwahl Ende Oktober kommt es zum einen darauf an, ob es den Antagonisten gelingt, diejenigen zu mobilisieren, die der ersten Runde trotz bestehender Wahlpflicht ferngeblieben sind, immerhin knapp 33 Millionen Menschen, etwa ein Fünftel der Wahlberechtigten. Zum Vergleich: Auf Lula entfielen am 2. Oktober gut 57, auf Bolsonaro gut 51 Millionen Stimmen. Zum anderen werden sie diejenigen umwerben, die im ersten Wahlgang den Kandidatinnen und Kandidaten ihre Stimme gaben, die aus dem Rennen ausgeschieden sind. Viel gibt es hier allerdings nicht zu verteilen, angesichts des von zwei starken Persönlichkeiten ausgelösten Polarisierungseffekts.

Übrige Kandidatinnen und Kandidaten im Promillebereich

Mehr als neunzig Prozent erhielten Lula und Bolsonaro in summa. Mit deutlichem Abstand als Dritte ins Ziel kam Simone Tebet, Spitzenfrau des moderat rechten Movimento Democrático Brasileiro (Demokratische Bewegung Brasiliens). Sie erreichte gut vier Prozent. Auf Ciro Gomes, den Viertplatzierten, und seine moderat linke Partido Democrático Trabalhista (Demokratische Arbeiterpartei) entfielen etwas mehr als drei Prozent. Die Ergebnisse der übrigen Kandidatinnen und Kandidaten bewegen sich im Promillebereich. Tebets Wähler dürften sich in der Stichwahl größtenteils für Bolsonaro entscheiden, Gomes‘ Anhänger für Lula, trotz der persönlichen Animositäten zwischen den beiden linken Spitzenmännern.

Brasilien ist eine präsidentielle Republik. Vor lauter Fokussierung auf den Kampf um die Staatsspitze geraten die Ergebnisse weiterer wichtiger Wahlen leicht aus dem Blick: Gewählt wurden am 2. Oktober auch die 513 Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 27 der 81 Senatorinnen und Senatoren, außerdem die Gouverneurinnen und Gouverneure der 26 Bundesstaaten und des Bundesdistrikts Brasília. Das Bild, das sich im Kongress in der Hauptstadt abzeichnet, ist bemerkenswert: Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus gewann Bolsonaros PL 16,5 Prozent bzw. 99 Sitze, 66 mehr als 2018. Lulas PT trat als Teil des Linksbündnisses Brasil da Esperança (sinngemäß: Brasilien, Land der Hoffnung, BE) an. Es erreichte 13,9 Prozent bzw. achtzig Sitze, elf mehr als vor vier Jahren. Die PL bildet fortan die stärkste, BE die zweitstärkste Fraktion. Im Senat kommt die PL auf 13 Sitze, ein Zuwachs von elf. Auch hier stellt die Partei fortan die größte Fraktion. BE konnte sich um drei Sitze auf neun verbessern, bildet allerdings nur die fünftgrößte Fraktion. Gewonnen haben in beiden Häusern auch die die Bolsonaro-Kandidatur unterstützenden Progressistas und Republicanos.

Strategie des Negative Campaigning

Bemerkenswert ist das Ergebnis deshalb, weil das starke Votum für Lula sich nicht in den Mehrheitsverhältnissen im Kongress widerspiegelt. Die Wähler kennen den Unterschied zwischen Legislativ- und Exekutivgewalt. BE hat seine Stellung zwar stärken können, sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat. Die Ergebnisse liegen allerdings weit unter den gut 48 Prozent, die der Präsidentschaftskandidat der PT errungen hat. Was bedeutet das Fraktionspanorama in den beiden Kammern für den Sieger des zweiten Wahlgangs? Lula müsste sich die Mehrheit für seine politischen Projekte jedes Mal neu organisieren. Bolsonaro hätte es einfacher; neben den drei Parteien seiner Wahlallianz dürfte er auf die Unterstützung weiterer weltanschaulich dehnbarer und rechter Fraktionen zählen können. Er könnte außerdem für sich in Anspruch nehmen, als erster Staats- und Regierungschef Lateinamerikas nach Ausbruch der Covid-Pandemie bei Wahlen im Amt bestätigt worden zu sein – ein Umstand, den er propagandistisch ausschlachten dürfte.

Vier Wochen bleiben bis zur Stichwahl. Beide Kontrahenten schmieden sich nun ein Narrativ aus den Ergebnissen der ersten Runden. Lula wird sich als De-facto-Gewinner des 2. Oktober inszenieren, Bolsonaro als Held einer spektakulären Aufholjagd. Beide Kandidaten dürften allerdings bei ihren Kernthemen bleiben – Bolsonaro wird die wirtschaftliche Erholung betonen, Lula seine Sozialagenda. Gleichzeitig werden sie ihr „Negative Campaigning“ intensivieren: Lula wird die demagogische, spalterische und atavistische Persönlichkeit des Amtsinhabers in den Mittelpunkt rücken, Bolsonaro die Korruptionsgeschichte der PT. Zudem wird Bolsonaro sich weiterhin als Opfer einer vermeintlich gegen ihn gerichteten Medienlandschaft darstellen.

Brisantes Thema Regenwald

Das aus internationaler Sicht wahrscheinlich brisanteste mit Brasilien verbundene Thema ist der Umgang der Politik mit den Regenwäldern. Lula hatte 2004, zu Beginn seiner Präsidentschaft, mit über zwei Millionen Hektar bzw. 20.000 Quadratkilometer eine sehr hohe Abholzungsrate zu verantworten. Im Laufe der Folgejahre hat er sie allerdings mehr als halbiert. Bolsonaro hatte 2018 zwei Rekordwerte von seinem Vorgänger Michel Temer geerbt – 2016 waren es knapp drei Millionen Hektar. Zunächst ging der Abbau signifikant zurück, dann aber stieg er wieder leicht an, auf rund 1,5 Millionen Hektar 2021. Abgesehen von seiner Ungerührtheit gegenüber dem CO2-Speicher Regenwald hat Bolsonaro in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Mechanismen des Umwelt- und Klimaschutzes ausgehebelt und die Methoden und Erkenntnisse der Klimaforschung systematisch verunglimpft. Es fällt daher schwer, ihm zu glauben, wenn er sich nun für den Stopp der illegalen Entwaldung, die Reduzierung von Emissionen und für globale grüne Lieferketten stark macht.

Am Ende wird möglicherweise derjenige verlieren, der die stärkeren Antipathien auf sich zieht. Der andere wird mehr ein Übriggebliebener sein denn ein strahlender Sieger. Zudem besteht die Gefahr, dass Bolsonaro im Falle einer Wahlniederlage seine Anhänger dazu aufrufen wird, gegen das Ergebnis auf die Straße zu gehen.