EN

Kommunalwahlen in Brasilien
Thermometer für die Zukunft des Landes

São Paulo, die bevölkerungsreichste Stadt und der wirtschaftliche Motor des Landes, war einer der am härtesten umkämpften Schauplätze bei diesen Kommunalwahlen. In der Stichwahl siegte der amtierenden Bürgermeister Ricardo Nunes

São Paulo, die bevölkerungsreichste Stadt und der wirtschaftliche Motor des Landes, war einer der am härtesten umkämpften Schauplätze bei diesen Kommunalwahlen. In der Stichwahl siegte der amtierenden Bürgermeister Ricardo Nunes.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Leandro Chemalle

Am vergangenen Sonntag fand der zweite und entscheidende Wahlgang der Kommunalwahlen in Brasilien statt. Der erste Wahlgang war am 6. Oktober. 34 Millionen Brasilianer gingen an die Urnen, um in den 51 Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern, in denen keiner der Kandidaten in der ersten Runde mehr als 50 % erreicht hatte, die Entscheidung in Stichwahlen zwischen den beiden erfolgreichsten Bewerbern zu treffen. Warum sind diese Kommunalwahlen wichtig für die Zukunft Brasiliens?

Ein Spiel der Gleichgewichte mit „Centrão“ als Sieger

Aus den Kommunalwahlen ist der „Centrão“, eine informelle Koalition von Parteien, die eine pragmatische, teilweise flexible Haltung zwischen linken und rechten Ideologien einnimmt, als Sieger hervorgegangen. Parteien wie die Sozialdemokratische Partei (PSD) und die Brasilianische Demokratische Bewegung (MDB) konnten sich die Rathäuser in zahlreichen Städten sichern. São Paulo, die bevölkerungsreichste Stadt und der wirtschaftliche Motor des Landes, war einer der am härtesten umkämpften Schauplätze bei diesen Kommunalwahlen. In der Stichwahl siegte der amtierenden Bürgermeister Ricardo Nunes, der von der MDB unterstützt wurde und indirekt auf die Unterstützung von Bolsonaro zählen konnte, mit deutlichem Vorsprung.

Die Bedeutung des „Centrão“ liegt in seiner Fähigkeit, die nationale politische Landschaft auszubalancieren und eine Vermittler- und Verhandlungsrolle zwischen extremen Kräften zu spielen, insbesondere in einem Land mit einem hohen Grad an Polarisierung auf nationaler Ebene zwischen Präsident Lula da Silva und seinem Vorgänger Jair Bolsonaro.

Herausforderungen für die Linke in Brasilien

Dieser Vormarsch des „Centrão“ bedeutet eine Herausforderung für Lulas Regierung, die ihre Bündnisse stärken muss, um die Unterstützung der Bevölkerung zu erhalten. Die Fähigkeit dieser Parteien des „Centrão“, sich auf regionale und lokale Anforderungen einzustellen, ermöglicht es ihnen, Stimmen in Gebieten zu gewinnen, in denen die Linke Schwierigkeiten hat, insbesondere in den großen Städten des Südostens und des Südens des Landes.

So ist es trotz der Unterstützung von Präsident Lula der Arbeiterpartei (PT) und ihren linken Verbündeten nicht gelungen, bei diesen Wahlen ihre Basis zu stärken. In mehreren großen Städten erzielte die PT nicht die erwarteten Ergebnisse, und in den wenigen großen Städten, in denen sie als Partei selbst mit Kandidaten antrat, konnte sie keine nennenswerten Siege erreichen. Dieses Ergebnis spiegelt die Herausforderung für die brasilianische Linke wider, die in hohem Maße von der Person Lula abhängt. Seine Strahlkraft hat aber deutlich nachgelassen, und neue Hoffnungsträger sind nicht in Sicht, wie diese Wahlen drastisch gezeigt haben.

Der Einfluss von Bolsonaro und die Positionierung der Rechten

Die Rechte, die von Bolsonaro und seiner Liberalen Partei (PL, mittlerweile nahezu ohne echte Liberale) angeführt wird, findet weiterhin Anklang bei den Wählern, insbesondere bei Themen wie Sicherheit, Wirtschaft und Korruptionsbekämpfung. Dazu kommt eine verbreitete Anti-PT Stimmung aus Unzufriedenheit mit den begrenzten Erfolgen der Regierung. So ist es der PL und anderen rechten Parteien gelungen, in den großen Städten weiterhin stark vertreten zu sein.

Das Aufkommen einer gemäßigteren und pragmatischeren Rechten ist eines der charakteristischen Elemente dieser Wahlen. Persönlichkeiten wie Tarcísio de Freitas, Gouverneur von São Paulo, haben sich als potenzielle Anführer einer eher gemäßigten Rechten erwiesen, die sich von der polarisierenden Rhetorik von Bolsonaro distanzieren will und Respekt vor den Institutionen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zeigt. Diese Art von gemäßigter Führung könnte einer Mitte-Rechts-Plattform für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2026 den Weg bereiten, die sich vom toxischen Einfluss Bolsonaros emanzipiert.

Partido Novo kann deutlich zulegen

Die Partido Novo hat in São Paulo und anderen strategisch wichtigen Städten deutlich zugelegt und konnte ihren Stimmenanteil vervierfachen. Sie hat sich damit in einem polarisierten politischen Umfeld als liberale Option etabliert. Von allen kleineren Parteien konnte sie das stärkste Wachstum aufweisen. Mit ihrer auf Transparenz, Effizienz und wirtschaftlichen Liberalismus ausgerichteten Agenda weckt die Partido Novo Hoffnungen der Brasilianer, die einen Wechsel in der Regierungsführung herbeisehnen und sich von ideologischen Extremen abwenden, was Partido Novo zu einem wichtigen Akteur bei den nächsten nationalen Wahlen im Jahr 2026 machen könnte.

Ein Thermometer für die Zukunft

Die brasilianischen Kommunalwahlen ermöglichen ein Szenario, in dem die Polarisierung zwischen Lula und Bolsonaro langsam an Bedeutung verliert und Parteien und Kandidaten des demokratischen Mitte-Rechts-Spektrums mit weniger extremen Positionen von den Wählern belohnt werden. Die Verbindung von Konservatismus und Pragmatismus könnte die politische Landschaft des Landes verändern. Die Linke steht vor der Herausforderung, ihre Führung zu diversifizieren und Wähler außerhalb ihrer traditionellen Basis zu gewinnen. Die liberale Alternative, die von der Partido Novo ausgeht, ist nach ihrem starken Wachstum eine erfrischende Hoffnung für die Wahlen 2026. Sie zeigt, dass in Brasilien Potential für eine liberale Programmpartei der Mitte besteht, jenseits der politischen Extreme und der traditionellen klientelistischen Parteien ohne inhaltlichen Kern.

Brasilien im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit

Mit dem bevorstehenden G20-Gipfel in Rio de Janeiro im November sowie im kommenden Jahr der BRICS-Präsidentschaft und der COP30 in Belém steht Brasilien in den kommenden 12 Monaten im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Im Mittelpunkt der brasilianischen Agenda stehen dabei die Themen Klimagerechtigkeit, der Abbau von Ungleichheiten, die Stärkung der Süd-Süd-Zusammenarbeit sowie eine Reform der globalen Governance internationaler Organisationen.

Angesichts der politischen Herausforderungen, denen sich Brasilien gegenübersieht, und der Definition seiner Rolle auf der internationalen Bühne gehen die Auswirkungen dieser Wahlen weit über die kommunalen Grenzen hinaus und werden die Zukunft der Politik des Landes im Vorfeld der nächsten Präsidentschaftswahlen 2026 prägen. Aus diesem Grund ist positiv zu bewerten, dass diese Wahlen – trotz der starken Zersplitterung des brasilianischen Parteiensystems – zu einer Konsolidierung der politischen Landschaft beigetragen haben.