Mexiko
Mexiko: Ist die Rechtsstaatlichkeit in Gefahr?
Die chronische Krankheit Mexikos und der Kampf der Zivilgesellschaft!
Vor 20 Jahren endete in Mexiko die jahrzehntelange Alleinherrschaft der „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (PRI - Partido Revolucionario Institucional), eine Ära, die Mario Vargas Llosa als "die perfekte Diktatur" bezeichnete. Die Korruption, der Mangel an institutioneller Kontrollen, politische Verfolgung, die Undurchsichtigkeit bei der Verwaltung der Ressourcen und bei der Entscheidungsfindung sowie die Zentralisierung der Macht in der Figur des Präsidenten (Aufhebung der Gewaltenteilung) waren inhärente Merkmale dieser Ära.
Nicht zuletzt als Ergebnis der jahrzehntelangen beharrlichen Arbeit der Zivilgesellschaft wurden seitdem in Mexiko bestimmte Mechanismen geschaffen, um die Macht des Präsidenten zu begrenzen und die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie zu stärken. Einige wichtige Fortschritte sind gelungen. Edna Jaime, Chefin von „México Evalúa“ (Mexiko evaluiert), einer der renommiertesten Think Tanks Mexikos und langjähriger Stiftungspartner, bekräftigte jedoch bei einem Expertenrundtisch in Deutschland die Diagnose, dass Mexiko weiterhin an einer chronischen Krankheit leidet, die schwer zu überwinden scheint, die viele Leben kostet und die die mexikanische Demokratie beschädigt: der Schwäche der staatlichen Institutionen, insbesondere der Schwäche von autonomen Institutionen, die staatliches Handeln kontrollieren oder der parteipolitischen Instrumentalisierung entziehen sollen.
Diese institutionelle Schwäche ist in Mexiko weiterhin das größte Problem. Deren Auswirkung kann man anhand der aktuellen Situation im Lande beobachten, in der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte akuten und wachsenden Bedrohungen ausgesetzt sind.
Regierung strebt Kontrolle über alles an
So strebt der aktuelle Präsident Andrés Manuel López Obrador seit seinem Regierungsantritt vor zwei Jahren, eine persönliche Kontrolle über nahezu alle staatlichen Handlungsfelder an. Dazu werden Strukturen und Mechanismen, die dazu dienten, die präsidentielle Macht einzuschränken bzw. die Gewaltenteilung zu stärken, geschwächt oder ganz abgeschafft. Das betrifft Institutionen wie die Wahlkommission, die Regulierungsbehörde des Energiemarktes, die Menschenrechtskommission u.a.m. Die Begründung variiert zwischen Korruptionsvorwürfen – allerdings ohne Beweise und ohne die Einleitung von gerichtlichen Verfahren – und Behauptungen, das koste alles viel zu viel und sei unnötig. Das zeigt, wie schnell sich viele der positiven Schritte zur Stärkung der Institutionen zurückdrehen lassen.
Die Zivilgesellschaft in Mexiko gibt jedoch nicht auf. Nichtregierungsorganisationen, die in den letzten zwei Jahrzehnten gestärkt wurden, kämpfen weiterhin dafür, dass die Bürger Informationen über die Funktionsweise der Regierung erhalten und kritische Fragen gestellt werden. Sie bemühen sich auch weiterhin um eine Festigung der Rechtsstaatlichkeit und legen damit den Grundstein für die Stärkung der Institutionen, der Demokratie und den Schutz der bürgerlichen Freiheiten. Mit ihren Aktivitäten halten sie wesentliche Elemente einer demokratischen Gesellschaft aufrecht: Transparenz, Rechenschaftspflicht durch Information und Stärkung der Bürgerrechte.
Stärkung der Institutionen durch Transparenz und Rechenschaftspflicht
Das „Observatorio Nacional Ciudadano“ (Nationales Bürgerobservatorium) arbeitet seit Jahren daran, das Verständnis der Gesellschaft zu Fragender öffentlichen Sicherheit, der Gerechtigkeit und der Rechtskultur in Mexiko zu fördern. So haben sie beispielsweise, in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung, einen vielbeachteten umfassenden Bericht zu Verschwundenen in Mexiko veröffentlicht. Dieser Analyse soll dazu dienen, den Zugang zur Justiz für die Opfer von Verschwundenen zu verbessern und Transparenz und Rechenschaftspflicht des Staates einzufordern.
Das ist eine dringende Aufgabe, denn die Sicherheit und Gewalt im Land sind immer noch auf einem alarmierenden Niveau. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die problematischen Stellen des Justizsystems angegangen werden. Umso wichtiger ist dann die Entwicklung von Studien, die gerade diese Stellen beleuchten und eine Bewertung und Überwachung der Regierungsarbeit durchführen. In dieser Hinsicht unterstützt die Stiftung die Veröffentlichung des jährlichen Berichts „Hallazgos“, der von der Organisation „Mexico Evalúa“ erstellt wird. In dieser siebten Ausgabe „Hallazgos 2019“ kann nachgelesen werden, was funktioniert und an welchen Stellen die Probleme bei Gerichtsverfahren zu finden sind. Das ergibt eine detaillierte Diagnose zur Lage des Justizsystems, die als Grundlage für Reforminitiativen dienen soll.
Stärkung der Bürgerrechte
Ein weiteres von der Stiftung unterstütztes Projekt ist die neue digitale Plattform denuncia.org der zivilgesellschaftlichen Organisation „Impunidad Cero“ (Null Straflosigkeit). Diese Plattform ist ein praktisches Tool, damit jeder Bürger, der Opfer eines Verbrechens wird, weiß, wie er reagieren muss, um das Verbrechen zu melden. Dadurch sollen Ängste und Unsicherheiten im Zusammenhang mit einer Anzeige verringert werden. Das ist dringend nötig, denn derzeit werden schätzungsweise 93% aller Straftaten gar nicht angezeigt. Das heißt wiederrum, dass in Mexiko nur ca. 1% der Straftaten aufgeklärt werden. Eine Erhöhung der Zahl der Anzeigen würde den Druck auf die Behörden und letztlich auf die Politik erhöhen, die skandalöse Vernachlässigung der Kernaufgabe des Staates, nämlich der öffentlichen Sicherheit und der Rechtsdurchsetzung, zu beenden.
In dieser Hinsicht sucht die Zivilgesellschaft in Mexiko auch nach Innovationen im Bereich Justizsystem. So sollen die Möglichkeiten, die die Digitalisierung hierzu anbietet, genutzt werden. Diese Suche wurde durch die Schaffung des „First International Forum on JUSTICE INNOVATION” gefördert, das von „México Evalúa“ mit der Unterstützung der Stiftung organisiert wurde. In diesem Rahmen haben sich drei Tage lang mehr als 80 Experten aus 16 Ländern, aus Regierung und Zivilgesellschaft, über ihre Erfahrungen, Lehren und Herausforderungen ausgetauscht. Die Förderung dieses Wissenstransfers ist wesentlich, um neue Ideen zur Verbesserung des Justizsystems in Mexiko zu erarbeiten, die Gerechtigkeit einen Schritt näher zu den Bürgern bringen. Das wird vom Land dringend benötigt.
Mexiko ist ein Land, das in einer komplizierten Situation ist. Die Demokratie und Menschenrechte sind in Gefahr. Die Regierung von Präsident Lopez Obrador versucht immer wieder, ihren Machtbereich zulasten der Freiheit der Bürger zu erweitern. Sie verfolgt das Muster vieler autoritären Regierungen: Aufhebung der Gewaltenteilung bei Dominanz der Exekutive, Verwaltung des Staatshaushaltes nach Gutsherrenart, Kontrolle der Medien und der sozialen Netzwerke, Erschaffung von Feindbildern, Verfolgung von Kritikern, Kontrolle der Bildung und ihre Verwendung für politische Zwecke, Missbrauch der Armee für parteibezogene Ziele sowie Veränderung der Verfassungen und der Wahlgesetze zur Stärkung der Exekutive. Dies wurzelt einerseits in der traditionellen politischen Kultur des Landes: Präsident Lopez Obrador denkt und agiert wie ein klassischer klientelistischer Politiker der 60-er und 70-er Jahre, ein Modell mit einem gütigen Patron an der Spitze des Staates, der seine bedürftigen Gefolgsleute alimentiert auf, dass sie ihm politisch die Treue halten. Das zeigt einmal mehr, wie groß die Beharrungskräfte traditioneller Politikmuster sind, und wie lange es dauert, bis demokratische Reformen wirklich solide Wurzeln entwickeln. Außerdem reiht sich Mexiko hier in einen regionenweiten und globalen Trend hin zum Autoritarismus ein, der Demokratie und offene Gesellschaft in die Defensive drängt. Wie in vielen anderen Ländern haben die wirtschaftlichen und politischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte dazu geführt, dass die Ungeduld der Menschen wächst und der Fortbestand wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Benachteiligungen größeren Ärger auslöst, gepaart mit dem Wunsch nach schnellerer Veränderung. Die mexikanischen Regierungen der letzten beiden Jahrzehnte haben alle die in sie gesetzten Erwartungen in der einen oder anderen Weise enttäuscht, was die gewachsene Frustration mit erklärt. Leider besteht nun die Gefahr, dass das Land in politische und wirtschaftliche Muster zurückfällt, die für die Probleme im Kern verantwortlich sind: eine Dominanz eines politisierten Staatsapparates, dem es an grundlegenden professionellen Fähigkeiten mangelt; ein Fehlen von starken autonomen Institutionen, die Transparenz und Kontrolle ermöglichen; eine Wirtschaftsstruktur, in der Staatsunternehmen und politisch gut vernetzte Großunternehmen den Kuchen unter sich aufteilen, während Wettbewerb und Dynamik auf der Strecke bleiben.
Die politische Opposition gegen diese akuten autoritären Tendenzen ist nach wie vor schwach, die beiden großen Oppositionsparteien sind durch ihre schwachen Leistungen während ihrer Regierungszeit diskreditiert. Die Hauptlast des Widerstandes liegt so bei der Zivilgesellschaft, die in Mexiko traditionell eher schwach ausgebildet ist. Sie hat sich aber in den letzten Jahrzehnten zu einem gewichtigen Faktor entwickelt und steht hartnäckig für die Werte einer rechtsstaatlich verfassten offenen Gesellschaft ein – zum Ärger der Regierung, die deshalb versucht, sie ebenfalls zu diskreditieren. In dieser Auseinandersetzung ist die Zivilgesellschaft weiterhin auf unsere Solidarität angewiesen.