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Mexiko
Claudia Sheinbaum: Mexikos Erste Präsidentin zwischen Kontinuität und Wandel

Claudia Sheinbaum übernimmt am 1. Oktober das Amt der Präsidentin Mexikos und schreibt als erste Frau in dieser Position Geschichte.

Claudia Sheinbaum übernimmt am 1. Oktober das Amt der Präsidentin Mexikos und schreibt als erste Frau in dieser Position Geschichte.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Eduardo Verdugo

Claudia Sheinbaum ist die neue gewählte Präsidentin Mexikos und tritt am 1. Oktober ihr Amt an. Die erste weibliche Präsidentin des Landes wird einen reibungslosen Machtwechsel erleben – was in der Geschichte Mexikos durchaus eine Seltenheit ist. Darüber hinaus regiert ihre Partei Morena nun in 24 der 32 Bundesstaaten und verfügt über umfassende und auf nationaler Ebene verfassungsändernde Mehrheiten, die ihr und ihrer Partei massive Gestaltungsspielräume eröffnen.

Andererseits hat Claudia Sheinbaum Pardo bisher immer unter dem politischen Schutzschirm von Andrés Manuel López Obrador (AMLO), ihrem populären (und populistischen) Vorgänger agiert. Es war AMLO, der sie einlud, der Regierung von Mexiko-Stadt beizutreten, und es war unter dem Banner von Morena, dass sie Bürgermeisterin von Tlalpan und Regierungschefin von Mexiko-Stadt wurde. Es war AMLO, der sie als seine Nachfolgerin etablierte. Wie groß sein Einfluss auf sie und ihre Politik nach der Amtsübergabe sein wird, wie sie die Verantwortung der überwältigenden Mehrheiten ihrer Partei nutzt – wenn sie fähig ist, diese geeint zu halten – und welche ihre politischen Schwerpunkte sein werden, ist schwer vorherzusagen.

Wahrung von López Obradors Vermächtnis

Sheinbaum hat mehrfach erklärt, dass es ihre Pflicht sei, "den zweiten Stock der Vierten Transformation zu bauen", was eine konsequente Fortführung des Programms von AMLO bedeuten würde. Dessen Schwerpunkte waren der Ausbau klientelistischer Sozialprogramme, die Abschaffung von autonomen Institutionen zugunsten größerer Machtfülle des Präsidenten, und die Stärkung der Rolle der hochdefizitären Staatsbetriebe im Energiesektor, besonders in der Öl- und Gasindustrie. Das betrachtete AMLO in aller (Un)Bescheidenheit als die „vierte Transformation“ des Landes nach der Unabhängigkeit 1821, der Reformära von Benito Juarez 1852-72 und der mexikanischen Revolution von 1911.

Bisher war Morena eine Ein-Mann-Partei, die sich um López Obrador drehte. Sie hat sich noch nicht vollständig zu einer echten Institution entwickelt, die aus verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Ideologien besteht. López Obrador war der Kitt, der diese Bewegung zusammenhielt, und jetzt, da seine Präsidentschaft zu Ende ist, bleibt abzuwarten, ob und wie er weiterhin Einfluss nehmen will und kann und ob die Partei diesen Führungswechsel geeint übersteht.

Darüber hinaus besteht mindestens die Hälfte von Sheinbaums neuem Kabinett aus Mitgliedern von López Obradors Kabinett. Allerdings weist ihr Team im Allgemeinen ein technokratisches Profil auf, während AMLO eher politische Figuren bevorzugte. Hier mag sich also eine nuancierte Änderung zeigen.  Die eigentliche Überraschung war jedoch die Ernennung des Sohnes des Präsidenten, Andrés Manuel López Beltrán, zum Sekretär für Organisation von Morena, einer Schlüsselposition in Wahlkampagnen. Das deutet darauf hin, dass AMLO nicht daran denkt, seinen Einfluss aufzugeben.

López Obradors Einfluss erstreckt sich über Empfehlungen für wichtige Kabinetts- und Parteiposten hinaus. Er hat auch Verfassungsreformen durchgesetzt, ganz aktuell die hochumstrittene Justizreform, die vorschreibt, dass Bundesrichter durch Volkswahl gewählt werden, was die demokratische Gewaltenteilung in Mexiko massiv gefährdet und international Politik und Wirtschaft aufgeschreckt hat. Dies gelang ihm, da das neu gewählte Parlament, samt neuer verfassungsändernder Mehrheit, bereits im September zusammentrat, einen Monat vor der Machtübergabe an seine Nachfolgerin. Er setzte auch durch, dass die Nationalgarde, die ursprünglich als Ersatz für die alte Bundespolizei konzipiert war, unter militärische Kontrolle gestellt wird.

Wird Sheinbaum ihren eigenen Weg finden? Und wenn ja, welchen?

Es gibt jedoch auch wesentliche Unterschiede zwischen Sheinbaum und ihrem Vorgänger. Während López Obrador ein Präsident war, der alles durch eine politische Brille betrachtete, scheint Sheinbaum ihren Wurzeln als Klimawissenschaftlerin zu folgen und einen eher inhaltlichen und wissenschaftlichen Ansatz zu haben.

Obwohl sie sich öffentlich an die Rhetorik von López Obrador hielt, verfolgte Sheinbaum als Regierungschefin von Mexiko-Stadt ihre eigene Sicherheitsstrategie, die stärker datenbasiert war und sich auf die Ausbildung ziviler Sicherheitskräfte stützte. Es bleibt abzuwarten, ob sie und Omar García Harfuch, der als Sicherheitssekretär von Mexiko-Stadt unter Sheinbaum tätig war und nun für diesen Bereich im Bundeskabinett zuständig ist, ein ähnliches Modell auf Bundesebene umsetzen können. Sicherheit ist eines der zentralen Themen in Mexiko – AMLOs Amtszeit endete mit der höchsten Mordrate in der modernen Geschichte Mexikos (etwa 180.000 Tötungsdelikte) –  deshalb sind Erwartungen und Notwendigkeit hier besonders hoch.

Ein weiteres interessantes Thema ist die dringend notwendige Energiewende. Obwohl Sheinbaum erklärt hat, dass sie Pemex, den nationalen Erdölkonzern, stärken will, hat sie auch von einer erneuten Unterstützung für erneuerbare Energien gesprochen, ein Sektor, den AMLO während seiner gesamten Präsidentschaft vernachlässigte, um das staatliche Ölunternehmen zu stärken.

Auch im Stil hat sich Sheinbaum als versöhnlicher und kooperativer gezeigt. Ein Beispiel ist die hochumstrittene Justizreform, bei der gemunkelt wird, dass Sheinbaum Bankern und anderen Sektoren Zusicherungen gemacht hat, dass Sekundärgesetze viele der Bedenken von Investoren hinsichtlich der Reform ansprechen und abmildern würden.

In ihren vorherigen Posten hat sich Sheinbaum durchaus als fähige und geschickte Politikerin erwiesen. Die erste Präsidentin Mexikos zu werden mit dem besten Wahlergebnis in der demokratischen Periode des Landes, ist – Unterstützung des prominenten Vorgängers hin oder her – eine bemerkenswerte Leistung.  Es wird nun an ihr liegen, sich von AMLO abzusetzen und ihren eigenen Weg, ihre eigene Politik und ihre eigenen Schwerpunkte zu finden und zu setzen.

Mexiko auf dem Weg zu einem autoritären Regime?

Mexiko erlebte in der Amtszeit AMLOs eine Erosion der demokratischen Institutionen, die das Land gemäß dem Demokratieindex der Economist Intelligence Unit in ein hybrides Regime verwandelt hat.

Neben der genannten Justizreform war auch eine Wahlrechtsreform geplant, die die Volkswahl der Mitglieder des Nationalen Wahlinstituts (INE), das für die Durchführung der Wahlen verantwortlich ist, vorsieht. Diese Reform wurde jedoch laut einigen Quellen von Sheinbaum in den Ausschüssen des Kongresses auf Eis gelegt.

Ein weiterer von AMLO übernommener Vorschlag ist die Abschaffung von sieben autonomen Institutionen: dem Nationalen Institut für Transparenz, Zugang zu Informationen und Datenschutz (INAI), dem Nationalen Rat zur Bewertung der Sozialpolitik (Coneval), der Bundeskommission für wirtschaftlichen Wettbewerb (Cofece), dem Bundesinstitut für Telekommunikation (IFT), der Nationalen Kommission zur kontinuierlichen Verbesserung der Bildung (MEJORADU), der Energie-Regulierungskommission (CRE) und der Nationalen Kommission für Kohlenwasserstoffe (CNH). Ihre Funktionen sollen auf Bundesbehörden oder das Nationale Institut für Statistik und Geographie (INEGI) übertragen werden. Während die Abschaffung dieser autonomen Institutionen als Maßnahme zur Einsparung öffentlicher Mittel dargestellt wurde, ohne dabei wesentliche Staatsfunktionen zu verlieren, ist die Realität eine massive Machtausweitung der politischen Exekutive und eine massive Umkehr des Prozesses einer professionellen Institutionalisierung des Landes, ein Rückbau der rechtsstaatlichen Reformen.

Von der Opposition ist wenig Widerstand zu erwarten, sie ist seit 2018 weitgehend konzeptionslos und diskreditiert. Bedeutender wird eher die innerparteiliche Entwicklung von Morena sein. Morena ist keine traditionelle Partei, sondern eine Koalition verschiedener politischer Fraktionen, die Risse zeigen könnte, sobald die Bindungskraft von López Obradors Führung verschwunden ist.

Wirtschaftlicher Ausblick

Die kurzfristigen Wirtschaftsaussichten Mexikos sind nicht besonders vielversprechend. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt ein Wachstum von 1,4 % im Jahr 2024 und 1,2 % im Jahr 2025. Sheinbaum hofft, durch ausländische Investitionen, die eine Alternative zu China suchen, wieder mehr Dynamik in die mexikanische Wirtschaft zu bringen. Die ausländischen Direktinvestitionen nahmen im Zeitraum von Januar bis September 2022 um 310% zu. 2023 gingen die FDIs allerdings wieder um 5% zurück.

Um ausländische Investitionen nun anzuziehen, muss Mexiko mehr als nur günstige Arbeitskräfte bieten. Es muss auch gute Arbeitsbedingungen sowie Zugang zu Wasser und Strom sicherstellen. Auch das Thema öffentliche Sicherheit ist relevant. Laut einer Studie des Mexikanischen Instituts für Wettbewerbsfähigkeit schneidet Mexiko in diesen Bereichen nicht besonders gut ab und auch die deutsche Außenhandelskammer (CAMEXA) hat in einer Umfrage erhoben, dass neben Wechselkursschwankungen insbesondere Sicherheitsbedenken für Unternehmen ein Hemmnis darstellen können.

Auch für deutsche Unternehmen ist Mexiko ein wichtiger Standort: 2.100 Unternehmen mit deutschem Kapital sind im mexikanischen Wirtschaftsministerium registriert und beschäftigen ca. 300.000 Mitarbeitende. Mexiko ist der wichtigste Investitionsstandort der deutschen Wirtschaft in Lateinamerika, mit Investitionen deutscher Unternehmen in Höhe von 45 Mrd. USD seit 1999. Die wichtigsten Branchen für deutsche Unternehmen sind die Automobilindustrie, Pharmazie, Chemie, Elektronik, Maschinenbau und Logistik und das deutsch-mexikanische Handelsvolumen lag im Jahr 2023 bei 29 Mrd. Euro.

Aktuell hat Mexiko 12 Freihandelsabkommen mit 46 Ländern und mehr als 30 Investitionsförderungsabkommen. Eines der wichtigsten ist das am 30. November 2018 unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA), das den alten NAFTA-Vertrag ablöste und im Juli 2026 einer Überprüfung unterzogen wird. Die Abschaffung der autonomen Institutionen zur Marktregulierung hat bei Investoren Unsicherheit ausgelöst, da dies als Verletzung des USMCA angesehen werden könnte, was möglicherweise zu jährlichen Überprüfungen des Abkommens bis zu seinem Ablauf im Jahr 2035 führen könnte (die sogenannte Sunset-Klausel). Diese Gefahr besteht insbesondere, wenn Donald Trump wieder Präsident der USA wird.

AMLO hinterlässt aufgrund seiner umfangreichen Sozialausgaben ein Budgetdefizit auf Rekordhöhe und eine gestiegene Auslandsverschuldung. Angesichts der problematischen Justizreform besteht auch die Gefahr einer weiteren Herabstufung der Kreditwürdigkeit des Landes. Präsidentin Sheinbaum wird es nicht leicht haben, das Geld für die versprochene Fortführung der großzügigen Sozialausgaben zu finden.

Außenpolitik

Mexiko hat in den vergangenen Jahren im internationalen Diskurs sehr zurückhaltend agiert. Zu vielen Konflikten wurde sich wenig geäußert. Das betrifft die Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten ebenso wie die Konflikte in Lateinamerika. Gegenüber Venezuela hat sich das größte spanischsprachige Land der Welt nicht klar positioniert und die undemokratische Machterhaltung des Maduro-Regimes nicht verurteilt.

Sheinbaum, die jüdische Wurzeln hat, war bislang zu internationalen Themen ebenfalls eher zurückhaltend. Inwiefern das in einer sich zuspitzenden globalen Situation noch möglich ist, wird sich zeigen. Mexiko kann für Europa ein bedeutender Partner sein und werden – wirtschaftlich, im Kampf gegen den Klimawandel und insbesondere im globalen Systemwettbewerb. Ob eine Präsidentin Sheinbaum offener für demokratische und wirtschaftliche Partnerschaften ist, wird eine interessante Frage.

Schlussfolgerungen

Claudia Sheinbaum, die erste Präsidentin Mexikos, trifft auf große Erwartungen und ebenso große Herausforderungen. Einerseits erbt sie das Vermächtnis von López Obrador mit der Verantwortung, dessen Politik fortzusetzen. Aber von ihr wird auch erwartet, die schädlichen Aspekte dieser Politik zu korrigieren. AMLOs Charisma hat ihm konstant hohe Popularität beschert, der die mehr als bescheidenen Ergebnisse der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik nichts anhaben konnten. Claudia Sheinbaum wird da vermutlich kritischer beäugt werden. Sie steht auch vor der schwierigen Aufgabe, Morena als kohärente Partei zu festigen und sich eine stabile Machtbasis zu schaffen. Ihre Fähigkeit, die internen Fraktionen der Partei auszubalancieren, wird entscheidend sein, um politische Stabilität im Land zu gewährleisten. Ihr Fokus auf Wissenschaft, die Schaffung neuer Ministerien und eine datengesteuerte Sicherheitsstrategie deuten auf einen anderen Regierungsstil hin. Einige ihrer Vorschläge, wie die Abschaffung der Verhältniswahl und Eingriffe in die Justiz, nähren jedoch Bedenken hinsichtlich der Zukunft der Demokratiequalität in Mexiko, insbesondere des Systems der Gewaltenteilung.

Ihre Regierung folgt auf eine Amtszeit, die geprägt war von charismatischer und polarisierender populistischer Politik. Sheinbaums Regierung wird von der Spannung zwischen Kontinuität und Wandel geprägt sein, mit der Notwendigkeit, politische Unabhängigkeit und Managementfähigkeiten zu demonstrieren, um die komplexen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen Mexiko steht.