Mexiko
Wahlen in Mexiko: Demokratie hängt am seidenen Faden
Das größte spanischsprachige Land steht vor einer Richtungswahl. Nach sechs turbulenten Jahren unter Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) liegen im Rennen um seine Nachfolge zwei Frauen vorne: Claudia Sheinbaum von der Regierungspartei Morena führt in den Umfragen deutlich vor Xóchitl Galvez von der Oppositionsallianz. In den letzten sechs Jahren sind autonome Institutionen, Zivilgesellschaft und die Unabhängigkeit der Gerichte unter erheblichen Druck geraten. Die Wahlen werden auch darüber entscheiden, ob die Regierungspartei Morena seine Dominanz verteidigen und den Umbau des Landes vorantreiben kann.
Auch wenn dieses Jahr die Wahlen in den USA und Indien mehr Aufmerksamkeit bekommen – was in Mexiko geschieht, ist keinesfalls zweitrangig. Im Jahr 2023 steht Mexiko auf Platz 12 der größten Volkswirtschaften der Welt, noch vor Südkorea, Australien und Spanien. Dem IWF zufolge wird für 2024 ein BIP-Wachstum von 2,4 Prozent erwartet. Mit 128 Millionen Einwohnern ist Mexiko auf Platz 10 der bevölkerungsreichsten Länder der Welt. Dank seiner 12 Freihandelsabkommen mit 46 Ländern und mehr als 30 Investitionsförderungsabkommen ist es auch ein global relevanter Markt. Im Demokratieindex 2023 des Economist wird das Land jedoch als hybrides Regime eingestuft, ein demokratisches verfasstes Land, das allerdings auch einige autoritäre Züge aufweist. Ebenso ergab das Latinobarómetro 2023 die beunruhigende Einsicht, dass die Demokratie nicht allzu solide verwurzelt ist: 56 % der Mexikaner könnten mit einer nichtdemokratischen Regierung leben, solange sie die Probleme löst.
Zwei Monate vor den bisher größten landesweiten Wahlen mit 20.708 zu vergebenden Positionen auf allen staatlichen Ebenen liegt die Zustimmungsrate für Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) bei 53,3 %[1]. Mehr als 98 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner werden am 2. Juni ihre Stimme abgeben können. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes liegen zwei Frauen im Rennen um die Präsidentschaft in Führung.
Wer kandidiert für die Präsidentschaft?
Claudia Sheinbaum, die frühere Chefin der Stadtregierung von Mexiko-Stadt, ist Diplom-Physikerin und hat in Energietechnik promoviert. Sie kandidiert für das Bündnis „Lasst uns weiterhin Geschichte schreiben", bestehend aus der dominierenden Linksparteien Morena und ihren kleineren Verbündeten, der Arbeitspartei und der Grün -ökologischen Partei. Sie ist eine enge Verbündete von Präsident AMLO, was maßgeblich zu ihrem Sieg bei der innerparteilichen Kandidatenauswahl beitrug. Stand 2023 regierte die Regierungspartei Morena in 22 der 32 Bundesstaaten des Landes (68 %). Allerdings verlor sie 2021 die Zweidrittelmehrheit im Kongress, mit der sie bis dato Verfassungsänderungen bewirken konnte.
Xóchitl Gálvez ist die Kandidatin des Bündnisses "Stärke und Herz für Mexiko", einer Koalition aus den Parteien PRI, PAN und PRD. Die PRI, die Partei der Institutionalisierten Revolution, war 70 Jahre lang allein an der Macht, bevor sie Ende der 90-er Jahre das politische System demokratisierte. Die PAN, eine konservativ-katholische Partei, war zwischen 2000 und 2012 an der Macht. Ihr gehört Xóchitl Galvez an. Sie ist eine Ingenieurin und Unternehmerin mit indigenen Wurzeln, die als Seiteneinsteigerin in die Politik geholt wurde. Und die dritte Partei im Bunde ist die ehrwürdige Linkspartei PRD, zu der einst AMLO gehörte, bevor er sie im Streit mit seinen Getreuen verließ und Morena gründete. Sie ist seither nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Gálvez hat die schwierige Aufgabe, drei völlig unterschiedliche und historisch gegensätzliche Parteien zu vertreten. Diese haben sich hauptsächlich deshalb zusammengefunden, weil sie allein gegen die erdrückende Übermacht von Morena keine Chance haben. Viele Mexikaner verbinden diese Parteien allerdings mit Korruptionsskandalen und schweren Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit.
Jorge Álvarez Maynez schließlich ist der Kandidat der sozialdemokratischen Partei Movimiento Ciudadano, einer Partei, die sich nicht dem Oppositionsblock angeschlossen hat und daraufsetzt, sich bei den Wählern als Hoffnungsträger zu profilieren, der weder mit korrupten Führern der alten Schule noch mit Morena Bündnisse schmiedet. Derzeit liegt Claudia Sheinbaum in den Umfragen mit zweistelligem Vorsprung klar vor Xóchitl Galvez, Maynez liegt bei ca. 5-7%.
Das strukturelle Problem: Sicherheit und Gewalt
Mexiko erlebt die gewalttätigsten Wahlen seiner Geschichte: In den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 wurden mindestens 33 Kandidaten ermordet. Die hohe Kriminalität und die Rolle des organisierten Verbrechens sind eine ständig präsente Bedrohung, insbesondere auf lokaler Ebene. Die Kartelle nehmen auch mehr und mehr Einfluss auf die Wahlen, die damit verbundene Gewalt trifft alle Parteien. Vor diesem Hintergrund sind Verbesserungen bei der öffentlichen Sicherheit und der Effektivität der Rechtsprechung zentrale Versprechungen der Präsidentschaftskandidatinnen.
Sheinbaum schlägt vor, die Kapazitäten und Befugnisse der Nationalgarde zu erweitern und die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften zu verbessern, um die Straflosigkeit zu verringern. Außerdem will sie die von AMLO vorgeschlagene Justizreform vorantreiben, die vorsieht, dass die Richter und Staatsanwälte vom Volk gewählt werden –ein Vorhaben, von dem viele Kritiker befürchten, dass es auf eine völlige Politisierung der Justiz hinausläuft. Gálvez ihrerseits möchte die Streitkräfte aus zivilen Aufgaben zurückziehen und sie auf die Bekämpfung des organisierten Verbrechens ausrichten. Eines ihrer bekanntesten Ziele ist der Bau eines hochmodernen Hochsicherheitsgefängnisses, das mit dem von Nayib Bukele in El Salvador geschaffenen Gefängnis verglichen wurde. Außerdem soll die Untersuchungshaft nach internationalen Standards umgestaltet werden. Máynez schließlich schlägt vor, die Militarisierung des Landes zu stoppen und die Autonomie der Justiz zu gewährleisten.
Die größten Unterschiede der Wahlprogramme gibt es in Bezug auf die Nationalgarde und den Obersten Gerichtshof der Nation. Eine der Hauptaufgaben der nächsten sechs Jahre wird darin bestehen, die operative und administrative Kontrolle über die Nationalgarde wieder in den Bereich der öffentlichen Sicherheit zu verlagern - ein Bereich, in dem der Oberste Gerichtshof als Gegengewicht zur derzeitigen Regierung fungiert hat. Experten warnen vor einer Vereinnahmung der Justiz, da AMLO fünf der elf Richter am Obersten Gerichtshof ernannt hat, was die Unabhängigkeit der Justiz schwächt.
Wirtschaft: Die Hoffnung des Nearshorings
Ein wichtiger Trend ist das sogenannte Nearshoring, die Verlagerung von Investitionen weg von China, der durch die drastische Verschlechterung der Beziehungen zwischen den USA und China befeuert wird. Das ist eine große Chance für die mexikanische Wirtschaft, denn Mexiko ist angesichts seines guten Marktzugangs in die USA bevorzugtes Zielland. Wer auch immer die Wahl gewinnt, wird dafür verantwortlich sein, dass Mexiko die Ziele der Entwicklungsagenda 2030 erreicht. Sheinbaum schlägt vor, das derzeitige Modell eines BIP-Wachstums von 3% fortzusetzen und zusätzlich die wichtigsten Häfen des Landes zu modernisieren sowie die derzeitige Politik der fiskalischen Sparsamkeit, der verbesserten Steuererhebung und der Unabhängigkeit der mexikanischen Zentralbank zur Bekämpfung der Inflation fortzusetzen. Wie AMLO wird sie sich für die Förderung des wirtschaftlich weitgehend abgehängten Südostens des Landes einsetzen, um mehr Investitionen anzulocken, aber sie wird vermutlich die von AMLO forcierte einseitige Ausrichtung der Energiepolitik auf fossile Brennstoffe beenden und erneuerbare Energien stärker fördern, um den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft mit Energiesouveränität zu fördern.
Gálvez setzt auf Nearshoring als treibende Kraft ihrer Wirtschaftspolitik: Sie schlägt Steueranreize und Verbesserungen der Infrastruktur vor, um ausländische Investitionen anzuziehen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, um Rechtssicherheit für bestehende Unternehmen und potenzielle Investoren zu schaffen. Sie wird sich auch um einen Übergang zu sauberer Energie bemühen und sich für eine Reform des hochdefizitären Staatsbetriebs Petróleos Mexicanos (PEMEX) als Erzeuger sauberer Energie und eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Privatsektor einsetzen. Maynez unterstreicht ebenfalls die Bedeutung von Nearshoring und die Förderung von Partnerschaften zwischen Staat und Privatwirtschaft, die den Unternehmen Energie-, Wasser- und Rechtssicherheit garantieren. Sein Vorschlag zielt darauf ab, die Abwanderung von Fachkräften durch Partnerschaften mit Hilfe der Universitäten zu bekämpfen, um Bildung und Forschung und die Unterstützung von Unternehmern zu stärken.
Was können wir erwarten?
Mexiko wird seine erste Präsidentin erhalten, das ist praktisch sicher. Dieser Meilenstein steht jedoch in einem Kontext der Unsicherheit und Polarisierung. Im Falle eines Wahlsiegs von Sheinbaum ist mit der Fortsetzung der von AMLO vorgeschlagenen Reformen zu rechnen, die die Gewaltenteilung geschwächt haben, indem sie die starke Kontrolle von Morena über die Legislative und die Judikative konsolidiert haben. Angesichts dieses Szenarios ist es für den Oppositionsblock von entscheidender Bedeutung, eine solide und einheitliche Position im Kongress zu erreichen, um einer möglichen absoluten Mehrheit von Morena entgegenzuwirken und so Verfassungsreformen wie die oben erwähnte Reform der Justiz zu vermeiden, die die mexikanische Demokratie weiter aushöhlen könnten.
Eine stabilisierte mexikanische Demokratie wäre ein wichtiger Faktor für die regionale Stabilität und für die Zusammenarbeit mit den USA. Dort finden dieses Jahr ebenfalls Wahlen statt, die enorme Auswirkungen auf Mexiko haben. Anders als in Mexiko wird in den USA die Migrationsfrage der Schlüssel zum Gewinn der Präsidentschaft sein, und Trump hat „die größte Abschiebeaktion der Geschichte" versprochen. Die Rolle und Politik Mexikos ist elementar für das Funktionieren oder Scheitern der US-Einwanderungspolitik: Seitdem Mexiko den Status eines sicheren Herkunftslandes akzeptiert hat, müssen Tausende von Menschen dort auf ihr Asylverfahren warten, bevor sie in die USA einreisen dürfen. Bei einer möglichen neuen Drohung mit der Einführung von Zöllen als Gegenleistung für die Unterbindung des Zustroms von Menschen in die USA könnte sich das Szenario noch verschärfen. Dabei könnte Mexiko mit einer entsprechend großen Belastung konfrontiert werden – mit der Versorgung all der Menschen, die in diesem Falle im Land hängenbleiben würden. Schon jetzt ist die Belastung groß: 2023 wurden laut UN 140,000 Asylanträge in Mexiko gestellt, und 212.000 von den USA Zurückgewiesene registriert. [1]
Die Wahlen in Mexiko bedeuten daher eine wichtige Weichenstellung in vielerlei Hinsicht. Sie werden den demokratiepolitischen und wirtschaftlichen Kurs des Landes neu bestimmen und auch einen neuen Ton für seine internationalen Beziehungen vorgeben, wenngleich die Außenpolitik im Wahlkampf keine Rolle spielt. Nach AMLOs weitgehendem Desinteresse an Außenpolitik dürften aber auch in diesem Bereich die Karten neu gemischt werden. Für Mexiko wie für die Freunde und Partner des Landes geht es am 2. Juni um wichtige Weichenstellungen.
[1] https://news.un.org/es/story/2024/04/1529046; https://www.gob.mx/inm/prensa/en-2023-se-registraron-40-8-millones-de-i…