EN

Wahl in Mexiko
Mexiko wählt seine erste Präsidentin und gibt ihr extrem viel Macht

Claudia Sheinbaum

Mexiko wählt seine erste Präsidentin und gibt ihr extrem viel Macht

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Eduardo Verdugo

Am Sonntag dem 2. Juni, wurden in Mexiko über 20.000 Wahlämter abgestimmt -  die größte Wahl in der Geschichte des Landes. Claudia Sheinbaum, ehemalige Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt und Klimawissenschaftlerin, gewann die Präsidentschaftswahlen mit mehr als dreißig Punkten Vorsprung und ist damit die erste Frau im Präsidentenamt – überdies eine Frau mit jüdischen Wurzeln. Dies sind sehr positive Meilensteine in einem immer noch vom Machismus geprägten Land, das mehrheitlich katholisch ist. Der ebenfalls überwältigende Wahlsieg der Regierungspartei im Kongress stellt demgegenüber eher ein Risiko für die mexikanische Demokratie dar, da er der Regierung die Macht zu tiefgreifenden Verfassungsänderungen gibt.

Für die Wahlen 2024 meldete das Nationale Wahlinstitut eine durchschnittliche Wahlbeteiligung von 60%, etwas weniger als bei früheren Wahlen. Dennoch zeigen die vorläufigen Ergebnisse die immer stärker zunehmende Macht der linken Regierungspartei Morena, die vom derzeitigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) gegründet wurde. Die Partei regierte 2018 nur in vier der 32 Bundesstaaten. Nach den gestrigen Wahlen, bei denen sie 7 von 9 Wahlen auf Einzelstaatsebene gewann, kontrolliert sie 24.

Das genaue Ergebnis der Kongresswahlen steht noch nicht fest, aber dort hat Morena mit seinen Verbündeten die absolute Mehrheit sicher und steuert auf eine verfassungsändernde Mehrheit von zwei Dritteln zu. Nach diesen Wahlergebnissen verlor der mexikanische Peso gegenüber dem US-Dollar fast 2%. Obwohl der Sieg Sheinbaums von den Märkten weitgehend erwartet worden war, überraschte die mögliche Supermajorität der Morena-Koalition im Kongress die Anleger. AMLOs heftige Angriffe gegen unabhängige Institutionen richteten sich in letzter Zeit stark auf den Obersten Gerichtshof. Er schlug vor, Richter und Staatsanwälte vom Volk wählen zu lassen, was eine Politisierung der Justiz und eine Schwächung der Gewaltenteilung bedeuten würde. Organisationen der Zivilgesellschaft haben vor diesen Plänen gewarnt, und es scheint, dass die Märkte diese Bedenken teilen.

Schwache Institutionen und eine brüchigere Demokratie

Eine Zweidrittel-Mehrheit im Kongress würde es Morena ermöglichen, insgesamt mehr als 20 Reformen zu verabschieden, die zuvor vom Obersten Gerichtshof blockiert worden waren. Das Gericht hatte sich in den vergangenen sechs Jahren zum wirksamsten Gegengewicht gegen die Angriffe auf autonome Institutionen entwickelt. So erklärte der Gerichtshof etwa im Juni 2023 das Präsidialdekret zur Abschaffung der Energieregulierungskommission, die für gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen der staatlichen Erdölgesellschaft, Pemex, und privaten Marktteilnehmern sorgt, für verfassungswidrig. Das Gericht erklärte auch einen Versuch zur Änderung der mexikanischen Wahlgesetze für verfassungswidrig, der eine Kürzung des Haushalts des Nationalen Wahlinstituts um 86% vorsah. In letzter Zeit konzentriert sich das Gericht darauf, autonome Einrichtungen wie das Nationale Institut für Transparenz und Zugang zu Informationen und Datenschutz vor dem Verschwinden zu bewahren. Der neue Kongress beginnt seine Sitzungen am 1. September, so dass AMLO selber einen Monat Zeit hätte, die Reformen zu verabschieden, bevor er im Oktober aus dem Amt scheidet.

Im Mai 2024 erklärte Sheinbaum, dass die richterliche Gewalt sich auf die Unterstützung der vom Kongress verabschiedeten Gesetze konzentrieren sollte. Der Oberste Gerichtshof sollte also „auf die Nation“ reagieren. Über die Problematik der dadurch ausgehebelten Gewaltenteilung verlor sie kein Wort. Im Gegenteil: Sheinbaum betonte, dass die einzige Gewaltenteilung die Teilung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht sei, die mit AMLO begonnen habe. Das sind beunruhigende Zeichen. Sowohl „The Economist“ als auch Latinobarómetro betrachten Mexiko in ihren Analysen der demokratischen Qualität der Welt als eher hybrides und nicht mehr als vollwertiges demokratisches Regime. Es besteht die Gefahr, dass die Qualität der Demokratie weiter abnimmt, wenn Präsidentin Sheinbaum diese Pläne AMLOs weiterverfolgt.

Wirtschaftliche Ungewissheit: Eine potenzielle Finanzkrise und die Hoffnung auf eine Energiewende

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine und die wirtschaftlichen Spannungen der Vereinigten Staaten mit China haben die Investitionen in Mexiko angekurbelt. In einer Welt der geopolitischen Blöcke betrachten die Märkte Mexiko als grundsätzlich stabil, mit einer Währung, die 2023 gegenüber dem US-Dollar um 15% zulegte. Dieses optimistische Szenario hat nun einen Dämpfer erhalten.

AMLO hat 2018 von seinem Vorgänger Enrique Peña Nieto ein ehr moderates Haushaltsdefizit in Höhe von 2% des BIP geerbt. Im Gegensatz dazu wird er Sheinbaum eine Haushaltslücke von 6% des BIP übergeben. Im Jahr 2024 wird der Anteil der Gesamtverschuldung am BIP bei über 50% liegen, ein besorgniserregender Wert für ein Land, das nur 17% seines BIP an Steuern einnimmt. So wird Mexiko in diesem Jahr sein größtes Haushaltsdefizit der letzten 24 Jahre verzeichnen. Besonders beunruhigend ist der Zustand des staatlichen Ölkonzerns Pemex, dessen Einnahmen aus der Ölproduktion in den letzten fünf Jahren um ca. 53 Mio. USD gesunken sind, der chronisch defizitär und  mit ca. 110 Mrd USD extrem hoch verschuldet ist. Diese Situation ist besorgniserregend, da Sheinbaum versprochen hat, die Ausgaben und Sozialprogramme beizubehalten. Sie wird höchstwahrscheinlich eine politisch gefährliche Steuerreform vermeiden, in der Hoffnung, dass eine strengere Steuererhebungspolitik ausreichen wird, um ihre Regierung zu finanzieren. Damit dieser Plan funktioniert, werden die Unternehmen wahrscheinlich mit höheren Steuern konfrontiert, und das sind keine guten Nachrichten für Investoren.

Auch Mexiko hat sich im Rahmen des Pariser Abkommens verpflichtet, seine Emissionen bis 2030 um 35% zu reduzieren. Das Land ist der zwölftgrößte Rohölexporteur, der vierzehntgrößte Treibhausgasemittent und gehört zu den zehn größten Methanemittenten.  Das Land muss seine Ziele erreichen, indem es die Möglichkeiten der Energiewende beschleunigt. Die Dekarbonisierung der staatlichen Öl- und Energieunternehmen Pemex und CFE muss Priorität haben, um nicht nur die Klimaziele der Agenda 2030 zu erreichen und Investitionen anzukurbeln, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise zu verringern.

Wenn Sheinbaum die Energiepolitik von AMLO fortsetzt, die auf Energiesouveränität und ein Zurückdrängen des Privatsektors abzielte, läuft das Land Gefahr, bald eine Energieversorgungskrise zu erleben. Das Land hat mit rekordverdächtig hohen Temperaturen zu kämpfen, was zu einer höheren Stromnachfrage führt. Die Regierung hat jedoch damit begonnen, die Genehmigungen für die Stromerzeugung an private Unternehmen zu beschränken, was zu weniger Investitionen und einem Rückgang der installierten Kapazität führt. Das betrifft ironischerweise besonders den Sektor der erneuerbaren Energien, an dem private Investoren großes Interesse haben. Sheinbaum versprach einen Übergang zu sauberen Energien, während sie gleichzeitig die beiden nationalen Energieunternehmen im Rahmen der Strategie zur Stärkung der Rolle des Staates in Energiefragen weiter begünstigen will. Es ist eine offene Frage, wie genau es in diesem zentralen Politikbereich weitergehen wird.

Die erste weibliche Präsidentin, aber eine erodierte Gewaltenteilung

Sheinbaum sieht sich aber noch mit weitaus schwerwiegenderen Herausforderungen konfrontiert, wie einer Straflosigkeit von 94%, einer Zunahme der organisierten Kriminalität, Engpässen in der Infrastruktur, Rückschlägen im Bildungs- und Gesundheitswesen und einem geringen jährlichen Wirtschaftswachstum von knapp über 2%. Bürger, zivilgesellschaftliche Organisationen, Wissenschaftler, Journalisten und Unternehmen sind sich einig, dass die öffentliche Sicherheit das dringendste Problem ist. Die sechsjährige Amtszeit von AMLO wird mit fast 180.000 Tötungsdelikten enden; das ist doppelt so viel wie in der Amtszeit von Felipe Calderón (2006-2012) und 30% mehr als in der Amtszeit von Enrique Peña Nieto (2012-2018). Einige Teile des Landes werden von kriminellen Organisationen beherrscht, die wirtschaftliche Aktivitäten und kleine Gemeinden schädigen. Mexiko gibt nur 1% seines BIP für die Sicherheit aus, und eine kriminelle Landschaft schmälert das Wachstumspotenzial des Landes und erhöht die indirekten Kosten für Unternehmen, die im Land investieren. Hinzu kommt, dass die Wahlzyklen in Mexiko und den USA alle 12 Jahre zusammenfallen. Sheinbaum wird mit dem nächsten Präsidenten der USA über Sicherheit und Migrationsfragen verhandeln müssen, um die Zusammenarbeit zu vertiefen. Gleichzeitig steht eine Überprüfung des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada an, das für Mexiko von existentieller wirtschaftlicher Bedeutung ist. Sollte Trump in den USA gewinnen, stehen Mexiko noch ungemütlichere Zeiten bevor.

Claudia Sheinbaum hat sich als treue Gefolgsfrau von Präsident Lopez Obrador positioniert, um die Kandidatur der Regierungspartei zu erreichen und die Wahl zu gewinnen. Das ist ihr eindrucksvoll gelungen. Ihr Wahlergebnis hat sogar das von AMLO 2018 übertroffen, und sie hat eine große Mehrheit im Kongress hinter sich. Bisher war es nicht in ihrem politischen Interesse, sich von AMLO abzusetzen und ein eigenständiges politisches Profil zu entwickeln. Andererseits hat sie als Regierungschefin in Mexiko-Stadt durchaus pragmatisch und professionell regiert und auch die Sicherheitspolitik verbessert. In der mexikanischen Geschichte haben sich die Präsidentschaftskandidaten stets als brave Gefolgsleute des amtierenden Präsidenten positioniert, um den Vorgänger kurz nach der Machtübernahme weitgehend kaltzustellen. Allerdings ist die Regierungspartei nahezu völlig auf AMLO zugeschnitten, was die politische Dynamik verändern könnte. Es ist daher die große offene Frage, ob sich Präsidentin Sheinbaum weiterhin die Politik von ihrem populistischen Vorgänger diktieren lassen wird oder ob sie einen eigenen pragmatischeren Stil entwickelt. Im Wahlkampf hat sie immerhin versprochen, die Polarisierung im Land abzubauen. Die mexikanischen Wähler haben ihr in einem beeindruckenden – und am Wahltag weitgehend friedlichen und professionellen – Wahlakt Vertrauen geschenkt und eine große Machtfülle übertragen. Es bleibt abzuwarten, was sie aus dieser historischen Chance machen wir