Mexiko
Mexiko zeigt seinem Präsidenten die gelbe Karte
Die Zwischenwahlen in Mexiko sind gewöhnlich ein Test der Popularität des Präsidenten. Am 6. Juni standen die umfangreichsten der Geschichte des Landes an. Neben dem Kongress, der Abgeordnetenkammer, standen Wahlen in 15 der 32 Bundesstaaten und Kommunalwahlen in vielen Städten und Gemeinden an, und das unter pandemiebedingt erschwerten Bedingungen. Die Wahlen fanden in einer besonders polarisierten Atmosphäre statt, denn der Präsident Andrés Manuel López Obrador, AMLO genannt, hat seine Amtszeit zu einer historischen Phase der „4. Transformation“ Mexikos hochstilisiert und seit seinem Wahlsieg 2018 eine Reihe von Reformen zur Umgestaltung Mexikos eingeleitet. Leider beinhaltet sein Kurs auch einen frontalen Angriff auf die autonomen Institutionen des Landes wie die Wahlbehörde, die Gerichte, die Menschenrechtskommission, autonome Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen bis hin zur Zentralbank. Bisher hatte die Regierungspartei Movimiento Regeneración Nacional (Bewegung der Nationalen Erneuerung, kurz: MORENA) eine absolute Mehrheit im Kongress und zusammen mit ihren verbündeten Parteien sogar eine Zweidrittelmehrheit, die Verfassungsänderungen ermöglichte. Die persönliche Popularität des Präsidenten blieb hoch, zwischen 50%-60%, aber die Kritik an seiner Politik nahm stetig zu.
Ein Teil der mexikanischen Wählerschaft nutzte die Wahlen, um dem Präsidenten Grenzen aufzuzeigen. Mit fast 52% lag die Wahlbeteiligung auf Rekordhöhe bei Zwischenwahlen. Seine Politik und die Polarisierung der politischen Landschaft hatten also einen klaren Mobilisierungseffekt. Mehrere Oppositionsparteien fanden sich zu einem Bündnis quer über politische Lager zusammen. Das zahlte sich auf der Ebene der Abgeordnetenkammer aus: Die repräsentative Schnellauszählung der Wahlbehörde (offizielle Ergebnisse gibt es erst ab Mitte der Woche) zeigte deutliche Sitzverluste für MORENA – von einst 256 auf bestenfalls 203 - und klare Gewinne für die Opposition. MORENA braucht nun seine Bündnispartner, die linksgerichtete Partido del Trabajo (Partei der Arbeit, kurz: PT), die sich ökologische gerierende opportunistische Partido Verde Ecologista (Grüne Ökologische Partei, kurz: PVEM) und die Partido Encuentro Solidario (Partei der solidarischen Begegnung, kurz: PES) für die einfache Mehrheit im 500 Sitze umfassenden Kongress, und selbst mit diesen reicht es nicht mehr für eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit: Von einst 332 Sitzen wird die Allianz wohl bestenfalls 292 bekommen. Der Macht des Präsidenten, das Land umzukrempeln, wurden damit deutliche Grenzen gezogen.
Am meisten zugelegt hat die ökologische Partei PVEM, die von 11 auf 40 bis 48 Sitze zulegte und damit die linke Partei der Arbeit als vierte Kraft ablöste. Sie wird dadurch für MORENA zur wichtigen Mehrheitsbeschafferin, und da ihre Allianz erst seit 2018 besteht und sehr opportunistische Züge aufweist, dürfte das den Preis für ihre weitere Unterstützung in die Höhe treiben. Die PVEM ist bei den europäischen Grünen ob ihrer Unterstützung der Todesstrafe nicht wohlgelitten.
Die katholisch-konservative Partido Acción Nacional (Partei der Nationalen Aktion, kurz: PAN), die frühere Dauerregierungspartei Partido Revolucionario Institucional (Partei der institutionalisierten Revolution, kurz: PRI) und die linksgerichtete Partido de la Revolución Democrática (Partei der demokratischen Revolution, kurz: PRD), von der sich MORENA abgespaltet hatte, legten auf Kosten MORENAs zu: die PAN von 79 auf 106 bis 117 Sitze, sie ist damit klar zweite politische Kraft im Land, und die einst stolze PRI legte von 49 auf 63 bis 75 zu.
Die sozialdemokratisch orientierte relativ junge Partei Movimiento Ciudadano (Bürgerliche Bewegung, kurz: MC), die allein antrat, überholte die PRD und baute ihre Position auf 20-27 Sitze aus.
Die Wahlen in Mexiko-Stadt
Der Wahlausgang ist maßgeblich auf die hauptstädtische Mittelschicht zurückzuführen. Mexiko-Stadt ist traditionell eine säkulare und linke Stadt, aber die autoritären Tendenzen des Präsidenten und seine permanenten Attacken gegen autonome Institutionen und die Zivilgesellschaft, verbunden mit Enttäuschung über mangelnde Qualität der staatlichen Dienstleistungen, hat dazu geführt, dass sich das politische Klima in der Hauptstadt massiv gegen MORENA richtete. Die Wähler waren offenbar gewillt, selbst konservative katholische Kandidaten der PAN zu wählen, um MORENA einen Denkzettel zu verpassen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hat die mexikanische Linke in der Hauptstadt den Kürzeren gezogen, die Mehrzahl der Bezirke fiel an die Opposition, und die Bürgermeisterin der Hauptstadt, Claudia Sheinbaum, die als potentielle Nachfolgerin von AMLO gilt, muss sich auf schwierige Zeiten einstellen. Die Stadt ist nun in einen MORENA-treuen Ostteil und einen oppositionellen Westteil getrennt, was mexikanische Witzbolde im Internet sofort zu Vergleichen mit dem geteilten Berlin inspirierte.
Umkämpfte Gouverneurswahlen
Deutlich besser schnitt MORENA allerdings auf der Ebene der Einzelstaaten ab. Dort sieht es so aus, dass MORENA wohl 11 der 15 Bundesstaaten erobert hat. Davor war MORENA nur in einem von diesen 15 Bundestaaten an der Macht. Besonders denkwürdig ist der Sieg in Guerrero, wo der ursprüngliche Kandidat der Partei, Felix Salgado, von der Wahlbehörde wegen unzureichender Unterlagen disqualifiziert worden war. Gegen ihn laufen außerdem etliche Verfahren wegen sexueller Übergriffe, und die Frauenbewegung Mexikos lief Sturm gegen seine Kandidatur – ohne Erfolg, Präsident AMLO hielt ihm die Treue und beschimpfte die Wahlbehörde massiv, als diese Salgado dennoch disqualifizierte. Stattdessen schickte MORENA Salgados Tochter ins Rennen, was Kritik ob dieser Art dynastischer Politik provozierte. Sie gewann allerdings deutlich – offenbar war das Netzwerk der Familie mächtiger als alle Bedenken.
Insgesamt ist MORENA also aus den Zwischenwahlen mit einem blauen Auge in der Abgeordnetenkammer herausgegangen. Die Partei bleibt die dominante politische Kraft des Landes und hat sich nun in mindestens 11 von der 15 Gouverneurswahlen solide verwurzelt. Andererseits beinhaltete die Wahl eine klare Abstrafung von MORENA und ein Signal, dass die autoritären Tendenzen der Partei und ihre Attacken gegen autonome Institutionen keine Unterstützung finden, sondern Widerstand hervorrufen. Eine rabiate Umgestaltung Mexikos wird damit für die nächsten drei Jahre schwer, ja fast unmöglich. Die Opposition hat sich allerdings rein negativ positioniert, eine echte Alternative zu MORENA ist noch nicht in Sicht. Eine Ausnahme bildet vielleicht die MC, deren riskante Entscheidung, sich nicht mit den abgehalfterten alten Parteien zu verbünden, mit guten Ergebnissen und einem Sieg in einem wichtigen und ökonomisch potenten Bundesstaat, Nuevo León, belohnt wurde. Es wird nun interessant sein, zu sehen, wie der Präsident mit dem Ergebnis umgeht – ob er sich weiter radikalisiert und die Polarisierung eskaliert, oder ob er auf die erstarkte Opposition zugeht und um Mehrheiten wirbt. Letzteres wäre für die mexikanische Demokratie das beste Ergebnis.
Siegfried Herzog ist Regionalbüroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für Lateinamerika.