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Europäischer Binnenmarkt
Tschechische Republik: Corona als Vorwand für Protektionismus

Das Abgeordnetenhaus hat eine protektionistische Lebensmittelquote beschlossen. Die EU muss entschlossen handeln
Supermarkt in Tschechien
Ein Supermarkt in Tschechien. Wenn es nach der Regierung geht, werden hier bald Quoten für den Anteil einheimischer Güter durchgesetzt werden. © picture alliance/dpa/CTK | Katerina Sulova

Die Covid-Pandemie scheint nicht selten als Vorwand zu dienen, den Regierenden Dinge zu erlauben, die man ihnen normalerweise nicht durchgehen lassen würde. In diese Reihen gehört auch der Beschluss des tschechischen Abgeordnetenhauses, dass es in großen Geschäften ab 2022 eine hohe Quote für im Lande produzierte Lebensmittel geben solle: Gerade in Krisenzeiten wie diesen müsse langfristig mehr Autarkie erreicht werden. Ob diese Form von absurdem Protektionismus vor der EU-Gesetzgebung zum Binnenmarkt Bestand haben kann? Man kann nur hoffen, dass das nicht der Fall ist.

Ab 2022 müssen in Tschechien, wenn es nach dem Willen des Abgeordnetenhauses geht, alle Geschäfte mit mehr als 400qm Fläche dafür sorgen, dass 55% ihrer Verkäufe  bei ausgewählten Lebensmitteln aus tschechischer Produktion kommt. Bis 2028 soll der Anteil mindestens auf satte 73% steigen. In der Änderung des Lebensmittelgesetzes hat das Abgeordnetenhaus unter anderem auch Geldstrafen für den Verkauf von Lebensmitteln doppelter Qualität gebilligt. Ein Produkt, das unter der gleichen Marke und Verpackung verkauft wird, muss EU-weit die gleiche Zusammensetzung haben, sagt der Beschluss.

Die Idee kam ursprünglich von der rechtsextremen Partei Svoboda a přímá demokracie (SPD, deutsch: Freiheit und direkte Demokratie). Gerade die Covid-Pandemie habe gezeigt, argumentierte man dort, dass Tschechien nicht von unzuverlässigen internationalen Handelsketten abhängig bleiben dürfe – so als ob bei einem so kleinen Land wie Tschechien nicht gerade die internationale Wirtschaftsverflechtung die Versorgung sicherten.

Man hätte die Idee fast als randständige populistische Verirrung – um nicht zu sagen Spinnerei – abtun können, wenn nicht viele Abgeordnete aus den beiden Koalitionsparteien ANO (Bewegung Unzufriedener Bürger) und die Sozialdemokraten (ČSSD) zusammen mit den sie als Minderheitsregierung stützenden Kommunisten auf den Zug aufgesprungen wären. Damit war eine satte Mehrheit für das Vorhaben erreicht. Allerdings: Von den insgesamt 200 Abgeordneten des Abgeordnetenhauses nahm nur die Hälfte an der Abstimmung teil.

Ökonomische Ignoranz

Die Gesetzesänderung, die noch nicht in Kraft ist, scheint von einer geradezu erschreckenden ökonomischen Ignoranz der Gesetzgeber zu zeugen – und das in einem Land, das bis dato eigentlich zu den wirtschaftspolitischen Musterknaben unter den ex-kommunistischen Transformationsländern gehörte. Kritiker des Beschlusses befürchten, dass die Qualitätsstandards tschechischer Lebensmittel durch den Protektionismus noch einmal sinken könnten. Immerhin haben die Initiatoren – erahnend, dass Hohn und Spott zum Thema „tschechische Bananen“ die Folge wären – die Quote auf zirka 120 der mehr als 15.000 verkauften Lebensmittel beschränkt, die in Tschechien produziert werden können. Die neue Verpflichtung sollte unter anderem tschechische Eier, Fleisch oder Gemüse betreffen.

Das ist aber nur auf den ersten Blick weniger absurd als eine allgemeinere Quote. Schon kurz nach der Verkündung meinte der Verband der Weinbauern, dass die heimischen Weingebiete gar nicht so viel Wein produzieren könnten, um die Quote zu erfüllen. Das gilt auch für eine Reihe anderer Produkte, die zwar in Tschechien produziert werden können, aber nicht in den notwendigen Mengen. Tomáš Prouza, Präsident des Tschechischen Handels- und Tourismusverbandes, meinte, dass tschechische Kunden durch die Vorlage bei den ausgewählten Lebensmitteln am Ende 15 bis 20% Preissteigerungen hinnehmen müssten. In einer Erklärung stellte er fest, das Gesetz stehe „im Widerspruch zu den Interessen der Verbraucher und faktisch auch der ehrlichen tschechischen Hersteller von Qualitätslebensmitteln, die ein natürliches Interesse daran haben, dass ihre Produktion nicht sinnlos bürokratisch vorgegeben wird.“

Für die meisten Lebensmittelgeschäfte birgt die Gesetzesänderung nämlich in der Tat ein hohes Bürokratierisiko, wie die folgende Detailregelung zeigt: Danach wird nicht das Angebot quotiert, sondern die Nachfrage, sprich der Verkauf der Produkte. So will der Gesetzgeber verhindern, dass zwar in den Regalen Produkte gemäß Quote auslägen, dass aber tatsächlich die verbleibenden ausländischen Produkte von den Kunden gekauft und anschließend von den Händlern nur schneller in den Regalen nachgefüllt würden. Die Durchführung und der Kontrollaufwand dieser Regel wären immens, ja geradezu absurd. Ein Kunde, der gerade zwei Flaschen französischen Wein kaufen möchte, könnte an der Kasse die Nachricht erhalten, dass er zurück zum Regale gehen müsse, um die zweite Flasche gegen einen mährischen Neronet einzutauschen, da diese gerade die Quote erfüllt habe.

Interessenkonflikt des Ministerpräsidenten

Protektionistische Maßnahmen sind (wie auch diese) in der Regel gegen die Kunden und auf den Vorteil von Anbietern gerichtet. Es ist daher erstaunlich und spricht umso vehementer für den Unsinn dieses Gesetzes, dass sich der Handelsverband und etliche andere Anbieter und Produzenten mit dem Ausdruck des Befremdens gegen die neue Regelung ausgesprochen haben. Eher die Ausnahme waren die Landwirtschaftskammer der Tschechischen Republik oder einige der großen tschechischen Lebensmittelkonzerne, wo es vereinzelt Zustimmung gab.

Damit wären wir bei dem eigentlichen Politikum, das die Gemüter bewegt. Der größte tschechische Lebensmittelkonzern „Agrofert“ gehörte Ministerpräsident Andrej Babiš, der zugleich Vorsitzender der größten Regierungspartei ANO ist, die die Gesetzänderung unterstützte. Babiš wird immer wieder vorgeworfen, dass er gerne Politik und Geschäftsinteressen vermische. Es laufen zur Zeit Verfahren zu Subventionsbetrug und Interessenkonflikten. Kein Wunder, dass im Zusammenhang mit dem Quotengesetz Verdächtigungen aufkommen, denn der Agrofert-Konzern wäre ganz zweifellos ein Profiteur des Gesetzes. Aufgrund von politischem Druck wird Agrofert zurzeit zwar offiziell von einer „neutralen“ Treuhand geführt. An deren Unabhängigkeit von Babiš zweifelt aber nicht nur die EU, sondern auch die Opposition – vor allem, weil in Gremien der Treuhand Babiš’s Ehefrau mitwirkt und weil die Firma nach seiner Amtszeit als Ministerpräsident wieder an ihn zurückfällt.

Babiš hat sich daher öffentlich weitgehend aus der aktuellen Debatte herausgehalten. Der Abstimmung im Abgeordnetenhaus blieb er fern. Einige Insider sagen, er persönlich stehe der Gesetzänderung skeptisch gegenüber, da er in der Öffentlichkeit schon genügend Druck wegen seiner politisch-geschäftlichen Interessenkonflikte bekomme. Den Streit um die Lebensmittelquoten innerhalb ANO haben auch manche Abgeordneten aus der Partei bestätigt. Babiš selbst hat die Genehmigung der Lebensmittelquoten kritisiert. „Ich habe diesen Vorschlag nicht initiiert oder unterstützt und halte ihn für eine völlig unnötige politische Geste, die im Widerspruch zum Funktionieren des Binnenmarkts der Europäischen Union steht“, sagte Babiš gegenüber der Presse.

Aber Zweifel bleiben. Denn es bleibt immer noch die Frage, warum die Fraktion der ANO-Partei, die er normalerweise recht straff führt, so geschlossen für die Quote stimmte – eine Partei, die immerhin der liberalen ALDE-Gruppe angehört, wo das Bekenntnis zum freien Handel und erst recht den Grundsätzen des EU-Binnenmarktes eigentlich in Fleisch und Blut übergegangen sein müsste. Selbst die Vizepräsidentin der EU-Kommission und Kommissarin für Werte und Transparenz Věra Jourová, die der ANO-Partei gehört, kritisterte die Vorlage: „Es macht für mich keinen Sinn, es wird den tschechischen Verbrauchern schaden, es wird das Angebot auf dem Markt einschränken, es wird die Preise erhöhen." Sie wies auch darauf hin, dass Tschechien ein Exportland sei, gleichzeitig würde es jedoch die Importe gesetzlich einschränken. „Das kann nicht funktionieren“, meinte Jourová.

Geschlossene Opposition

Auch wenn im tschechischen Abgeordnetenhaus die Regierungsmehrheit – vergrößert um die Rechtsextremen – steht, ist noch nicht klar, ob und wann das Gesetz überhaupt in Kraft tritt. Die nächste Hürde ist die zweite Kammer des Parlaments, der Senat, in dem oppositionelle und unabhängige Abgeordnete die überwältigende Mehrheit bilden. Es ist damit zu rechnen, dass der Senat das Gesetz zurückweisen und/oder mit zahlreichen Änderungen versehen wird. Dann ist das Abgeordnetenhaus gezwungen, noch einmal darüber abzustimmen und mit einer absoluten Mehrheit (101 Stimmen im 200-köpfigen Abgeordnetenhaus) den Senat zu überstimmen, was in der Regel nicht ohne Änderungen abläuft. Falls die Vorlage im Abgeordnetenhaus doch durchgesetzt wird, haben schon einige Politiker ihre Bereitschaft angekündigt, eine Verfassungsbeschwerde einzureichen.

Und dann sind da noch vor einem möglichen Inkrafttreten die allgemeinen Wahlen zum Abgeordnetenhaus, die im Oktober stattfinden. Dort sah es lange so aus, als ob die Regierung ihre Mehrheit gut verteidigen könnte. Inzwischen hat sich die bisher zersplitterte Opposition weitgehend auf gemeinsame Strategien geeinigt und nach den aktuellen Umfragen ist ein Sieg Babiš’s durchaus unsicher. Und gerade in der Frage der Lebensmittelquoten sind sich die Oppositionsparteien unisono einig. Selbst, wenn das Gesetz in der zweiten Runde durchkäme, wäre nicht gesichert, ob es nicht nach der Wahl im Oktober doch noch einkassiert würde.

Eine Gefahr für die Offenheit Europas

Aber natürlich bedarf es auch des Drucks von außen. Die Botschafter von Deutschland, Italien, Polen, Frankreich und vier anderer Länder haben in einem Brief an Jaroslav Faltýnek (ANO), den Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses, ihre Bedenken geäußert, dass das Gesetz in die nach EU-Recht verbrieften Freiheiten anderer EU-Länder eingreife. Tatsächlich muss das Gesetz gerade der deutschen Seite Kummer bereiten. Und das nicht nur, weil dessen Befürworter bei der Debatte sich auch in Ressentiments ergingen: „Schauen Sie, wenn Sie Kaffee trinken, welche Milch Sie hineingeben. Sie alle gießen deutsche Milch in den Kaffee“, zündelte Landwirtschaftsminister  Miroslav Toman von den Sozialdemokraten bei der Debatte. „Deshalb brauchen wir das Gesetz.“ Tschechien war bisher – unabhängig von der jeweils regierenden Partei – innerhalb der EU ein wesentlicher Unterstützer deutscher Positionen zur Offenheit europäischer Märkte. Nicht zuletzt durch den Brexit fühlt sich die Gruppe der Unterstützer offener Märkte eher unter Druck und ist kleiner geworden. Protektionistische Strömungen werden stärker. Tschechiens Lebensmittelquote ist daher kein bloßes Problem einer vereinzelten wirtschaftspolitischen Verirrung in der Panik über die Covid-Pandemie.

Und natürlich ist die EU selbst auch gefragt. Bereits im Vorfeld hat die EU-Kommission Zweifel daran geäußert, ob das Gesetz mit den Binnenmarktregeln konformgehe und nicht andere EU-Länder diskriminiere. Man warte noch ab, behalte sich aber ein Vorgehen dagegen vor. Lässt sich das Gesetz in nächster Zeit nicht stoppen, dann dürfte eine Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eigentlich unvermeidlich sein. Wer den Binnenmarkt der EU intakt halten will, kann nur hoffen, dass ein Urteil das Gesetz schnell zu Fall bringt. Gerade in den Zeiten von Covid kann sich Europa ein solches Zündeln mit protektionistischen Maßnahmen nicht leisten.

Dr. Detmar Doering ist Leiter des Stiftungsbüros in Prag, Natálie Maráková ist Projektmanagerin für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten.