Europapolitik
EU und Ungarn: Ziemlich beste Feinde
Fünfzig Milliarden Euro – um diese Summe ging es beim Gipfel des Europäischen Rates am 14. Dezember. In Aussicht gestellt wurden sie der Ukraine. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán allerdings legte sein Veto ein.
Erst am Vortag hatte die Europäische Kommission 10,2 Milliarden Euro für Budapest freigegeben; Gelder, die zunächst eingefroren worden waren, wegen der fortwährenden Angriffe der ungarischen Regierung auf elementare Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Die Kommission begründete die Freigabe der Mittel damit, dass Ungarn glaubhafte Anstrengungen unternehme, auf den Pfad der rechtsstaatlichen Tugend zurückzukehren.
Reformen rein kosmetischer Natur
Teile des Europäischen Parlaments sahen das anders: Die Gelder seien, so der Vorwurf, vor allem deswegen freigegeben worden, damit der notorische Nein-Sager Orbán am nächsten Tag die Gelder für Kiew nicht blockiert. Was Budapest als Justizreformen verkaufe, sei rein kosmetischer Natur. Eine Belohnung habe er deshalb keinesfalls verdient, zumal keine im Vorhinein.
Orbán selbst schmückt sich seinerzeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit der Installation eines Nationalen Justizrats, eines vorgeblich neutralen Gegengewichts zur parteipolitisch durchwirkten und gelenkten dritten Gewalt. Die Mitglieder dieses Rats sollen allerdings erst in diesen Tagen ernannt werden. Ein Terminplan, der der spendierfreudigen Europäischen Kommission den Vorwurf der Leichtgläubigkeit eingehandelt hat.
Zur Abstimmung den Tagesraum verlassen
Schon Anfang Oktober wurden Überlegungen laut, Budapest etwas anzubieten, auf dass es die Politik der EU in Sachen Ukraine-Unterstützung nicht weiter torpediert. Auf eine Entschärfung des Konflikts hatten unter anderem die spanische Ratspräsidentschaft, Frankreich und Deutschland gedrängt. Die Milliarden, die im Vorfeld des Gipfels für Ungarn freigegeben worden waren, haben trotz allem nicht dazu geführt, Orbán von seinem Veto gegen die Ukraine-Hilfsgelder abzubringen.
Auf dem Ratsgipfel Mitte Dezember stand noch ein weiteres Thema zur Abstimmung: der Beginn von Beitrittsgesprächen mit dem EU-Aspiranten Ukraine. Da in dieser Frage Einstimmigkeit erforderlich ist, Orbán aber nie einen Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer Aufnahmeperspektive für Kiew gemacht hat, kam es zur mittlerweile schon legendären Kaffeepause. Orbán hatte zur Abstimmung den Tagungssaal verlassen – und konnte folglich auch kein Veto einlegen. Die Entscheidung fiel zugunsten der Aufnahme von Beitrittsgesprächen aus. Auch in diesem Fall liegt der Verdacht nahe, dass die Aussicht auf 10,2 Milliarden dabei geholfen haben könnten, die Entscheidung nicht mit einem Veto zu verkomplizieren.
Brachialer Kämpfer gegen Brüssel
Über die Motive des Ungarn-Premiers hat sich die Politik europaweit den Kopf zerbrochen. Spaniens Regierungschef Sánchez, die deutsche Außenministerin Baerbock, Frankreichs Präsidenten Macron oder der Vorsitzende des Europäischen Rates Charles Michel. Sie alle haben vor dem Gipfel auf Orbán einzuwirken versucht, auf dass er die Ukraine unterstützt – vergebens. Mehr noch: Orbán hat seine Position innerhalb der EU durch seinen Hang zur Theatralik noch gestärkt. In Ungarn selbst kann er sich nunmehr als patriotisch und unbeugsam inszenieren, als brachialer magyarischer Kämpfer gegen die Brüsseler Bürokratie.
Durch das Einstimmigkeitsprinzip macht sich die Europäische Union angreifbar. Als Reaktion auf das vermeintliche Geschachere zwischen Brüssel und Budapest haben 120 Abgeordnete eine Resolution ins EU-Parlament eingebracht, die Mitte Januar mehrheitlich angenommen worden ist. Nun untersucht der Rechtsausschuss des Parlaments die Gründe, die zur Freigabe der 10,2 Millionen Euro an Budapest geführt haben. Falls der Rechtsausschuss zu dem Ergebnis kommt, dass ein Fehlverhalten vorliegt, könnte es zu einer Klage gegen die Kommission beim Europäischen Gerichtshof kommen.
Auf der Prioritätenliste weit oben
Zugleich haben die Initiatoren der Resolution, unter anderem Abgeordnete der liberalen „Renew Europe“-Fraktion, die Forderung erhoben, Ungarn das Stimmrecht im Europäischen Rat zu entziehen.
Die Resolution selbst mag eher in die Kategorie Symbolpolitik fallen. Dennoch hat das Parlament mit der Verabschiedung deutlich gemacht, dass die Unterstützung der Ukraine auf der Prioritätenliste der EU weit oben stehen sollte, und dass es nicht zulässig ist, die Gemeinschaft zu erpresst. Die Resolution zeigt aber auch, dass das Parlament bereit ist, die Entscheidungen der Kommission kritisch zu hinterfragen.
Für die politische Hygiene ein Problem
Ungarn hat nun zwei Optionen. Es könnte vorschlagen, zunächst nur einen Teil der fünfzig Milliarden Euro an Hilfsgeldern an die Ukraine freizugeben und dann jedes Jahr über weitere Tranchen abzustimmen. Damit hätte Orbán allerdings erneut eine Chance, die EU zu erpressen.
Die Kommission hat kürzlich eine andere Alternative ins Spiel gebracht. Sie schlägt vor, Ungarn eine Ermäßigung seiner Beiträge für den Next Generation Fond zu gewähren. Dadurch würde das Land einen einstelligen Milliardenbetrag einsparen. Für die politische Hygiene innerhalb der EU wären beide Optionen nicht gut. Und das eigentliche Problem bliebe ungelöst.
Mit Fico neuer Verbündeter
Die Wahrscheinlichkeit, dass Ungarn sein Stimmrecht bei Entscheidungen des Europäischen Rates entzogen bekommt, ist allerdings auch sehr gering. Damit das passiert, müssten die anderen 26 Mitgliedstaaten geschlossen ihre Zustimmung geben. Mit Robert Fico, dem neuen slowakischen Ministerpräsidenten, hat Orbán allerdings einen neuen Verbündeten in der EU-Staatenfamilie. Fico ist zwar Linkspopulist, hat über die EU allerdings eine ähnlich schlechte Meinung wie sein Kollege aus Budapest. Die Bemühungen der EU, Ungarn das Stimmrecht zu entziehen, wertet Fico als Angriff auf die staatliche Souveränität des Nachbarn.
Die Abstimmung über das Hilfepaket für die Ukraine wurde auf den nächsten Gipfel des Rates am 2. Februar verschoben. Entschieden wird dann nicht nur über Hilfe für die Ukraine, wo es um Leben und Tod geht – und wo das Geld dringend gebraucht wird, nachdem die USA mit weiterer Unterstützung zögern. Der Rat wird auch darüber entscheiden, ob er sich durch Erpressungen einzelner Mitglieder beeindrucken lässt oder zu den europäischen Werten steht.