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Ostasien
Japans neuer Premier: Shigeru Ishiba

Shigeru Ishiba wird der nächste Regierungschef Japans.

Shigeru Ishiba wird der nächste Regierungschef Japans.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Hiro Komae

Japans künftiger Regierungschef steht vor der Aufgabe, Japans sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA und die wirtschaftlichen Beziehungen zu China in Einklang zu bringen.

Japans ehemaliger Verteidigungsminister Shigeru Ishiba ist zum Präsidenten der Liberaldemokratischen Partei (LDP) gewählt worden. In der Stichwahl setzte er sich knapp gegen Sanae Takaichi durch, die im Falle ihres Sieges Japans erste Premierministerin geworden wäre. Ishiba folgt auf den scheidenden Fumio Kishida, der nach einer Reihe von Partei-Skandalen seinen Rücktritt angekündigt hatte.

Da die konservative LDP die Mehrheit im Parlament hat, gilt es als sicher, dass der 67-jährige Ishiba am 1. Oktober zum neuen Regierungschef von Japan gewählt wird. Sollte er danach das Parlament auflösen, um auch das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler einzuholen, hätten er und seine Partei sehr gute Chancen, die Mehrheit zu halten. Die LDP stellte seit ihrer Gründung 1955 außer in den Jahren 1993, 1994 und von 2009 bis 2011 stets die Regierung.

Politisch gehört Ishiba zum eher progressiven Flügel der LDP. Die Partei hat zwar das Wort “liberal” im Namen, ist aber für europäische Verhältnisse sehr konservativ. In seiner langen politischen Karriere war Ishiba mehrfach mit den Positionen seiner Partei über Kreuz. So äußerte er sich kritisch gegen Japans Bestrebungen, wieder verstärkt Atomenergie zu nutzen. Beim Thema gleichgeschlechtliche Ehe ist seine Haltung nicht ganz so ablehnend wie die der meisten seiner Parteikollegen und -kolleginnen.

Ishiba, der ein Faible für alles Militärische hat, gilt als Experte für Sicherheits- und Außenpolitik. Hier steht das Land vor großen Herausforderungen. Wie Deutschland steht Japan vor einem Dilemma: Die Sicherheit des ostasiatischen Landes hängt von den Vereinigten Staaten ab, während es wirtschaftlich eng mit China verbunden ist. Das Land steht vor dem schwierigen Balanceakt, wirtschaftlich weiter von Chinas Aufstieg zu profitieren und gleichzeitig geopolitische Risiken zu minimieren.

Die Risiken nahmen zuletzt deutlich zu. In Japans Nachbarschaft rüstet Nordkorea kontinuierlich nuklear auf und testet nahezu wöchentlich Raketen. Vor allem aber tritt China immer aggressiver auf und erhebt Machtansprüche im Ostchinesischen und Südchinesischen Meer. Japan ist davon betroffen. Es kontrolliert die von China beanspruchten Senkaku-Inseln. Dort verletzen regelmäßig chinesische Flugzeuge und Schiffe Japans Souveränitätsrecht. Das passiert auch in anderen Gegenden: bei den Danjo-Inseln drang im August ein chinesisches Spionageflugzeug in den japanischen Luftraum ein. Japan schickte Jäger, um das chinesische Flugzeug zur Umkehr zu drängen.

Selbstbewusstes Japan

Japan könnte sich im Falle eines Konflikts um Taiwan oder im Südchinesischen Meer angesichts der massiven US-Präsenz im eigenen Land kaum heraushalten. Der frühere Premierminister Shinzo Abe sagte einst, dass ein Taiwan-Konflikt auch ein Konflikt für Japan und die Japan-US-Allianz sei. Japan würde wohl zumindest logistische Unterstützung für die USA und Taiwan leisten - und damit wohl selbst zur Konfliktpartei und zu einem möglichen Ziel Chinas werden. Zudem sorgt sich Japan wegen der chinesischen Bedrohung um Sicherheit und Freiheit wichtiger Handelswege.

Trotz der kontinuierlichen Drohungen und Provokationen Chinas lässt sich Japan nicht einschüchtern. Unter dem scheidenden Regierungschef Kishida trat es zunehmend selbstbewusster auf. Erst diese Woche fuhr der japanische Zerstörer JS Sazanami durch die Taiwan-Straße. Es ist das erste Mal, dass Japan sich an einer derartigen Operation zur Sicherstellung der Freiheit der Schifffahrt in diesem Seegebiet beteiligt.  Laut dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) ist die Taiwanstraße zwar ohnehin frei passierbar. Die Volksrepublik sieht die Durchquerung der Straße jedoch als Verletzung der Ein-China-Politik an. Im September passierten auch zwei deutsche Kriegsschiffe trotz Warnungen der Volksrepublik die Taiwan-Straße.

Ob Japan eine solche Aktion unter Ishiba wiederholt, muss sich zeigen. Zwar gilt er als Unterstützer der taiwanischen Demokratie - was er unter anderem im August mit einer Taiwan-Reise unter Beweis stellte. Allerdings warnte er auch davor, die von China ausgehende Gefahr zu überschätzen und China zu feindlich gegenüber zu treten. Auf seiner Reise nach Taiwan distanzierte er sich von einer berühmten Aussage von Premierminister Kishida. Der hatte mehrfach wiederholt, dass Ostasien von morgen die Ukraine von heute sein könnte - und bezog das auf die Taiwan-Frage. Gleichzeitig betonte Ishida auf Taiwan, wie wichtig es sei, auf Abschreckung zu setzen.

Allerdings war auch die bisherige China-Politik der Regierung nicht wirklich konfrontativ. Zwar hat Japan in den vergangenen Jahren versucht, die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Volksrepublik zu reduzieren. Doch die Strategie zielt dabei vor allem darauf, Rohstoff- und Güterimporte weiter zu diversifizieren und nicht darauf, den Handel mit China insgesamt zu verringern. China ist weiterhin Japans wichtigster Handelspartner. In vielen Bereichen will die Regierung den Handel mit der Volksrepublik weiter ankurbeln. So vereinbarten Japan, China und Südkorea jüngst, Verhandlungen über ein trilaterales Freihandelsabkommen wieder aufzunehmen. Es ist davon auszugehen, dass Ishiba diese Strategie weiter fortsetzen wird.

Bei den Beziehungen zu den USA könnte es zu einer leichten Verschiebung kommen. Kishida setzte sehr stark auf die USA als Bündnispartner. Amerikaner und Japaner einigten sich in diesem Jahr unter anderem darauf, dass die USA wieder ein Joint Forces Command Hauptquartier in Japan einrichten werden. Die Befehlsgewalt über die auf 15 Basen verteilten rund 55.000 in Japan stationierten US-Soldaten liegt damit wieder bei einem in Japan stationierten amerikanischen Drei-Sterne-General. Zuvor wurden diese Truppen von Hawaii aus kommandiert.

Ishiba schlug im Wahlkampf etwas andere Töne an. Japan solle künftig unabhängiger von den USA sein. Er verlangte mehr Mitspracherecht darüber, wie amerikanische Truppen in Japan verteilt werden und unter welchen Bedingungen die Amerikaner sie einsetzen würden. Außerdem brachte er die Idee einer asiatischen NATO unter Japans Führung ins Spiel. Der Vorschlag stieß in Washington auf Skepsis. Trotz dieser Vorschläge und Forderungen ist nicht davon auszugehen, dass Ishiba die Allianz mit den Amerikanern zu sehr strapaziert.

Abschied vom Pazifismus

Eine Entwicklung könnte Ishiba beschleunigen: Japans Abkehr vom in seiner Verfassung verankerten Pazifismus. In Kapitel 9 heißt es, das japanische Volk "verzichtet auf alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten." In Absatz zwei heißt es: “Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegführung wird nicht anerkannt.” Allerdings wird der Pazifismus-Absatz sehr frei interpretiert. Japan hat schlagkräftige "Selbstverteidigungsstreitkräfte". Japans Premier Kishida trieb im Dezember 2022 die Abkehr vom Pazifismus mit drei wichtigen strategischen Beschlüssen voran: mit einer Nationalen Sicherheitsstrategie, einer Nationalen Verteidigungsstrategie und einem Verteidigungsaufbauprogramm. Dem angehenden Premier Ishiba geht das nicht weit genug. Er plädiert dafür, den zweiten Absatz des Artikels komplett zu streichen.

Japans Zeitenwende

Japan rüstet drastisch auf. Ishiba wird das sicherlich fortsetzen. Mehr als 300 Milliarden US-Dollar will die Regierung zwischen 2022 und 2027 in das Militär investieren. Die jährlichen Verteidigungsausgaben dürften so von rund einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf mehr als zwei Prozent steigen. Mit dem Geld will das Land unter anderem Raketen kaufen - und diese, wenn notwendig sogar präventiv einsetzen. Japan erwirbt unter anderem 400 Tomahawk-Raketen von den USA. Aufgrund der angespannten Weltlage zogen die Japaner den Kauf ein Jahr vor. Die Marschflugkörper mit einer Reichweite von 1.600 Kilometern können von Japan aus Nordkorea und weite Teile Chinas erreichen.

Auf der Suche nach weiteren Partnern

Angesichts seiner Idee einer asiatischen NATO dürfte Ishiba versuchen, weitere sicherheitspolitische Kontakte zu anderen Ländern zu schließen. So laufen beispielsweise Gespräche zu einer Kooperation mit dem Militärbündnis AUKUS, dem Australien, das Vereinigte Königreich und die USA angehören. Es geht um eine Beteiligung Japans an der sogenannten zweiten Säule des Bündnisses, unter welcher militärtechnische Zusammenarbeit verbessert werden soll.

Zudem dürfte die weitere Aussöhnung mit Südkorea ein wichtiges Thema werden. Die zwei liberalen Demokratien haben eigentlich ähnliche Interessen und Werte. Das Verhältnis ist aufgrund von Menschenrechtsverletzungen während der japanischen Kolonialherrschaft über Südkorea stark belastet. Der aktuelle südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol hat sich während seiner Amtszeit um ein deutlich besseres Verhältnis bemüht. Doch ein aktueller Streit über die Erinnerung an das Leid südkoreanischer Zwangsarbeiter in einer japanischen Goldmine zeigt, wie fragil das Verhältnis der beiden Staaten weiterhin ist.

Im Vergleich zu vielen seiner LDP-Konkurrenten gilt Ishiba als relativ rücksichtsvoll gegenüber dem südkoreanischen Nachbarn. Im Wahlkampf lobte er die Annäherungspolitik von Präsident Yoon. Einige seiner Rivalen hingegen pilgerten zum Yasukuni-Schrein, wo neben Millionen Kriegstoten auch Kriegsverbrechern gedacht wird. In China und Südkorea lösen die Schrein-Besuche hochrangiger Politiker stets heftige Proteste aus. Ishiba besuchte den Schrein nicht.

 

Frederic Spohr leitet das Projektbüro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Seoul.