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Der Liberalismus, ein Gegenmittel für Korruption
Die rumänische Europaabgeordnete Ramona Strugariu darüber, die rechtsstaatliche Tagesordnung von einer Protestbewegung auf EU-Ebene zu bringen
Die 2010er Jahre waren eine turbulente, aber auch äußerst fruchtbare Zeit für die rumänische Demokratie. In zehn Jahren hat das Land elf Mal die Regierung gewechselt, es gab im Sommer und im Winter unzählige Nächte lang Massenproteste am Piata Victoriei in Bukarest. Aus verschiedenen Gründen hatte sich die Zivilgesellschaft erhoben: gegen die Erschließung einer Silbermine im Reservat Rosia Montana, zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und insbesondere gegen die Korruption und Misswirtschaft, die den Tod von über 60 Menschen nach einem Brand im Colectiv-Nachtclub im Jahr 2015 zu verantworten hatte. Ein Kabinett nach dem anderen wurde gestürzt, Politiker, die im besten Falle noch als obsolet betrachtet wurden und im schlimmsten Fall als Gefahr, mussten gehen.
Diese bürgerliche Mobilisierung erreichte viel mehr als die ganzen Regierungsumbildungen, die am Ende sowieso aus denselben alten Gesichtern bestand. Diese Unruhen auf den Straßen der größten Städte Rumänien hatten auch ihr Gutes. Aus den Bewegungen entstanden Parteien, mehrheitlich liberaler Gesinnung und neue politische Gesichter betraten die Bühne. Ein Gesicht, das besonders herausragt, gehört Ramona Strugariu.
Von den öffentlichen Plätzen Bukarests zum Espace Léopold
Strugariu ist derzeit als Mitglied der Renew Europe Gruppe im Europäischen Parlaments (MEP) vertreten. Sie studierte Rechtswissenschaften und hat mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung im NGO-Bereich. Sie stellte sich für ein Amt für die liberale Partei PLUS (Partei der Freiheit, Einheit und Solidarität) zur Wahl. Die Partei PLUS entstand 2018 als Bürgerbewegung auf den öffentlichen Plätzen von Bukarest und kooperiert heute mit der anderen aufstrebenden politischen Partei Uniunea Salvați România (dt.: Union rettet Rumänien), welche ebenfalls als Bürgerbewegung begann. Bei beiden Parteien handelt es sich um Mitte-Rechts- Parteien im liberalen Spektrum.
Warum aber schließt man sich einer neuen Bewegung an und nicht der klassischen rumänischen liberalen Partei? „Ich habe ihnen nicht getraut“, sagt Strugariu, die bis zu den Anti-Korruptions-Protesten im Winter 2017 nie daran gedacht hatte, irgendwann einmal in die Politik zu gehen, sondern sich auf ihre Arbeit im NGO- und internationalen Handelssektor in Brüssel konzentrierte. „Gleichzeitig war ich in der Zivilgesellschaft in Rumänien eingebunden, ich war damals eine der Stimmen der Bürger. Natürlich war ich unter diesen vielen Menschen auf den Straßen, wenn mal wieder etwas zutiefst falsch mit unserer Gesetzgebung lief… und ich hatte die Korruption ganz oben gesehen, die zu dem großen Brand im Colectiv- Club führte“, sagt sie.
Der Wendepunkt
Für sie kam der Wendepunkt 2015 mit dem tragischen Ereignis, das Rumänien so sehr erschütterte. . „Es offenbarte die absolute Inkompetenz der Regierungspartei und der Regierung, die Schwäche des Gesundheitssystems und die Tatsache, dass die Folgen absolut tragisch sein werden, sollten wir keine tiefgreifenden Veränderungen vornehmen“, sagt Strugariu. Nach dem Vorfall versuchten sie und andere Rumänen aus der Diaspora, den Überlebenden des Feuers durch Spendenaktionen zu helfen, aber für Strugariu war schnell klar, dass die Probleme viel tiefer lagen. „Die absolut unglaublichen Elemente eines sehr, sehr kranken Systems waren auf einmal sichtbar. Die dramatische Konsequenz davon war, dass aufgrund von Gleichgültigkeit und Inkompetenz Menschenleben verloren gingen. Es war der Moment, als mir klar wurde, dass man als Mitglied der Zivilgesellschaft zwar für eine bestimmte Zeit etwas im eigenen Umfeld bewegen kann, will man die Dinge aber systematisch verändern, dann muss man den nächsten Schritt machen und in die Politik gehen. Denn systematische Veränderungen entstehen nur in der Politik.“
Nachdem die USR-PLUS-Koalition zu einer im Europaparlament vertretenen starken politischen Kraft aufgestiegen war, tritt Strugaru auch auf europäischer Ebene engagiert auf. „Das ist unser Kampf: für diese Werte, für den Kampf gegen die Korruption, für die Unabhängigkeit der Justiz. Ich habe ständig wiederholt, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist. Sie ist nicht etwas, das einfach passiert und das uns für ewig erhalten bleibt, wenn wir nichts dafür tun, auch ist die EU keine Selbstverständlichkeit, die leicht zu erhalten ist“, warnt sie. Für sie finden heute überall in Europa ähnliche Prozesse wie in Rumänien statt. Die Bürger erheben sich und laufen gegen eine Wand aus Inkompetenz, Korruption und Autoritarismus.
Als Beispiele nennt sie die jüngsten Protestbewegungen in Bulgarien und Weißrussland, die sie beide unterstützt. Ihre Tweets zur Unterstützung der bulgarischen Anti-Regierungs- und Anti-Transplantations- Proteste erhielten in Sofia große Zustimmung (sie schrieb: “Bulgarien, Du bist nicht allein. Wir sind nicht blind. Demokratische Grundrechte sind nicht verhandelbar"). Mit ihr verabschiedete der EP-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) einen Beschluss zu Bulgariens Versäumnissen in der Rechtsstaatlichkeit. Das gab den Demonstranten Auftrieb und signalisierte, dass sie nicht allein sind und dass sich immer noch jemand in Europa um Rechtsstaatlichkeit in ihrem Land kümmerte.
Die Erhaltung der Demokratie ist eine tägliche Herausforderung
Strugariu ist der Ansicht, dass eine lebendige Medienlandschaft ein weiteres wesentliches Element für die Erhaltung einer gesunden Demokratie ist. „Wenn man ein echtes Machtgleichgewicht in einem Staat haben möchte, dann reicht es nicht aus, eine separate Judikative, Exekutive und Legislative zu haben. Man muss sich immer auf den vierten Grundpfeiler beziehen, welcher die freien Medien sind“, sagt sie. „Denn wenn das oligarchische System oder jede Art von ausländischer Einmischung, Propaganda oder Desinformation unsere Medien beeinflusst, erschüttert es unsere demokratischen Strukturen in einem Ausmaß, das wir nicht einmal bemerken“, fügt sie hinzu. Als Liberale sieht sie die Antwort auf dieses Problem jedoch nicht in Einschränkungen. „Die Antwort ist keine Zensur, sondern starke unabhängige Medien, Bildung und eine sehr gut informierte Gesellschaft, die weiß, wie man Informationen bezieht, die Zugang zu einer Vielzahl von Quellen hat und die an Pluralismus glaubt. Das erfordert Lösungen, die nicht über Nacht entstehen können. Es erfordert viel Widerstandsfähigkeit und viel Einsatz, Einsatz von Regierung und Gesellschaft zugleich.“
Die Europaabgeordnete ist der Ansicht, dass die EU viel mehr tun könnte, um das Verständnis ihrer Bürger für die Mechanismen der Union zu stärken. Sie könnte mehr tun, indem die EU den Bürgern erklärt, welche Funktion die EU für die Bürger hat und warum das wichtig ist. „Wir haben viel Zeit damit verloren, Konferenzen über die Bedeutung der EU zu organisieren, auf welchen wir dann abgeschottet mit uns selbst gesprochen haben, anstatt in die Mitgliedstaaten zu fahren und mit sehr klaren Beispielen zu erklären, wie die EU ihren Volkswirtschaften wirklich hilft“, sagt sie. "Es überrascht mich nicht, dass wir den Brexit und Ausbrüche von Populismus in ganz Europa haben."
Sie beschuldigt nicht die Bürger für ihre schlechten Regierungen. Nimmt man osteuropäische Länder als Beispiel, die zu Konservatismus und patriarchalen Werten zurückkehren, macht Strugariu darauf aufmerksam, dass Veränderungen Zeit brauchen und eine Anpassung an neue Realitäten nie einfach ist – und auch oft zu Gegenreaktionen führt. „Ein Teil davon hat mit Kultur und Geschichte zu tun. Ich würde nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen und sagen: „Oh, das Volk ist selbst schuld“ oder dass die Regierung das Spiegelbild ihrer Gesellschaft ist. Das ist zwar manchmal der Fall, aber wenn ich auf mein eigenes Land zurückblicke, auf all die Jahre im Kommunismus, dann erinnere ich mich sehr gut daran, wie meine Mutter ihr halbes Leben zu Hause verbrachte, um mich und meinen Bruder zu aufzuziehen. Das war die Aufgabe ihres Lebens. Abtreibungen waren wegen Ceausescus Plan zur Bevölkerungsvermehrung verboten.
Außerdem sei ein sehr großer Teil der rumänischen Bevölkerung – wie auch in vielen anderen Ländern – religiös und verträte auch eine bestimmte Einstellung und Position der Kirche zu liberalen Ideen und weiblicher Ermächtigung“, sagt sie und schlussfolgert, dass sich Gesellschaften nicht über Nacht änderten und dass viel Aufklärungsarbeit geleistet werden müsste, bevor eine Einstellungsänderung eintritt.
Auch dann sei der Kampf zwischen liberalem Weltbild und konservativen Werten nicht vorbei, sagt sie. „Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft diese Kapitel jemals wirklich abschließen wird. Sie kommen erst auf die Tagesordnung, wenn sich die Gesellschaft verändert und sie sich weiterentwickelt“, bemerkt Strugariu. Und sie warnt: „Der Populismus kann wieder auferstehen, konservative Ideen können an Fahrt gewinnen und die Unterdrückung der Bevölkerung kann weiterwachsen – das ist eine Tatsache. Die Geschichte hat gezeigt, dass es möglich ist von einer Zeit florierender Entwicklung in eine Zeit extremer Gegenreaktionen in Bezug auf Freiheit, Freiheit und Wohlstand überzugehen.“
Die umstrittene Rolle der Frau in Politik und Gesellschaft
Es ist nur normal, dass sich in Rumänien Veränderungen bei heiklen Themen wie die Stärkung von Frauen langsam und schmerzhaft vollziehen. „Wenn man in die Region Moldawien in Rumänien fährt, die eine der ärmsten Regionen Europas ist, hört man immer noch, dass die Frauen, die an politischen Treffen oder Debatten teilnehmen, nur dazu da sind, um Kekse und Kaffee zu servieren. Wir sprechen von einem Land, in dem 60 % der Meinung sind, dass körperliche Gewalt und häusliche Gewalt in bestimmten Situationen gerechtfertigt sind. Es gilt als normal, dass man seine Frau oder sein Kind oder – in seltenen Fällen – seinen Mann ohrfeigt, weil das als etwas gilt, das tatsächlich funktioniert.“
Sie sagt, dass auch sie Frauenfeindlichkeit erfahren habe, sie sich aber in diesen Momenten nicht vom Schmerz überwältigen haben lasse. „Es ist mir passiert, es hat mich nicht so hart getroffen, wie es anderen Frauen getroffen hat. Aber ich weiß, wie weh es tut, ich habe es bei anderen Frauen gesehen, und es wird nicht von selbst aufhören. Wir müssen aktiv dagegen vorgehen. Wir haben es im Plenum des Europaparlaments gesehen, es ist nicht so, als ob es nur im tiefen ländlichen Moldawien passiert“, sagt Strugariu. Was sie am zum Weitermachen bewegt, ist ihre Wahrnehmung der Verantwortung, „Das, was mir widerfahren ist, ist mir egal. Ich glaube an mich selbst und an alles, wofür ich stehe und wofür ich gekämpft habe, und ich tue das alles nicht für mich selbst. Ich vertrete jetzt Menschen und das ist eine große Verantwortung“, sagt sie.
Es kann sich ihrer Meinung nach nur durch eine systematische Umsetzung einer Sozial- und Wirtschaftspolitik ändern, die es Frauen ermöglicht, allein auszukommen. „Wir sagen die ganze Zeit, dass wir wollen, dass Frauen eine größere Rolle in der Gesellschaft und in der politischen Tagesordnung einnehmen, aber die eigentliche Frage ist: Ist das System frauenfreundlich?“, fragt sie. „Gibt es Schulen, in denen ihre Kinder bis 17 Uhr im Hort bleiben können? Können ihre Lebensgefährten auch Vaterschaftsurlaub nehmen? Und verstehen sie, wie wichtig es ist, sich in diesem Prozess gegenseitig zu unterstützen? Es gibt viele Aspekte, die das
Empowerment von Frauen beeinflussen, und viele davon haben mit ökonomischen Modellen, mit sozialen Maßnahmen und natürlich mit der Mentalität zu tun. Aber entscheidend ist, dass wir ganz konkrete Schritte machen“, so Strugariu abschließend.
Die Politikerin sagt, dass es dringend notwendig sei, jetzt die notwendigen Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen, wenn wir zu Lebzeiten noch Ergebnisse sehen wollen. Sie nennt als Beispiel die nordischen Staaten. „Das erste Mal, dass Länder wie Schweden und Dänemark über Sexualaufklärung in Schulen gesprochen haben, war Anfang der 50er Jahre. Seitdem hat es 70 Jahre gedauert, bis ihre Gesellschaften eingesehen haben, dass es auch einen Bedarf an weiblichen Vertretern in der Politik gibt.“ Aus eigener Erfahrung im NGO-Sektor weiß sie, dass das schwer sei. „Ich habe an Programmen mitgewirkt, die innerhalb weniger Jahre Gesellschaften grundlegend verändert haben. Gesellschaften, in denen Kinder von ihren jungen Müttern verlassen wurden. Ich habe gesehen, wie mitgenommen diese Eltern und jungen Mütter waren, denn sie waren alle von Armut, Gewalt usw. betroffen. Ich habe auch gesehen, wie viel es die zuständigen Helfer abverlangt hat, den Menschen wirklich zu helfen, über Verhütung aufzuklären und bei Lebensentscheidungen zu helfen. Es gab sehr viel zu tun.“
Die Wiederausrichtung der Politik auf die wirklichen Themen
Das Problem für sie sei, dass viele Politiker nur ihre eigenen Interessen verfolgten, anstatt sich mit diesem Problem zu beschäftigen, oder wie sie es ausdrückt: „Mit ihren Korruptionsplänen und Sonderinteressen oder der Suche nach Möglichkeiten, in die Justiz einzugreifen, um die eigenen Funktionäre zu fördern, um ihre Indiskretionen zu verbergen.". Das ist sehr traurig.“ Das ist für den Liberalismus jedoch eine Chance. „Ich denke, dass liberale Parteien heutzutage einen Beitrag leisten können, weil wir diese Probleme sehen. Das ist jetzt unsere Zeit“, sagt Strugariu.
Nach Brüssel bringt sie ihre Nichts-ist-unmöglich-Einstellung mit und ihr Verständnis von Verantwortung.
„Politisch ist das EP für das Schicksal und die menschenwürdigen Lebensbedingungen von rund 500 Millionen Menschen verantwortlich. Und ich werde dieser Verantwortung gerecht, das hat nichts mit mir selbst zu tun, und es ist mir egal, ob das irgendeinem Mann ein Dorn im Auge ist. Ich mache einfach meinen Job, das ist alles“, sagt sie und fügt hinzu, dass wenn es eine Eigenschaft gibt, die Frauen mehr in die Politik einbringen als der durchschnittliche Mann, dass das die Sensibilität sei. Vielleicht ist das der Grund, warum Strugariu laut der Brüsseler Regulierungsbehörde VoteWatch Europe als „eine der zehn einflussreichsten Mitglieder des Europäischen Parlaments in Bezug auf Vernetzung“ gilt.
Ihre Botschaft ist einfach und konkret: Frauen, seid selbstbewusster. „Lasst uns all das tun, was wert ist, getan zu werden, lasst uns andere Frauen aktiv ermutigen, eine Führungsposition anzustreben.
Selbstbewusstsein ist sehr wichtig – Frauen sollten sich nicht im Spiegelbild einer bestimmten Kultur oder vergangener Vorurteile betrachten. Sie sollten in den Spiegel schauen, sich in der heutigen Zeit betrachten und in die Zukunft blicken, denn Frauen gestalten die Zukunft mit.“