Tag der Menschenrechte
Ukrainische Menschenrechtsorganisation empfängt Friedensnobelpreis
Sucht man im Netz nach dem „schönsten Rathaus Europas“ wird kein eindeutiges Ergebnis geliefert: Manche Seiten geben das Hamburger Rathaus mit seinem historischen Stil der norddeutschen Neorenaissance aus dem Jahr 1897 als das schönste an, andere wiederum favorisieren das Wiener Rathaus, das von 1872 bis 1882 im neugotischen Stil errichtet wurde. Das Hôtel de Ville von Paris (1874-1882) und das Augsburger Rathaus mit seinen berühmten Zwiebeltürmen gehören auch mit Sicherheit zu den prächtigsten Rathäusern des Alten Kontinents.
Das Rathaus der norwegischen Hauptstadt Oslo jedoch findet selten Platz in diesem Ranking – kein Wunder, denn das rote Backsteingebäude, das nach einer mehrjährigen Verzögerung im Jahre 1950 fertiggestellt werden konnte, sticht eher durch seine Funktionalität hervor als durch seine Ästhetik. Doch trotzdem hat dieses Gebäude eine Bedeutung, die über die Grenzen der norwegischen Hauptstadt hinausgeht.
Einmal im Jahr, nämlich am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, steht das Osloer Rathaus im Mittelpunkt des Weltgeschehens, wenn der Friedensnobelpreis in den imposanten Innenräumen dieses Bauwerks von seinen Preisträgern entgegengenommen wird.
Der Friedensnobelpreis als Zeichen gegen den russischen Krieg in der Ukraine
Die Wahl der diesjährigen Preisträger war so naheliegend wie berechtigt: Mit Memorial aus Russland, dem ukrainischen Center for Civil Liberties sowie dem in Belarus inhaftierten Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki werden gleich drei Organisationen und Menschen gewürdigt, die sich für Frieden und Bürgerrechte in ihren Ländern einsetzen und mit ihrer Arbeit Diktatoren wie Putin und Lukaschenko mutig zusetzen.
Es ist ein starkes Zeichen, dass der Friedensnobelpreis nun schon im zweiten Jahr unter der Rubrik „Unfreiheit und Krieg durch Russland“ vergeben wird – letztes Jahr erhielt ihn der russische Journalist und Chefredakteur der Nowaja gaseta, Dmitri Muratow. Das Osloer Nobelkomitee konnte natürlich die massiven Menschenrechtsverletzungen in Russland und Belarus sowie den völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine mit Folgen für die gesamte friedliche und regelbasierte Nachkriegsordnung nicht ignorieren.
Als Botschaft an den russischen Kriegstreiber und Machthaber wollte das Komitee die Preisverleihung jedoch nicht verstanden wissen – auch wenn die Bekanntgabe über die Preisträger just am Geburtstag Putins verkündet wurde.
Center for Civil Liberties wird für ihre Menschenrechtsarbeit geehrt
Für die ukrainische Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties (CCL), die 2007 mit dem Ziel gegründet wurde, Menschenrechte und Demokratie in der Ukraine zu fördern sowie Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen, wird Oleksandra Matviichuk den renommierten Preis entgegennehmen, und die 39-jährige Menschenrechtsaktivistin ist keine Unbekannte für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Oleksandra Matviichuk ist eine von vielen Power-Frauen aus Ost- und Südosteuropa, die sich in Zusammenarbeit mit der liberalen Stiftung für mehr Rechte und Inklusion von Frauen in Gesellschaft und Politik einsetzen. „Als ich zur Schule ging, hatte ich keine konkreten Pläne. Ich wollte Theaterproduzentin werden, entschied mich aber stattdessen für ein Jurastudium zum Schutz der Menschenrechte“, so Oleksandra, die sich als Botschafterin der Stiftungskampagne #Female Forward für Frauenrechte in der Ukraine starkmacht in einem Interview für die Stiftung.
Der schwierige Kampf für eine bessere Ukraine
Die Menschenrechtsaktivistin und Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten Oleksandra Matviichuk über die Notwendigkeit umfassender Reformen in der Ukraine und das oft komplexe Verhältnis zwischen Behörden und Gesellschaft
Für die Geschichte und Entwicklung des CCL, das fast ausschließlich von Frauen vorangetrieben wird, spielt der Euromaidan von 2013-14 eine ausschlaggebende Rolle: „Es war in der Tat einer der entscheidendsten Momente in unserer Geschichte seit der Unabhängigkeit. Wir haben zum Beispiel noch nie Menschen in Not direkt juristisch unterstützt. Wir mussten uns schnell und flexibel an diese neuen Herausforderungen anpassen, um eine wirksame Antwort auf die Ereignisse zu liefern“, so Oleksandra, die zur Kampagne Euromaidan SOS beitrug, eine Initiative zur Suche von vermissten Demonstranten.
Nach den Maidan-Protesten und dem Sturz der damaligen von Moskau unterstützten Regierung machten die Aktivisten des CCL unter anderem auf Menschenrechtsverstöße auf der annektierten Krim und den von Russland okkupierten und kontrollierten Gebiete im Donbass aufmerksam. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar konzentriert CCL seine Arbeit auf das Aufdecken von russischen Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden und zeichnet die Verbrechen der russischen Besatzer nach.
Um die 50.000 Kriegsverbrechen wurden seit dem russischen Angriff auf die Ukraine registriert– neben Folterungen, sexualisierter Gewalt, Tötungen und Verschleppungen wurden auch zahllose Angriffe auf die Zivilbevölkerung dokumentiert. Neben dem Internationalen Strafgerichtshof ermitteln Ermittlungsbehörden aus einem guten Dutzend Länder. CCL mit ihrer Expertise und ihren Netzwerken vor Ort spielt eine wichtige Rolle bei der Sicherung von Beweismitteln, damit eines Tages die Täter vor Gericht gestellt werden können.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gratuliert Oleksandra Matviichuk und dem Center for Civil Liberties für den Friedensnobelpreis. Slawa Ukrajini!
Aret Demirci ist Projektassistent im Regionalbüro Südost- und Osteuropa.