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Bürgerrechte
Provokation mit Zeitbezug – Erdogans Türkei verlässt die Istanbul-Konvention

Eine Demonstrantin wird Anfang März von der Polizei in Istanbul daran gehindert, an Protesten gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention teilzunehmen
Eine Demonstrantin wird Anfang März von der Polizei in Istanbul daran gehindert, an Protesten gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention teilzunehmen. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Osman Sadi Temizel

In der Außendarstellung ist es ein Schwenk um 180 Grad. Vor wenigen Wochen noch häuften sich die Anzeichen, die türkische Regierung wolle ihr lädiertes Image aufpolieren. Mit einer Charmeoffensive wollte Erdogan - vor allem im Ausland – bei Freund und Feind gut Wetter machen.

Mit seiner aggressiven Außenpolitik hatte Erdogan zuletzt für viel Ärger gesorgt. Im Streit um Gas im Mittelmeer mit dem EU-Mitglied Griechenland hatte Ankara auch die Gemeinschaft gegen sich aufgebracht. Positive Botschaften aus der Türkei sollten die Stimmung verbessern. Zum türkischen PR-Plan passte die Ankündigung einer Verfassungsreform. In Ankara war gar von einem neuen liberalen Grundgesetz die Rede. ZUr Abrundung gleichsam legte Erdogan mit einem Aktionsplan für die Menschenreche nach.

Die Ankündigungen litten von Beginn an unter einem Glaubwürdigkeitsproblem, zu offenkundig – so die vielen Kritiker – sei die Diskrepanz zwischen Realität und Praxis. Die wohllautende Rhetorik hatte dann auch keinen Bestand. Maß und Zurückhaltung passen nicht zum Markenkern des türkischen Präsidenten. Seine Amtsführung – so Beobachter am Bosporus – sei zusehends unberechenbar und sprunghaft.

Der per Präsidialerlass verordnete Austritt aus der Istanbul Konvention gegen Gewalt gegen Frauen ist Erdogans spektakulärste politische Hauruckaktion im noch jungen neuen Jahr. Dass es aus dem Ausland Kritik hangeln würde, hatte der Präsident einkalkuliert. Mahnungen aus dem Ausland, allemal aus Europa, haben Erdogan selten beeindruckt.

Der Austritt aus der Konvention erfolgte am Ende einer Woche, in der auf Regierungsgeheiß das Parlamentsmandat eines Abgeordneten der Opposition annulliert und ein Verbotsverfahren gegen die zweitgrößte Oppositionspartei, die pro-kurdische HDP, eingeleitet wurde. Die eskalierende Illiberalität steht für ein schrittweises Abdriften der Türkei in den offenen Autoritarismus.

Gleichwohl – dies ist ein wichtiger, wenngleich kleiner Trost – sind Erdogan Grenzen gesetzt. Die Regierung handelt zusehends autoritär, zeigt wenig Respekt für Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte. Am Ende muss Erdogan sich aber dem Votum der Wählerschaft stellen. Die Türkei ist nicht Ägypten oder Syrien. Hier sind aller undemokratischen Begleiterscheinungen zum Trotz Wahlen ein ergebnisoffenes Verfahren, bei dem unterschiedliche Parteien und Kandidaten um Mehrheiten ringen.

Um die Popularität des Präsidenten und seiner Partei steht es, so die Demoskopen, nicht zum Besten. Die miesen Zahlen unterstützen die These, die Aufkündigung der Konvention zum Schutz der Frauen und andere freiheitsfeindlichen Maßnahmen dienten der Mobilisierung der streng konservativen religiösen Basis.

Unter Erdogan hat die politische Polarisierung in Anatolien neue Höhen erreicht. Die Situation erinnert an Trumps Amerika. Populisten profitieren von der Lagerbildung, so das Kalkül, auch wenn die Wahl Bidens diese These am Ende widerlegt hat.

Der Zeitpunkt des Austritts aus der Istanbul Konvention lässt aufhorchen. Dass der reaktionäre Schritt ohne Vorwarnung in einer Nacht und Nebel-Aktion in den frühen Morgenstunden bekanntgegeben wurde, ist das eine. Dass die Entscheidung wenige Tage vor dem EU-Gipfel verkündet wurde, bei dem die Staats- und Regierungschefs auch über die Zukunft der Türkei-Beziehungen beraten wollen, das andere.

Den Europäern mit seiner Charme-Offensive Sand in die Augen zu streuen, schien zunächst das Ziel Erdogans. Die Türkei brauche – so diese Lesart - den Schulterschluss mit Europa, um ihre taumelnde Wirtschaft wieder auf die Beine zu bekommen. Offenbar meint Erdogan jetzt, die EU werde am Ende einmal mehr ein Auge zudrücken, und ihn gewähren lassen.

Man darf gespannt sein, wie die Staats- und Regierungschefs Ender der Woche auf Ankaras neue Provokation reagieren werden. Zwar erntet Erdogan für seine neue Provokation massenweise Kritik auch aus Europa. Harte Sanktionen, geschweige denn einen Bruch, muss Erdogan aber auch jetzt nicht befürchten, zu groß sind die vielzitierten Abhängigkeiten. Man denke nur an die Flüchtlingspolitik, wo ein neuer Deal ausgearbeitet werden soll.

Dass er ungeschoren aus der Sache herauskommt, das weiß – die Jahre haben es ihn gelehrt – keiner besser als Erdogan selbst.       

Erdogans Provokation für Europa

Erdogan AKP Applaus

Das Verhältnis zur Türkei wird Europa weiter beschäftigen. Nach einem Jahr der diplomatischen Tiefschläge sind von Präsident Erdogan zunehmend europafreundliche Töne zu hören. Doch solange Ankara die Menschenrechte verletzt, kann es keine weitere Annäherung geben, fordert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post.

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