Türkei
Ein Jahr nach dem Erdbeben: "Bei solchen Katastrophen brauchen die Menschen Hoffnung"
Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei Erdbeben der Stärke 7,8 und 7,5 den Südosten der Türkei und den Norden Syriens. Sie richteten schwerste Zerstörungen an. 53.537 Menschen verloren nach offiziellen Angaben in der Türkei ihr Leben, viele mehr gelten als vermisst, mehr als 500.000 Häuser wurden zerstört. Während die Erdbebenregion kaum noch Medienaufmerksamkeit erhält, leben viele Menschen in der Region weiter im Ausnahmezustand. Zigtausende wohnen noch in Notunterkünften, asbestbelasteter Trümmerstaub gefährdet ihre Gesundheit. Der Wiederaufbau läuft schleppend. Zugleich stehen auch in der Erdbebenregion die Lokalwahlen vor der Tür und die Menschen erwarten Antworten auf viele Fragen.
Ein Interview mit Yigit Göktug Torun, Kommunikationsreferent der FNF in Istanbul. Er hat im Erdbeben beide Eltern verloren, sie wurden unter ihrem vollständig zerstörten Haus in Antakya nie gefunden.
Yigit, für dich ist dies ein schwerer Jahrestag. Du warst sofort nach dem Erdbeben vor Ort, um deine Angehörigen zu suchen und zu helfen. Und bist seither immer wieder in deine Heimatstadt Antakya in der Region Hatay gefahren, die von allen am stärksten zerstört ist. Wie sieht es dort heute aus? Wie kann man sich das alltägliche Leben der Menschen vorstellen, die dortgeblieben sind?
Für die meisten von uns ist es sehr schwierig, vor allem wenn man weiß, dass es in der Region noch viele Probleme gibt. In den ersten Monaten konnte ich mich gar nicht so sehr auf die Probleme dort konzentrieren, weil wir noch versuchten, die Leichen meiner Eltern zu finden. Außerdem ging es darum, eine Unterkunft für meine Tante zu finden, die das Erdbeben überlebt hatte, deren Haus jedoch zerstört worden war. Nach einer Weile kehrte sie mit vielen anderen nach Hatay zurück, und wir begriffen, dass das Erdbeben die Menschen nicht nur in dieser Nacht getroffen hatte, sondern dass seine Auswirkungen weiter anhielten und immer noch anhalten. Viele leben immer noch in Containern, wo der Zugang zu Wasser und Lebensmitteln stark eingeschränkt ist. Während der Regentage waren viele dieser Container überflutet. Aufgrund der ungesunden Umweltbedingungen sind viele Kinder in der Region schwer erkrankt. Meine Tante gehört zu den Glücklichen, denn wir konnten für sie einen Platz in einem anderen Bezirk in Hatay mieten, wo sie jetzt wohnt. Allerdings fällt fast jeden Tag der Strom aus, und das ist ein großes Problem, da Menschen Strom zum Heizen brauchen. Auch gibt es immer noch keine öffentlichen Verkehrsmittel und die Straßen sind in keinem guten Zustand. Um Lebensmittel einzukaufen, muss man mit dem Auto fahren, aber viele Autos sind wegen der kaputten Straßen beschädigt. Die Hilfen, die die Menschen in der Region erhalten, decken wegen der hohen Inflation in der Türkei die Bedürfnisse nicht ab. Auch in den Bereichen öffentliche Bildung, Gesundheitsversorgung und psychologische Betreuung reichen die Angebote nicht aus. Das sind Dinge, die in der Stadt sofort gelöst werden müssten. Es gibt aber noch mehr Probleme. Der Flughafen ist immer noch nicht in Betrieb, und diejenigen, die aus der Stadt geflohen sind oder im Rahmen humanitärer Hilfe in die Region Hatay kommen müssen, haben Schwierigkeiten, die Stadt zu erreichen. Die Mietpreise dort sind so teuer geworden, dass Familien sich zum Teil Wohnungen teilen. Außerdem haben viele aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen mit psychischen Problemen zu kämpfen, und es gibt nicht genügend Behandlungsangebote. In den ersten Monaten hörten wir leider auch von Selbstmorden unter den Überlebenden, und viele haben immer noch mit schweren Depressionen zu kämpfen.
Du hast dich im letzten Jahr vielfältig für die Erdbebenregion engagiert – in Initiativen für den Erhalt der Kulturschätze, als Wahlbeobachter, beim Fundraising, bei Diskussionen in den Medien. Was waren dabei deine Erfahrungen? Welche Rolle spielt überhaupt zivilgesellschaftliches Engagement und die Selbstorganisation der Menschen vor Ort, um mit dieser Katastrophe fertig zu werden?
Ich denke, bei solchen Katastrophen brauchen die Menschen Hoffnung. In meiner Trauer ist mir klargeworden, dass es mir hilft und heilsam ist, meiner Gemeinde und den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, zu helfen. Meine Eltern waren Grundschullehrer in kleinen Dörfern, und sie feierten dort mit den Kindern immer die nationalen Feiertage. Nach dem Erdbeben organisierten wir eine Kampagne für Kinder in einigen Bezirken von Hatay, um diese Feiertage mit ihnen zu begehen. Sie sind ja immer noch Kinder und verdienen ebenso Hoffnung und Glück wie andere Kinder im Land. Außerdem war ich in der Organisation Nehna (das bedeutet "Wir" auf Arabisch) aktiv, wo wir Artikel über unsere Kultur und kulturelle Schätze der Region veröffentlichen und in verschiedenen Städten wie Istanbul und Ankara Spendenaktionen organisierten. Ich finde das sehr wichtig. Solange wir unsere kulturellen Werte und die einzigartigen Merkmale unserer Region bewahren, haben wir auch Hoffnung. Diese Hoffnung gibt uns die Kraft, unsere Stadt wieder aufzubauen, nicht nur physisch, sondern auch in anderen Dimensionen.
Wie bereits erwähnt, war ich während der Wahlen auch als Wahlbeobachter tätig. Die Wahlen waren für die Einheimischen eine ganz besondere Erfahrung. Viele kehrten in die Stadt zurück, nur um dort ihre Stimme abzugeben. Obwohl wir kein Zuhause mehr hatten und es mühsam war, die Stadt zu erreichen, fühlten sich viele dafür verantwortlich, in ihrer zerstörten Stadt, unserer zerstörten Heimat, ihre Stimme abzugeben. Zu sehen, dass so viele Menschen diese Verantwortung wahrnehmen, hat mir viel Hoffnung gegeben.
Die Leistungen des Staates beim Wiederaufbau sind ja weit hinter den damals im Wahlkampf gemachten Versprechungen zurückgeblieben. Inzwischen stehen wieder Wahlen vor der Tür – die Lokalwahlen am 31. März. Welche Rolle spielt das Erdbeben dabei, wie wollen die Kandidaten die Wählerinnen und Wähler noch überzeugen?
Bis heute sind noch nicht alle Ruinen geräumt. Wir haben immer noch Schuttberge in der Stadt, und viele wissen nicht, wie es mit der Stadt weitergehen wird. Es sieht so aus, als ob viele Menschen auf Jahre hinaus kein Zuhause für sich und ihre Familien haben werden. Auch die bürokratischen Prozesse machten uns zu schaffen. Ich habe sechs Monate lang auf die Sterbeurkunden meiner Eltern gewartet, deren Leichen bis heute nicht gefunden wurden. Es fehlen Arbeitsplätze, und viele können ihrer Arbeit in der Landwirtschaft nicht mehr nachgehen, weil es schlicht keine Unterbringung in der Nähe der Arbeitsorte gibt. Das sorgt für Abwanderungsdruck. Und trotzdem wollen viele bleiben. An diesen Bedingungen müsste konkret etwas getan werden, denn die Menschen wollen nicht von den Beihilfen des Staates abhängig sein, die ohnehin nicht die Lebenshaltungskosten decken. In diesem Zusammenhang sollte man auch anders auf die Wahlen schauen: Bei den letzten Kommunalwahlen haben die Menschen in Hatay mehrheitlich für die Oppositionspartei CHP gestimmt, und die Gemeinde wird seither von der Opposition regiert. Viele haben das Gefühl, dass sie jetzt dafür bestraft werden und nicht die nötige Hilfe für den Wiederaufbau erhalten. Allein deshalb glaube ich, dass es ein Gefühl geben wird, bei den Kommunalwahlen für die Regierungspartei stimmen zu müssen. Das schadet aber dem demokratischen Prozess. Andererseits hat die CHP den amtierenden Bürgermeister der Stadt wieder als Kandidaten aufgestellt - auch ihn halten die meisten Menschen für schuldig an der schlimmen Lage. Die Menschen haben kaum Hoffnung, dass die Wahlen eine gute oder nachhaltige Lösung für den Wiederaufbau der Stadt bringen werden, egal, wen wir wählen. Ich halte das für sehr gefährlich, denn wenn die Menschen die Hoffnung auf die Demokratie und die Wahlen verlieren, könnten wir noch ganz andere Probleme bekommen. Die Menschen im Erdbebengebiet brauchen keine Ideologien oder Parteiprogramme, sondern sie wollen konkretes Handeln angesichts der wesentlichen Bedürfnisse der Stadt sehen. Daran fehlt es noch im Wahlkampf, auf beiden Seiten.