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Rechtsstaat
Polen: Umbau mit Nebenwirkungen - Folgen einer bröckelnden Justizpolitik

picture alliance / NurPhoto | Jaap Arriens

Ein Pole, der Drogen geschmuggelt hat und schon vorher wegen Körperverletzung und Bedrohung in mehreren Fällen verurteilt worden war, wurde in den Niederlanden aufgegriffen. Polen hatte gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl beantragt. Doch seit einiger Zeit steht das Rechtssystem Polens, dessen Unabhängigkeit immer mehr in Zweifel gezogen wird, massiv in der Kritik. So stellen sich Fragen: Darf der Verdächtige nach Polen ausgeliefert werden? Oder ist dort sein Recht auf einen fairen Prozess gefährdet? Der Europäische Gerichtshof hat zurzeit wieder einmal mit diesen schwierigen Fragen zu tun. Und auch sonst bekommt die polnische Regierung die Folgen ihrer Justizpolitik zunehmend zu spüren.

Warum sollte man einen per Europäischem Haftbefehl (EuHB) Gesuchten innerhalb der EU nicht ausliefern können? Als der EuHB im Jahr 2004 eingeführt wurde, sollte er genau das vereinfachen. Das war gelebte europäische Einigung. In der EU galten, so die Annahme, überall klare rechtsstaatliche Verhältnisse. Da ist man sich heute im Falle Polens anscheinend nicht mehr so sicher. Und so beschäftigen Auslieferungsersuchen nach Polen immer häufiger die Gerichte. Heute musste der Generalanwalt am EuGH, Manuel Campos Sánchez-Bordona, genau in dieser Frage seinen Schlussantrag zum Fall eines in Polen per EuHB gesuchten und in den Niederlanden aufgegriffenen Kriminellen präsentieren. Schlussanträge beim EuGH sind vom Generalanwalt getroffene, unabhängige und begründete Urteilsvorschläge. Ihnen folgt der EuGH in der Regel.

Bedrohte Unabhängigkeit der polnischen Justiz

Zur Sache: Seit ihrem Antritt 2015 ist die von der nationalkonservativen Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) getragene Regierung dabei, das polnische Justizwesen in ihrem Sinne umzubauen. Die Zielrichtung ist eine regierungsgenehme, konservative oberste Gerichtsbarkeit. Im Juli 2017 beschloss die Regierung eine neue Ruhestandsregelung, die dazu führen sollte, dass die größte Zahl der bisherigen Richter des Verfassungstribunals früher pensioniert würde und durch politisch nahestehende Richter ersetzt werden könnte. Dis dato gingen Richter mit 67 Jahren in Rente, jetzt sollten weibliche Richter mit 60 und männliche Richter mit 65 Jahren ausscheiden. Dagegen erhob die EU-Kommission eine Klage wegen EU-Vertragsverletzung beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). Es würden wichtige rechtsstaatliche Prinzipien, auf denen die EU aufgebaut ist, durch dieses Gesetz verletzt.

Ahnend, dass sie vor dem EuGH den Kürzeren ziehen würde, zog die polnische Regierung den Entwurf im Mai 2018 zurück und änderte den hauptsächlichen Stein des Anstoßes, die unterschiedliche und diskriminierende Regelung des Ruhestandsalters bei Frauen und Männern. Am Grundproblem, dass missliebige Richter vorzeitig „ausgetauscht“ werden, änderte das aber nichts, weshalb der EuGH im November 2019 (Rechtssache C 192/18) das polnische Gesetz nachträglich zu einem Verstoß gegen EU-Rechtsstaatsnormen erklärte. Damit wurde die Frage, ob das polnische Rechtssystem europäischen Wertestandards widerspräche, grundsätzlich bejaht. Darüber herrscht seitdem juristischer Konsens.

Verweigerung nur mit Begründung

Vor allem: Da die polnische Regierung beim Obersten Gericht ähnliche Maßnahmen durchgesetzt hatte und die Reformen nach und nach die Ernennungsverfahren der niederen Gerichtsbarkeit betrafen, werden die Besetzungen seither immer mehr von der Regierung gesteuert. Als indirekte Folge dieser Reformen beschäftigen Europäische Haftbefehle, die polnische Bürger betreffen, schon seit 2017 immer wieder Gerichte in den Mitgliedsländern und auch den EuGH. So hatte sich schon im Juli 2017 der irische Hohe Gerichtshof an den EuGH gewandt, um festzustellen, ob ein polnischer Bürger, der in Polen wegen Drogenhandel gesucht wurde, nach Polen ausgeliefert werden dürfte.

In seinem Urteil (Rechtssache C-216/18) bekräftigte der EuGH, dass es den im jeweiligen Land ausführenden Behörden erlaubt sei, die Auslieferung eines per EuHB Gesuchten zu verweigern oder zwecks Überprüfung auszusetzen. Es genügten aber nicht allgemeine Aussagen über den Zustand der Justiz in Polen, sondern es müsse fallbezogen geprüft werden, ob dem Ausgelieferten ein unfaires Verfahren oder unmenschliche Behandlung drohten. Dies zu überprüfen liege in der Zuständigkeit der ausführenden Organe in den Ländern. Es gehe dann darum, nachzuweisen, ob die vom EuGH bereits festgestellten systemischen Mängel (Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz) auch im individuellen Fall negative Konsequenzen erwarten ließen.

Im Kern haben sich Gerichte der EU-Mitgliedstaaten in der Folge auf eine ähnliche Linie eingelassen. So hat das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe in einer Entscheidung vom Februar 2020 einen EuHB gegen einen des Drogenhandels beschuldigten Polen aufgehoben, weil es (unter expliziter Bezugnahme auch das polnische Gesetz zur Frühpensionierung von Richtern) Zweifel an der polnischen Justiz hatte. Allerdings wird der Fall erst endgültig rechtskräftig entschieden, wenn die polnischen Behörden die Anfragen des OLG beantwortet haben. Wiederum galt, dass die systemischen Mängel der polnischen Justiz im und auf den Einzelfall hin überprüft werden müssen.

Die bisherige Linie bleibt wohl

In dem nun beim EuGH behandelten Fall, einem im Mai 2020 vom Bezirksgericht Posen bei der niederländischen Staatsanwaltschaft eingereichten EuHB, ging es um eine Übergabe zur Vollstreckung einer einjährigen Haftstrafe. Für das niederländische Gericht, das nun vor den EuGH ging, stellte sich die Frage, ob die Einzelfallprüfung noch nötig sei, oder ob die Feststellung eines systemischen Mangels im polnischen Rechtssystems mittlerweile generell ausreiche. Das hätte de facto zur Folge gehabt, dass niemand mehr, der von Polen per EuHB gesucht wird, ausgeliefert werden müsste – und zwar ohne Begründung.

In der aktuellen Rechtssache C-412/20 hat Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona klargemacht, dass der EuGH wohl nicht so weit gehen würde. Da das Amsterdamer Gericht selbst auf Anfrage bei dem polnischen Gerichtsverfahren in der Sache keinen rechtswidrigen Fehler entdecken konnte, könne eine Ablehnung nicht alleine mit der Auslieferung aufgrund des allgemeinen juristischen Tatbestandes systemischer Mängel in der polnischen Justiz begründet werden. Ferner meint er, dass „die Ablehnung der Vollstreckung eines EuHB eine außergewöhnliche Reaktion sei, die auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen sein müsse, die aufgrund ihrer Schwere eine Beschränkung dieser Grundsätze erforderten.“ Und weiterhin sei zu prüfen, ob „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme existieren, dass im Fall ihrer Übergabe das Grundrecht der gesuchten Person auf ein faires Verfahren verletzt werden könnte.“

Es ist anzunehmen, dass der EuGH damit seiner bisherigen Linie treu bleiben wird. Eine Verweigerung eines EuHB muss aus dem Einzelfall begründet werden, und zwar von den betreffenden Gerichten in den ausliefernden Mitgliedsländern. Ein härterer Spruch, der begründungslose Verweigerung ermöglichte, hätte Polen zwar politisch hart getroffen und endgültig zum Paria gemacht. Aber der EuGH wäre schlecht beraten, gerade hier, wo die Politisierung von Recht in Polen auf der Agenda steht, selbst politische Urteile zu fällen.

Glücklich kann die polnische Regierung mit diesem Schlussantrag dennoch nicht sein. Denn es heißt, dass es noch eine endlose Reihe von Verfahren gibt, in denen jedes Mal ein in Polen ausgestellter EuHB wegen des erwiesenen Verdachts systemischer Mängel im Rechtsstaat von ausländischen Gerichten überprüft wird. Zudem bekräftig das Urteil weiterhin die Mängel bei der Unabhängigkeit der Justiz. Allein das ist ein politisches Signal.

Aufwind für den Rechtsstaatsmechanismus

Denn gleichzeitig zur Urteilverkündigung läuft die Debatte zum Rechtsstaatsmechanismus der EU, der vom EU-Parlament und den Regierungen der Mitgliedstaaten auf den Weg gebracht wurde. Der soll dem recht ineffektiven Artikel 7 EUV bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher europäischer Werte mehr Durchschlagskraft verleihen. Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip sollen fortan mit Kürzungen bei EU-Finanzhilfen geahndet werden können.

Das träfe die beiden Staaten, die sich in letzter Zeit besonders durch ein fragwürdiges Rechtsverständnis in die Schlagzeilen gebracht haben – neben Polen ist das Viktor Orbáns Ungarn –, besonders hart. Die Furcht ist durchaus spürbar. Polens Regierung führt bereits harte interne Diskussionen, ob sie zwecks Verhinderung des Rechtsstaatsmechanismus den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU mit einem Veto blockieren solle. Konservative Hardliner wie Justizminister Ziobro befürworten das. Zusammen mit Ungarn könnte die Regierung damit die Planungen der EU durchaus in ein Chaos stürzen, da dies auch den Europäischen Aufbauplan nach Corona vereiteln könnte. Es scheint, dass Ministerpräsident Morawiecki davor dann doch zurückschreckt. Es könnte ihn auch in Polen Popularität kosten, zumal derartige Erpressungsversuche normalerweise scheitern.

Die Tücken des eigenen Tuns

Dem ganzen Treiben um die Justizreform wohnt zudem gerade eine tiefe Ironie inne. Aktuell lernt die polnische Regierung auf die harte Tour, dass die Beeinträchtigung der Justiz auch unerwünschte Nebenwirkungen haben kann: Schon 2016 und 2018 hatte die Regierung versucht, das bereits ungewöhnlich restriktive Abtreibungsrecht in Polen noch einmal zu verschärfen. Selbst schwer missgebildete Föten sollten nicht mehr abgetrieben werden können. Und jedes Mal gab es so heftige Proteste auf den Straßen, das die Regierung (die auch sah, dass die eigenen Kernanhänger nicht so weit gehen wollten) ihre Haut nur dadurch retten konnte, dass sie von ihrem Vorhaben Abstand nahm. Nun haben katholisch-konservative Kläger bei dem von der Regierung „auf Kurs“ gebrachten Verfassungsgericht ebendieses verschärfte Abtreibungsrecht durchgesetzt.

Die Folge: Es gibt heftige Massenproteste von Frauen, die der Regierung einen drastischen Popularitätseinbruch eintrugen. Die von der Regierung „handverlesenen“ Richter haben dieselbe Regierung in die Bredouille gebracht. Da es ein Gerichtsurteil ist, kann sie auch nichts mehr auf parlamentarischem Wege zurücknehmen, um die Wogen zu glätten. Nur geringe Handlungsspielräume bestehen. Vielleicht wird irgendwann einmal die Einsicht folgen, dass man mit der Unabhängigkeit der Justiz nicht spielen sollte. Sonst macht die plötzlich noch, was man will. Und das will man dann womöglich doch nicht.

So ist auch heute wieder klargeworden: Ihre Justizreformen werden die polnische Regierung weiterhin verfolgen – sowohl an der juristischen Front, wie der heutige Schlussantrag zeigt, als auch an der politischen.