Bergkarabach
Ethnische Konflikte als Geißel des Südkaukasus
Es ist noch nicht lange her, dass sich der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew und der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 duellierten. Beide fochten verbal um die geschichtliche Zugehörigkeit der umstrittenen Region Bergkarabach. Monate später brach der Konflikt um die Enklave erneut aus. Seinerzeit hinterließ der fremdsprachlich, aber auch als Doktor der Geschichte besser aufgestellte Präsident Alijew den überzeugenderen Eindruck.
Trotzdem sah das Ganze auf beiden Seiten nach einem Jonglieren mit der Historie aus. Beide Nationen verbrachte große Teile ihrer Geschichte in der Einflusssphäre unterschiedlicher Großmächte: Armenien im Osmanischen Reich – der heutigen Türkei, das paradoxerweise Aserbaidschans Verbündeter ist – und Aserbaidschan im Armenien zugeneigten heutigen Iran, damals noch das Persische Reich. Später wurden beide Staaten erst dem Russischen Kaiserreich und danach der Sowjetunion angeschlossen.
Eine unendliche Geschichte
Der Ausgangspunkt der modernen Historie beider Staaten ist die Auflösung der Sowjetunion. Die Bestrebung einiger post-sowjetischer Staaten, eine demokratische Entwicklung zu nehmen, wurde vom damals politisch geschwächten, aber militärisch noch immer starken Russland durch das Provozieren von Konflikten zunichtegemacht. Während die baltischen Staaten ein Obdach in der Europäischen Union und NATO fanden, sahen sich Georgien in den Provinzen Abchasien und Südossetien, Moldau in Transnistrien und Aserbaidschan in Bergkarabach mit lokalen Konflikten konfrontiert.
Lokale Minderheiten führten mit Unterstützung Russlands ethnische Säuberungen durch (Laut UNHCR 287.000 Binnenflüchtlinge in Georgien und 684.000 in Aserbaidschan) und erklärten anschließend ihre Unabhängigkeit von den jeweiligen Republiken. Sogenannte russische Friedenstruppen wurden in Georgien und Moldau stationiert, während das in Armenien stationierte russische Militär den Konflikt zwischen Armenien und Bergkarabach auf der einen und Aserbaidschan auf der anderen Seite einfror. Gekoppelt mit einer fehlenden Dialogbereitschaft und überbordendem Patriotismus sicherte sich Russland so Einfluss in den südkaukasischen Republiken.
Ende der 1990er Jahre plädierte der damalige armenische Präsident Lewon Ter-Petrosjan für eine friedliche Lösung des Bergkarabach-Konfliktes mit Aserbaidschan. Armenien sollte die außerhalb Bergkarabachs besetzten sieben aserbaidschanischen Landkreise zurückgeben – unter der Bedingung, weiterhin einen Korridor nach Bergkarabach zu erhalten und über den völkerrechtlichen Status Bergkarabachs zu verhandeln. Man kann vermuten, dass der weitsichtige Präsident sich um eine Lösung für Armenien bemühte, die seinem Land – umringt von den beiden Bruderstaaten Aserbaidschan und der Türkei – Garantien verleihen würde. Die Initiative stieß auf den Widerstand der armenischen Regierung, und in Erwartung starker gesellschaftlicher Widerstände trat Ter-Petrosjan zurück, um, wie er sagte, eine tiefe politische Krise und gesellschaftliche Unruhen abzuwenden.
Nach zunehmend autoritären Präsidenten wurde im Zuge der „Samtenen Revolution“ 2018 der Journalist und Politiker Nikol Paschinjan ins Amt des Ministerpräsidenten gespült. Der Proklamator der Demokratie und prowestlich orientierte Paschinjan stieß zunächst auf Protest aus Russland. Moskau gab unmissverständlich zu verstehen, dass eine selbstbestimmte Zukunft Armeniens ohne seine Zustimmung nicht vorstellbar sei. In Aserbaidschan wurde damals Armenien als „ein Koffer ohne Griff“ für Russland betitelt.
Der „passende“ Moment
Der unerfahrene Ministerpräsident schlug schnell nationalistische Töne an. Bei einem Besuch Bergkarabachs erklärte er 2019, dass dies armenisches Land sei und die Zeit komme, in der sich Bergkarabach Armenien anschließen werde. Die aserbaidschanische Regierung wurde daraufhin von den eigenen Bürgern teilweise scharf kritisiert: das Land solle seine militärische Überlegenheit und die Unterstützung der Türkei im Kampf um Bergkarabach ausspielen. Die aserbaidschanische Regierung sprach immer wieder von einem fehlenden „passenden Moment“.
Dieser „passende Moment“ kam, als sich die geopolitischen Überlegungen Russlands wandelten. Der nicht immer leichte, aber verlässliche Partner Aserbaidschan nahm, im Unterschied zu Armenien, keine pro-westliche Haltung ein, was sich auszahlen sollte. Im September 2020 flammte der Konflikt massiv auf – und Russland mischte sich fast bis zum letzten Moment nicht ein. Die internationale Gemeinschaft verhielt sich passiv. Der Konflikt wurde als russisch-türkische Domäne angesehen.
Russland schweigt und siegt
Die Folgen des im November 2020 geschlossenen trilateralen Abkommens mit Russland sind für Armenien und Aserbaidschan unterschiedlich und ähnlich zugleich. Der armenische Ministerpräsident Paschinjan erlebte eine Protestwelle mit der Forderung nach seinem Rücktritt. Politische Hardliner erhoben sich, und Paschinjans einziger Schutz sind gegenwärtig gemäßigt eingestellte Bevölkerungsteile sowie seine Mehrheit im Parlament – ein ähnliches Szenario wie 1998 bei Präsident Ter-Petrosjan.
Das Gegenteil erlebt Aserbaidschans Präsident Alijew Er erfährt eine starke Unterstützung auch von der Opposition, die ihn zuvor scharf kritisierte. Als Resultat des Abkommens begeben sich jedoch beide Republiken in starke Abhängigkeit zu Russland. Das in Armenien stationierte russische Militär und die von der armenischen Diaspora in Russland aufgeheizte Opposition sorgen möglicherweise für einen Russland-treuen Regierungswechsel in Yerewan. Die russischen Truppen, die nun in den von Aserbaidschan rückeroberten Gebieten stationiert sind, sorgen für eine größere Bindung Aserbaidschans an die russische Geopolitik in der Region.
Basierend auf den Reaktionen aus Politik und Bevölkerung ist jedoch auch klar, dass beide Seiten nach wie vor nicht zu einem Dialog bereit sind. Der Nationalismus hält beide Staaten derzeit von einer demokratischen Entwicklung ab und führt in eine Abhängigkeit von Russland, die die Region weiter destabilisiert.
Unter diesen Bedingungen erwartet Georgien, das ein Assoziierungsabkommen mit der EU abgeschlossen hat und mit der NATO eng zusammenarbeitet, Unterstützung aus dem Westen. In der Vergangenheit projizierte Georgien seine erfolgreichen Reformen auf die Nachbarn Armenien und Aserbaidschan. Seit Wiederaufflammen des Konfliktes bietet Georgien seinen Nachbarn eine Dialogplattform an, zumal 11 Prozent der georgischen Bevölkerung aus ethnischen Armeniern und Aserbaidschanern bestehen. Zweifelsohne liegt das größte Versöhnungspotential bei diesen Menschen, die es schaffen, in Georgien friedlich zusammenzuleben. Die Hoffnung ist, dass sie sich dafür einsetzen werden, Armenien und Aserbaidschan durch Frieden und Zusammenarbeit einander näher zu bringen.
Shamil Shugaev ist Projektkoordinator der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Projektbüro in Tbilisi, Georgien.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.02.2020 in der Fuldaer Zeitung.