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Landtagswahl
Thüringen hat gewählt, aber nicht entschieden

Beim ersten Blick auf das Wahlergebnis herrscht Klarheit, aber auf den zweiten Blick tauchen einige Fragen auf - eine Analyse
Der Landeswahlleiter in Thüringen überprüft am Wahlabend den aktuellen Stand.
Der Landeswahlleiter in Thüringen überprüft am Wahlabend den aktuellen Stand der Ergebnisse im Erfurter Landtag. © picture alliance/dpa-Zentralbild

Die Landtagswahl in Thüringen hat das Wahljahr 2019 beendet. Das mitteldeutsche Land hat gewählt, aber nicht entschieden. Die Linke wird stärkste Kraft und die AfD überholt die CDU. Die Sozialdemokraten sind das erste Mal in Thüringens Geschichte einstellig, während die Grünen nicht vom Bundestrend profitieren können. Besonders spannend machten es die Liberalen, die denkbar knapp ins Parlament zurückkehren.

1.099.962 Menschen haben gestern in Thüringen bei der Landtagswahl ihre Stimme gültig abgegeben – zunächst einmal ein erfreuliches Signal, denn damit stieg die Wahlbeteiligung gegenüber der Wahl 2014 um 12,2 Prozentpunkte auf 64,9 Prozent. Die lange Strecke an Wahlen im Osten der Republik, bei der nur relativ wenige Wahlberechtigte ihr Recht auch tatsächlich wahrgenommen haben, scheint beendet: Die Beteiligung lag in allen fünf ostdeutschen Ländern wieder über 60 Prozent:

Wahlbeteiligung in ostdeutschen Bundeslängern
Datenquelle: Landeswahlleiter

Auf den ersten Blick herrscht Klarheit: Die Linke hat die meisten Stimmen erhalten und ist – zum ersten Mal seit 1990 - stärkste Partei geworden. Zweitstärkste Kraft in Thüringen ist die AfD, die mit 23,4 Prozent der Wählerstimmen die CDU mit 21,8 Prozent hinter sich lassen kann. Die SPD ist mit 8,2 Prozent zum ersten Mal seit 1990 in Thüringen einstellig. Die Grünen landen, mit Verlusten und gegen den in Umfragen erkannten Trend, mit 5,2 Prozent knapp im Parlament. Noch knapper macht es – nach dem vorläufigen Endergebnis - die FDP: Sie schafft mit 5,0005 Prozent (laut Landeswahlleiter) den Wiedereinzug in den Landtag von Thüringen.

Auf den zweiten Blick tauchen Fragen auf: Wieso gewinnt Die Linke in Thüringen deutlich hinzu, während sie sich in den übrigen ostdeutschen Ländern bei den letzten Wahlen deutlich verschlechtert hat? Wieso hat die CDU so viel an Zustimmung verloren? Wer wählt noch die SPD? Wieso stehen die Grünen so viel schlechter da, als in bundesweiten Umfragen? Worauf beruht das Erstarken der FDP? Und woher kommen die Wähler der AfD? Und vor allem: Was bedeutet der Wahlausgang für die zukünftige Landesregierung in Thüringen?

  1. Die Linke zehrt – Alleinstellungsmerkmal! - vom persönlichen Bonus des bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. 68 Prozent der Befragten sagten vor der Wahl, sie seien mit seiner Arbeit sehr zufrieden; 70 Prozent sagten, Ramelow sei „ein guter Ministerpräsident“. Als Spitzenkandidat war Bodo Ramelow mit deutlicher Steigerung gegenüber 2014 für 38 Prozent der Linke-Wähler der konkrete Grund für die Stimmabgabe. 56 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: „Bodo Ramelow interessiert sich mehr als andere Politiker dafür, was Bürger denken.“ Seine Partei verblasst dagegen: Dass Die Linke die Partei sei, die sich am stärksten um sozialen Ausgleich bemüht, oder dass sie die Partei sei, die sich am ehesten um die Probleme in Ostdeutschland kümmert, sagen bei Infratest dimap deutlich weniger Menschen als vor fünf Jahren.
  2. Die CDU hat, laut Analysebericht von Infratest dimap, quer durch alle Bevölkerungsschichten Stimmen verloren – vor allem an die AfD, aber auch an Die Linke. Besonders starke Rückgänge gibt es bei den Älteren, bei den Selbständigen und bei den Beamten. Der Spitzenkandidat zog dabei relativ wenig; nur für 29 Prozent war er entscheidend für ihre Stimmabgabe. Ohne Ministerpräsidenten-Bonus, wie zu Zeiten von Vogel und Althaus, reichte es für die CDU nicht zu einer wahlentscheidenden Kompetenzbeimessung: Dass die CDU die besten Lösungen für die wichtigsten Probleme im Lande habe, sagte eine deutlich geringere Zahl der Befragten. 
  3. Das All-Time-Low der SPD liegt vor allem in einem großen Imageverlust begründet. Von denjenigen, die angeben, die SPD gewählt zu haben, sagen nur 22 Prozent, sie hätten dies aus Parteibindung getan. Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Sozialdemokraten ging in allen abgefragten Feldern deutlich zurück; insgesamt trauten nur noch neun Prozent der Befragten der SPD zu, die wichtigsten Probleme im Land zu lösen. Verluste an Wählerstimmen gab es insbesondere an Die Linke und an die AfD. Eine Mehrheit stimmt negativen Aussagen zur SPD zu. Die Aussage „Bei der SPD weiß man nicht, wofür sie eigentlich steht“ unterstützen 72 Prozent, die Aussage „Die SPD hat in den letzten Jahren in der Landesregierung nichts durchgesetzt, was mir besonders aufgefallen wäre“, bejahen 67 Prozent.
  4. Die Grünen finden ihre Wählerinnen und Wähler vor allem in eher urbanen Regionen, ihre besten Ergebnisse erzielen sie in den Städten. Allerdings fehlt in Thüringen ein eindeutiges urbanes Zentrum und die deutliche Mehrheit der Menschen im Land lebt in Kleinstädten und Landgemeinden unter 20.000 Einwohnern – wo die Grünen nicht so stark und ihre Themen nicht so zentral sind. Interessant sind die Aussagen zu den Grünen: 77 Prozent der Wähler entschieden sich „aus Überzeugung“ für die Grünen – der stärkste Wert aller Parteien bei dieser Wahl. Für 76 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Grünen standen Sachlösungen im Mittelpunkt – auch in diesem Feld ist keine andere Partei so klar. Die allgemeinen Kompetenzbeimessungen für die Grünen sind dagegen recht gering; nur im Feld „Umwelt- und Klimapolitik“ erreichen sie einen hohen Wert von 41 Prozent – in anderen Bundesländern wurden die Grünen hier allerdings deutlich besser bewertet.
  5. Der FDP hat offensichtlich genutzt, dass sie angesichts der Umfragen als möglicher entscheidender Faktor bei einer Koalitionsbildung nach der Wahl gesehen wird. Zusammen mit einer gestiegenen Kompetenzbeimessung in wichtigen politischen Feldern (zum Beispiel bei den Themen Wirtschaft oder Arbeitsplätze) konnte die FDP viele vormalige Nichtwähler und CDU-Wähler hinzugewinnen. Deutliche Zugewinne gab es bei den Jüngeren und bei den Selbständigen. Aber auch das sachpolitische Profil der Freien Demokraten wurde stark beachtet: Eine deutlich gestiegene Zahl von Wählerinnen und Wählern machte ihre Entscheidung an sachpolitischen Erwägungen fest.
  6. Die AfD fand ihre neuen Wähler vor allem bei den vormaligen Nichtwählern, gewann aber auch von der CDU signifikant hinzu. Hauptgrund zur Stimmabgabe war für viele der Befragten (53 Prozent) Enttäuschung über die anderen Parteien. Der Spitzenkandidat war für relativ wenige Wähler (13 Prozent) ausschlaggebend. Das Image der AfD ist, gemessen an den Antworten aller Befragten, ausgesprochen schlecht: Dass die AfD sich nicht genug von rechtsextremen Positionen distanziert, sagen 82 Prozent der Befragten. Dass die AfD „eine demokratische Partei wie alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien auch“ sei, sagen nur 39 Prozent. Der Aussage „Mit Björn Höcke hat die AfD in Thüringen den richtigen Spitzenkandidaten“ stimmen nur 16 Prozent zu. Eine sich in der Region des Wahlergebnisses bewegende Kompetenzbeimessung findet die AfD nur in den Feldern „Kriminalität und Verbrechen in Thüringen bekämpfen“ und „eine gute Asyl-und Flüchtlingspolitik betreiben“.
  7. Wäre das Wahlergebnis eine Pizza, würde man sie zurückgehen lassen: zu viel Rand, zu wenig in der Mitte. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hat sich – zusammengenommen, für Die Linke und die AfD entschieden – nur werden diese beiden mit Sicherheit keine Koalition bilden wollen. CDU und SPD haben zusammen weniger Prozente als Die Linke allein. Die Frage „Wer mit wem?“ lässt sich anhand des bloßen Wahlergebnisses nicht klären. Tatsache ist, dass die AfD nach Aussage aller anderen Parteien nicht einbezogen werden soll, wenn es um eine Koalitionsbildung geht. Ansonsten ist einiges unmöglich und vieles möglich.  

Die Verlagerung der ostdeutschen Wachstumspole von Thüringen und Sachsen Richtung Berlin und Umgebung verlangt aktive wirtschafts-, standort- und innovationspolitische Antworten in Mitteldeutschland, und die fehlen.“

Paqué
Karl-Heinz Paqué