EN

Unruhen
Peru: Ein Land versinkt im politischen Chaos

Nach nur 6 Amtstagen tritt Merino als Präsident zurück: der Nächste, bitte!
Peru Merino Demonstration
Demonstranten zelebrieren mit einer Motorradkolonne durch die Straßen Limas den Rücktritt von Präsident Merino. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rodrigo Abd

Am 09. November hatte der peruanische Kongress mit 105 von 130 Abgeordneten für die Amtsenthebung des bisherigen Präsidenten Martín Vizcarra gestimmt, der trotz der dramatischen wirtschaftlichen Entwicklung und der Corona-Krise weiterhin hohe Popularität im peruanischen Volk hatte. Nur die Morado Partei mit ihren 9 Abgeordneten stimmte geschlossen gegen die Amtsenthebung, alle anderen Parteien stimmten mehrheitlich dafür und übertrafen damit die notwendige Mehrheit von 87 Stimmen deutlich. Schon am gleichen Abend und noch vor der Amtseinführung des nachrückenden Parlamentspräsidenten Merino gab es vereinzelt Protestmärsche gegen diese Entscheidung des Kongresses.

In seiner Antrittsrede am 10.11. bekräftigte der neue Präsident, dass trotz allgemeiner Gerüchte die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wie geplant im April 2021 stattfinden werden. Mit der Ernennung von Ántero Florez-Araoz, einen ehemaligen Minister der Toledo Administration und Mitglied der „Partido Popular Cristiano“ (PPC), einer national-konservativen Partei und einem Kabinett, das zwar von Experten, aber durchweg rechts-konservativen Mitgliedern bestand, wuchs der Widerstand in der Bevölkerung noch mehr. Jeden Tag kam es zu den in Südamerika berüchtigten Cazolerazos, bei dem die Menschen mit Gegenständen auf Töpfe und Geschirr schlagen. Als der Kongress dann auch noch ein Gesetzesentwurf einbrachte, in dem die Privatuniversitäten sich strikteren Qualitätskontrollen entziehen konnten, eskalierte die Entwicklung noch mehr.

Jetzt gab es täglich Großdemonstrationen, in denen die Menschen und vor allem junge Menschen, Studenten und auch die Mittelklasse friedlich und unter Berücksichtigung der „Corona-Auflagen“ zur Plaza der Arma, dem Stadtzentrum und Sitz des Parlamentes zogen. Interessant ist auch, dass einige Parteien und ehemaliger Präsidenten wie Ollanta Humala an den Demonstrationen teilnahmen und versuchten daraus politisches Kapital zu schlagen. Sie wurden allerdings lautstark von der Masse der Demonstranten aufgefordert, zu gehen. Die Morado Partei, die als einzige einheitlich gegen die Amtsenthebung Vizcarras gestimmt hatte, setzte sich mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Julio Guzman allerdings sehr lautstark an die Spitze der Demonstranten.

Am Samstagabend schließlich eskalierte die Situation. Die Demonstration, für die seit Tagen im Internet aufgerufen wurde, begann um 14.00 Uhr und wuchs stündlich an. Liefen die Proteste anfangs friedlich und ohne Probleme, so versuchte wohl eine Gruppe am Abend in das Parlamentsgebäude zu gelangen, andere Demonstranten warfen –teilweise in einem Pool von Journalisten „versteckt“- Pflastersteine auf die Polizisten (alles vom TV dokumentiert). Die Polizei reagierte zunächst mit Tränengas, danach fielen Schüsse und zwei 24 und 25-jährige Demonstranten wurden durch die Polizei gegen 21.20 Uhr getötet.

Im Internet und den sozialen Medien entfachte sich ein gewaltiger Proteststurm. Parteien, die für die Amtsenthebung und damit indirekt für Merino gestimmt hatten, versagten nun dem Präsidenten und seiner Regierung die Unterstützung, einzelne Minister traten zurück, alles LIVE im TV zu verfolgen. Die Medienberichte überschlugen sich, wobei einige auch ungeprüfte Zahlen von 12-18 Minister veröffentlichten, die zurückgetreten sein sollten. Man muss anmerken, dass die meisten Medien schon während der Korruptionsvorwürfe auf Seiten Präsident Vizcarras standen, eine Amtsenthebung aus Angst vor dem Verlust politischer Stabilität ablehnten und eine Anklage Vizcarras nach Beendigung seiner Amtszeit befürworteten.

Diese Haltung wurde auch zunächst von vielen Parteien im Parlament unterstützt, kippte dann aber, als der Präsident in seiner Verteidigungsrede vor dem Kongress die Abgeordneten ebenfalls der Korruption bezichtigte. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Vizcarra Regierung während der Corona Krise die Medien großen finanziellen Hilfen unterstützt hatte, so erhielt die bekannteste Zeitung „El Comercio“ mehr als 73 Millionen Soles (ca. 17 Mio. Euro) an Unterstützung, La Republica 10,7 Millionen, America TV 37,6 Millionen, Latina 36,9 Millionen ATV 25 Millionen und RPP 25 Millionen. 

Wichtig war auch die offizielle Verlautbarung der Polizei und des Militärs, beide versagten der Regierung die Unterstützung bzw. machten deutlich, dass sie sich nicht durch die Regierung zu härteren Maßnahmen gegen die Bevölkerung auffordern ließen. In der Nacht vom Samstag auf Sonntag forderten immer mehr Politiker und Medien den Rücktritt Merinos und seiner Regierung. Die Mesa Directiva der Parlamentsfraktionen kam um 08.00 morgens zu einer Sondersitzung zusammen und forderten geschlossen den Rücktritts Merinos. Gleichzeitig erklärten sie selbst auch ihre Rücktritte und forderten die Kongressparteien auf, in der außerordentlichen Sitzung um 18 Uhr ein neues Parlamentspräsidium zu wählen. Um 12 Uhr mittags erklärte Merino seinen Rücktritt.

Um 18 Uhr kamen die Abgeordneten zusammen, um ein neues Parlamentspräsidium zu wählen und damit auf den neuen Interims-Präsidenten, der bis zu den Wahlen im April im Amt sein wird. Die Verhandlungen und Forderungen zwischen den Parteien im Gange und sehr diffus. Die Morado Partei möchte mit Gino Costa einer der Ihren zum Präsidenten küren. Costa wird auch von anderen und außerhalb der Politik stehenden Führungspersönlichkeiten ins Gespräch gebracht, unter anderem auch von Mario Vargas Llosa. Costa wird aber anscheinend von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt, sie favorisieren mit Carolina Lizarraga ebenfalls eine Abgeordnete der MORADO Partei, die aber anscheinend nicht die Unterstützung ihrer eigenen Partei zu haben scheint. Hintergrund könnte auch sein, dass Lizarraga ebenso wie Julio Guzman Präsidentschaftskandidatin der Morados ist und sich beide bei den parteiinternen Vorwahlen als Rivalen gegenüberstehen. Offiziell unbestätigten Gerüchten nach befürchtet Guzman, der sich bei den Protesten lautstark als Führer zu profilieren versuchte, dass Lizarraga durch eine Interimspräsidentschaft einen Vorteil für die Wahlen erringen könnte.

Die Morado Partei hat in einer offiziellen Erklärung daraufhin erklärt, dass der von ihr vorgeschlagene Kandidat Costa keine Mehrheit hat und MORADO deshalb nun fordert, dass das Verfassungsgericht die Amtsenthebung für verfassungswidrig erklärt, rückgängig macht und Martin Vizcarra mit seinem gesamten Kabinett wiedereingesetzt wird. Parallel dazu hat die MORADO Partei am Nachmittag während der Verhandlungen zwischen den Fraktionen gefordert, der Kongress solle die eigene Entscheidung der Amtsenthebung rückgängig machen, was bedeuten würde, dass Vizcarra wieder Präsident wäre.

Um 20 Uhr präsentierte der Kongress eine „Einheitsliste“, die allerdings die absolute Mehrheit der Kongressmitglieder erhalten muss. Die Liste wird von Rocio Yolanda Silva Santisteban angeführt, die der Linkspartei Frente Amplio angehört und somit als Interims Präsidentin fungieren soll. Santisteban ist dem äußersten linken radikalen Spektrum zuzuordnen, in den sozialen Medien hat sie Botschaften wie „Eigentum ist Diebstahl und zwar seit 5000 Jahren“ gepostet. Die Liste insgesamt spiegelt eine Allianz des Linksspektrums der Kongressparteien wieder. Die Liste erhielt jedoch nicht die erforderliche Mehrheit und daher wurden die Verhandlungen für eine neue Liste wiederaufgenommen. Zum Zeitpunkt der Berichtsverfassung gibt es noch keine neue Einigung. Es bleibt also weiterhin spannend.

Viele warten auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtes, die für den 18. November angesetzt war, doch neuerlichen Meldung zufolge soll es schon am 17.11. tagen. Allerdings wird dort nicht die Amtsenthebung vom 09. November verhandelt, sondern man diskutiert über die gescheiterte Amtsenthebung des vergangenen Oktobers, gegen die Vizcarra vor der Abstimmung im Kongress Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte. Diesen Schritt hatte Vizcarra aber vor der Abstimmung am 09.11. nicht vorgenommen. Wahrscheinlich war er sich zu sicher, dass die notwendige Mehrheit verfehlt würde. Aufgrund der Erklärungen der einzelnen Parteien im Vorfeld der Abstimmung war auch davon auszugehen. Mit seinem provokativen Auftritt, indem er die Angeordneten selber der Korruption beschuldigte, kippte allerdings die Stimmung. Umso unverständlicher ist, warum der ehemalige Präsident jetzt ebenfalls über soziale Medien dafür plädiert, die Amtsenthebung als verfassungswidrig einzustufen, obwohl er in seiner Abschiedsrede die Entscheidung des Kongresses akzeptiert und erklärt hatte, keine rechtlichen Schritte einzuleiten.

Dennoch hat die Entwicklung auch positive Aspekte. Die Peruaner sind aus ihrer bisherigen Lethargie aufgewacht und nehmen mit den Demonstrationen nicht nur ein demokratisches Grundrecht wahr, sondern artikulieren auch ihren Willen, so diffus er momentan auch scheinen mag. Weiterhin positiv ist auch die Friedlichkeit der Proteste und die im großen Unterschied zu Deutschland, Einhaltung der gesetzlichen Hygieneregeln. Optimistisch stimmt auch, dass die große Masse der Demonstranten junge Menschen sind, in Peru sind nur 16% der Bevölkerung älter als 54 Jahre, 43% sind jünger als 24 Jahre. Die demographischen Rahmenbedingungen sind aber in der politischen Repräsentation überhaupt nicht berücksichtigt.