Liberalismus
Warum liberal?
Der Politik wurde in der Corona-Krise eine Macht zugestanden, die vorher undenkbar erschien. Sie konnte in bisher ungewohnten Handlungsspielräumen und für immer komplexer sich entwickelnde Probleme harte Entscheidungen treffen, die verfassungsrechtlich an die Grenzen gingen.
Um die Pandemie zu bekämpfen, ging es zunächst um administrative Anstrengungen in Kapazitäten von Krankenhäusern, Forschungsinstituten, „vielerlei“ Formen von Notbetreuung und Organisation von Fernunterricht. Es wurden in bisher kaum für möglich gehaltenen Größenordnungen finanzielle Mittel bereitgestellt, um eine Brücke im Bereich der Ökonomie zu bauen. Und das Ganze ist noch lange nicht am Ende, denn es gibt weitere Forderungen aus der Gesellschaft selbst, die in vielen Fällen Züge einer Staatskundschaft trägt.
Die Zukunft wird zeigen, wie es um die eigentliche zivilgesellschaftliche Kraft der deutschen Gesellschaft bestellt ist, wenn nach der Verteilung von Geld der Staat auch wieder den Rückzug antreten muss. Denn die deutsche Gesellschaft geht von Nichtverschlechterungsgarantien und Wachstumsvorsorge als Verfassungsauftrag aus und hatte schon bisher die wirklichen Grundlagen für Freiheit und Wohlstand nicht mehr ausreichend im Blick. Ja, sie wandte sich sogar oft genug gegen genau das, wonach es ihr eigentlich gut ging.
Kritik an der Marktwirtschaft gehörte zum guten Ton. Bei den finanziellen Mitteln, die gegenwärtig in einer „Bazooka“ zur Verfügung stehen, um Menschen in einer Pandemie schlicht zu helfen, träumen anscheinend für viele immer noch von einer Kuh, die im Himmel steht und die man auf der Erde beliebig melken kann. Dass in wirtschaftlichen Aktivitäten Gewinne erzielt werden, galt bisher als Profitgier. Wie schön, dass die entsprechenden Steuereinahmen aber nun doch glücklicherweise zur Verfügung stehen.
Man darf und muss weiterhin skeptisch bleiben, ob die deutsche Gesellschaft endlich einmal eine breitere Fähigkeit entwickelt, in Wirkungsketten zu denken, wenn die Kinder wieder zur Schule gehen und man sich wieder die Hand geben darf. Was kommt von was und was ist die logische Wirkung von bestimmten Entscheidungen, bleibt leider bisher Niemandsland.
Weltweit finden heftige Verteilungsdebatten um Ressourcen und Chancen statt. Jedes Land sucht seinen Platz. Es gibt keine Stammplätze mehr, es gibt Auf- und Absteiger, Diktaturen und nationalistischer Populismus behindern in großen Teilen unserer Welt Menschenrechte und erfolgreiches Wirtschaften. Viele Konflikte kommen aus geschichtlichen Tiefen, deren Trümmer nie ordnungsgemäß beiseite geräumt wurden. Die Freiheit hat noch nicht gewonnen. Im Gegenteil.
Es werden ganz alte und neue Landkarten aufgeschlagen. China grenzt seine Seegebiete neu ab, Russland greift aus imperialer Nostalgie ohne Rücksicht auf Völkerrecht und Nachbarn in seine frühere sowjetische Landmasse und zündelt überall. Großbritannien glaubt, allein besser durchzukommen. In den Vereinigten Staaten ist ein unberechenbarer Mann im Präsidentenamt, dem der Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit schlicht egal ist, ein prächtiges Beispiel für „Inkompetenzkompensationskompetenz“. (Odo Marquard) Newcomer betreten die Bühne, deren Fähigkeiten weit hinter ihrem Selbstbewusstsein zurückbleiben. Leider haben noch nicht alle gelernt, dass es für Handelsstreitigkeiten, gegenseitige Aufrechnungen und aggressiven Umgang keine wirkliche und vernünftige Kosten-Nutzen-Relation mehr gibt. Die Weltgeschichte unterbietet gerade ihr mögliches Niveau.
In Deutschland gibt es angesichts dieser Situation eine bedenkliche Ignoranz gegenüber dem Erodieren freiheitlicher Ordnungen, die Alexis de Tocqueville so treffend beschrieben hat: „Wenn Interessen die Überzeugungen verdrängen und eine Gesellschaft kein Gefahrenbewusstsein außer beim Verlust von Wohlstand mehr hat“. Damit trifft er für die schon immer technisch höchstleistungsfähige, politisch aber leider unbegabte aber anspruchsvolle und wenig verzichtsgewohnte deutsche Gesellschaft den Nagel auf den Kopf.
Hierzulande kommen schon seit längerem Steckenpferdreiter mit skurrilen Vorstellungen und unterkomplexen Weltbildern aus ihren Ställen. Es treiben sich viele herum, die mehr fühlen als wissen, mehr ablehnen als verstehen, mehr angreifen als vermitteln und Geltungsansprüche behaupten, die nicht auf Substanz beruhen. Es gibt ein Missbehagen an der Politik, ein Missvergnügen an Parteien, eine Mobilmachung gegen nahezu alles, was Einsicht abverlangt. Was früher ein frustrierter Mensch seinem Wellensittich in der Küche vorhielt, steht heutzutage in der feigen Anonymitätskultur im Internet.
Es gibt ganze Bewegungen, die den Frust an der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse verstärken und Affekte mobilisieren. Ressentiments, Dauergereiztheiten gegen die Wirklichkeit und Hass auf nahezu alles, was funktioniert, erreichen allmählich hohe Temperaturen. Verloren gegangen sind Alltagsvernunft, Fairness, Skepsis, Höflichkeit und Humor. Vorherrschend sind Töne der Rechthaberei und des Belehrenden und ein hoher Sündenbockbedarf. Die Vorstellung, was es mit unserer Freiheit auf sich hat, auf welchen Voraussetzungen sie beruht und was sie an Anstrengungen verlangt, geht mehr und mehr verloren.
Das Glück der Freiheit und in einem Rechtsstaat zu leben, begreifen viele nicht. Es bringt manche sogar dazu, seine Institutionen zu beschädigen und sein Wertefundament lächerlich zu machen. Viele Menschen, denen es gut geht, wenden sich oft genau gegen genau das, wodurch es ihnen gut geht.
Wir sind, was die sozialkulturellen Voraussetzungen für Freiheit betrifft, in einem Ausmaß sorglos, das gefährlich werden kann. Die Freiheit wird nicht überleben, wenn Menschen glauben, dass sie zu ihrem Erhalt keinen eigenen Beitrag leisten müssten, schrieb der verstorbene Schweizer Psychoanalytiker Carlo Strenger. Der Mann hat recht. Ein Leben in Freiheit ist ohne eine gewisse Eigenbeteiligung schlechthin nicht möglich. Auf diese hin wird in Deutschland aber nur wenig trainiert.
Leider haben die lebensethischen Kapazitäten vieler unserer Mitbürger mit ihren Konsumgewohnheiten in dem doch von vielen so verachteten üblen Kapitalismus nicht Schritt gehalten. Dass Freiheit eine überaus komplexe Schöpfung ist, die auch hohe Ansprüche stellt, so Strenger, und dass die Dynamik des Erwachsenwerdens darin besteht, dass man für sich selbst immer mehr Verantwortung übernehmen muss, ist leider vielen entweder nicht bewusst oder zu anstrengend. Staatsbürgerschaft erschöpft sich nicht allein im Besitz eines Personalausweises, der Pflege des Vorgartens und Besuche von Fitnessstudios.
Deutschland ist ein von Selbstzweifeln geplagtes Land. Ihm fehlen eine gesellschaftliche Körpersprache des Selbstvertrauens und eine mentale der Wirklichkeitsorientierung. In ihrer gegenwärtigen Verfassung scheinen Politik und Gesellschaft in Deutschland dem Vordringen autoritärer, illiberaler, nationalpopulistischer, aber auch gesinnungsdiktatorischer Bewegungen in unserer Welt und bei uns noch nicht so recht gewachsen zu sein. Albert Einstein prägte den Satz, dass die Welt nicht nur von denen bedroht wird, die böse sind, sondern auch von denen, die das Böse zulassen. Es wird Deutschland eine große Überwindung kosten, sich zu einer solchen Erkenntnis durchzuringen. Wegsehen ist jedenfalls auf Dauer kein ethischer Horizont und politischer Moralismus ersetzt nicht Urteilskraft.
Es gibt für unsere politische Ordnung keine Bestandsgarantie. Deutschland muss erheblich mehr in Strukturen investieren, mental und finanziell, die seine existentielle Grundlage in Freiheit, Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft stützen und schützen. Sicherheit für die eigene pure physische Existenz von Menschen und ihres Staats und die Abwehrfähigkeit gegenüber Bedrohungen sind sicherheitspolitisch gebeten, nicht wegen Trump. Verbündete sind Trump geradezu egal, dieser Mann wird nie verstehen, dass auch ein großes und starkes Land Freunde braucht. Deutschland und Europa müssen für sich selbst sorgen, sonst sind auch ihre diplomatischen Möglichkeiten am Ende wirkungslos. Es fehlt aber bisher an einem erkennbaren strategischen Gestaltungswillen ihrer politischen Klassen.
Klimawandel ist nichts Neues. Der Treibhauseffekt hat menschliches Leben auf der Erde überhaupt erst möglich gemacht. Neu ist, dass der Mensch mit Beginn der Industrialisierung den Klimawandel mit verursacht. Daran gibt es keinen Zweifel. Dissens gibt es aber über die Konsequenzen und die Grundfrage des Umgangs mit Ungewissheit und dem Alarmismus der Umwelt-Debatte. Sie wird leider allzu oft von manchen Teilnehmern eher mit Agitationsinteresse unter moralischer Aufladung geführt. Sie entwickelt sich neben intensiver Forschung und engagierter wissenschaftlicher Arbeit und der Suche nach Erkenntnis bisweilen auch zu einer Anmaßung von Wissen und schadet den berufsethischen Tugenden der Wissenschaft.
Es gibt Bewegungen, die Einschränkungen der Freiheit der Bürger als moralische Verpflichtung im Interesse der Bekämpfung des Klimawandels begründet. (Rödder) Aber nicht eine große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch einen umfassend ermächtigten Lenkungsstaat mit besserwisserischen und gouvernantenhaften Zügen ist die Antwort auf neue Herausforderungen. Evolutionärer Strukturwandel durch wirtschaftlichen wie geistig-kulturellen Wettbewerb, mobilisiert die nötige Innovationskraft einer Gesellschaft.
In Deutschland ist es immer 5 vor 12. Die Zukunft sollte aber nicht zu einer Kategorie der Angst gemacht werden. Je mehr Angst desto weniger Differenziertheit. Es droht keine Apokalypse. Panik ist kein Rezept. Wir müssen uns nicht ausschließlich mit Bedrohungsszenarien und deren unvermeidlicher Unvermeidbarkeit abfinden und uns von Chaospropheten beraten lassen, denen es im Übrigen wie den Zeugen Jehovas geht, die den Weltuntergang schon mehrmals verschieben mussten, weil er partout nicht eintreten wollte. Die Geschichte der Menschheit ist überhaupt eine Geschichte von Weltuntergängen die nicht stattgefunden haben.
Unser Kopf sollte der Navigator bleiben. Wer Erlösung sucht, muss beten. Wer Lösungen sucht, muss arbeiten. Öko muss logisch gedacht werden. Der Klimawandel muss uns nicht Lebensraum nehmen, der demografische Wandel muss uns nicht behäbig machen. Unsere Innovationsfähigkeit muss nicht sinken. Wir müssen nicht Standards durch Rohstoffknappheit verlieren. Megatrends wie Klimawandel, Rohstoffknappheit und Demografie können auch Energie-Effizienz, ressourcensparende Produktionsprozesse, neue Mobilitätskonzepte und technologische Substitutionen hervorrufen. (Roland Berger)
Seit der Vertreibung aus dem Paradies ist es notwendig zu arbeiten und sich anzustrengen. Ökonomie, Technik, Handel, Wettbewerb haben seit Jahrhunderten Wohlstand mit sich gebracht und die Arbeit erleichtert. „Wer die sexuelle Befreiung der Gesellschaft vorangetrieben hat, wer sich für fremde Kulturen, für Ethnien und Religionen einsetzt, wer die Abtreibung liberalisiert hat, wer gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die Ehe ermöglicht, der muss wissen, dass Freiheit sich nicht teilen lässt, dass sich eine emanzipatorische Modernisierung nicht halbieren lässt“. (Kersting).
Es wird nichts werden mit einem kulturell-gesellschaftlichen Bereich der Emanzipation, der gegen die Realitäten der Ökonomie und der Technik ins Feld geführt wird. Diese Art Schmalspurmodernität ist unaufrichtig. Sie erwartet nämlich von den einen, dass sie die Substanzmittel erarbeiten, ohne die andere ja geradezu nichts verteilen können. Es gibt nicht nur eine Verantwortung gegenüber Schwächeren, sondern auch eine Verantwortung gegenüber denen, die die Mittel erwirtschaften. Hierzulande wird aber gerade der Unternehmer geradezu tribunalisiert. Das ist nicht fair. So kann keine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie gelingen.
„Wenn Ineffizienz die allgemeine Produktivität vermindert und die Verteilungsverhältnisse verschlechtert, dann ist die soziale Sicherheit das erste Opfer.“ (Kersting) Aber nicht nur sie, sondern auch das Modell der Wählerbewirtschaftung durch Verteilung, die politische Hauptschlagader von SPD, Grünen und gelegentlich auch der CDU würde ausfallen. Sie müssten das eigentlich alle wissen, vielleicht wissen sie es auch, es würde allerdings ihr politisches Geschäftsmodell empfindlich stören, wenn sie es zugeben müssten. Denn der Beifall ihres Gesinnungspublikums wäre dahin. Dieses Erweckungserlebnis scheuen sie.
Technologische Innovationsbereitschaft, solide Finanz- und Wirtschaftspolitik, faire Regeln für den Wettbewerb, auch sie gehören zu solider, nachhaltiger enkeltauglicher Politik“ (Neos). Im Werkzeugkasten umweltpolitischer Meinungsbesitzer findet sich dazu nichts. Sie haben vieles im Blick. Geordnete Finanzen und Generationengerechtigkeit allerdings weniger. Dabei ist doch Nachhaltigkeit mehr als eine Tasse Tee ohne Zucker, ein Salat ohne Dressing und ein stilles Wasser.
Seit Renaissance und Aufklärung hat sich in Europa eine neue Welt durchgesetzt. Es gibt aber alte Gegengewichte des Neuen. Manche Menschen vertreten ihren Glauben und ihre Überzeugung in einer Art von Gewissheit, die jede Kultur der Toleranz zerstört. Solchen Vertretern einer konfrontativen Weltsicht darf man die Bühne nicht durch eine ignorante Toleranz überlassen. Alles zu verstehen kann nicht bedeuten, alles zu billigen. Der Rechtsstaat kann keinen Kulturrabatt geben, wo Menschenrechte auf dem Spiel stehen.
Wir müssen nicht religiöse Auslegungen akzeptieren, die das Kollektiv über das Individuum stellen oder den Mann über die Frau, die die Minderheitenrechte missachten und Andersdenkende bedrohen und Menschen in die Knie zwingen, statt ihnen auf die Beine zu helfen. Wir müssen den Anspruch an Religionen erheben, zur praktischen Toleranz fähig zu sein. Wir dürfen sie fragen, welche zivilisatorische Idee sie uns vorzuschlagen haben, welches Rechtssystem, welches Bildungssystem, welche öffentliche Ordnung und welches Menschenbild sie beherbergen, welche Bücher in ihren Bibliotheken stehen.
Eine Religion, so schrieb der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus, sollte Gott verehren, aber nicht selbst Gott spielen. Das gilt für alle Fundamentalisten und Letztbegründungsapologeten, wo immer sie sich aufhalten. Ob sie nun amerikanische Evangelicals sind oder Angehörige muslimischer Gemeinschaften oder Pius-Brüder oder in ethnisch-nationalistischen Orthodoxien vertreten sind.
Freiheitliche Gesellschaften müssen sich gegenüber Gegner freiheitlicher Ordnung zur Verteidigung ihrer eigenen Werte entschließen. Sie müssen Selbstbehauptungswillen zeigen, der sich den Grundlagen der eigenen Ordnung bewusst ist. Die Vielfalt der Kulturen fängt damit an, die eigene zu erkennen in ihren Fehlern und Schwächen, aber auch in ihrer Kraft. Wer sich selbst nicht mag, der kann auch niemand integrieren.
Wenn Menschen nicht mit Freiheit leben können oder in Freiheit leben wollen und Individualität nicht ertragen, haben sie es in offenen Gesellschaften schwer, das machte kürzlich eine Journalistin mit Migrationshintergrund deutlich. In Europa und in Deutschland gibt es nicht zuerst die Gruppe, sondern den Menschen. Es ist die Freiheit und die Menschen, die hier zählen. Kein Kollektiv, kein Stamm, keine Religion, auch keine Familie, die über dem Recht des Einzelnen steht und bestimmt, wen man heiraten soll, welchen Beruf man ergreifen soll, wem man gehorchen muss, schrieb sie ganz glücklich an viele ihrer Schicksalsgenossinnen, die so viel Kraft aufwenden müssen, das ihren Familien klar zu machen.
Kein Mensch muss das Knie vor Menschen beugen, die stärker sind als er selbst. Genau das ist eine europäische Errungenschaft und sie steht nicht zur Disposition. „Sie steht für jeden Menschen offen, der diese Werte respektiert und zu verteidigen bereit ist“, sagte der leider verstorbene großartige amerikanische Senator McCain. Es muss deshalb ein Ende haben mit der zivilisierten Verachtung der westlichen Kultur als Quelle allen Übels, ohne sie überhaupt durchdrungen und verstanden zu haben, auch unter uns Europäern selbst.
Ralf Dahrendorf beschrieb wie kein anderer die Heimsuchung Europas durch Nationalsozialismus mit Bindung und Führung, ein damals wie mancherorts auch heute verführerisches Angebot der Erleichterung für Menschen, die sich gerne an einem Leitseil führen lassen. Er beschrieb Stalinismus mit Bindung und Erlösung. Beide Ideologien wollten einen neuen Menschen schaffen und appellierten dabei an seine niedersten Instinkte.
Totalitäre Züge in beiden Ideologien wurden lange nicht erkannt, im Übrigen auch von Menschen, die sich gerne selbst als Intellektuelle sahen und gerne als solche gesehen werden wollten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auch heute greifen Menschen immer wieder zu verführerischen Angeboten aus der politischen Apotheke. Sie lesen nicht die Beipackzettel und achten nicht auf Nebenwirkungen und Verfallsdaten. Sie wollen zwar immer die Wahrheit hören, wählen aber oft die Märchenerzähler.
Viele lernen nicht, was sie brauchen um beurteilen zu können, was sie hören. Für politische Bildung gibt es kein Schulfach, keinen Studiengang zum Diplom-Bürger und auch keine Handwerksordnung. Zu wissen, worüber man redet, wäre aber schon ganz gut. Wenn die liberale Demokratie überleben will, gilt es, größte Anstrengungen zu unternehmen, dass die Fähigkeit, politischen Argumentationen zu folgen und die Stichhaltigkeit und Triftigkeit der Argumente einigermaßen bewerten zu können gestärkt wird. Dafür muss man nicht über Wissen auf allen Gebieten verfügen, man muss allerdings Wirkungszusammenhänge politischer Entscheidungen einigermaßen beurteilen können. Daran hapert es in Deutschland gewaltig. Hierzulande herrscht sehr oft Gesinnung über Urteilsvermögen.
Es gilt, Gesellschaft, Politik und Ökonomie durch Orientierungswissen und Deutungsfähigkeit beurteilen zu können, eine gewisse Unsicherheitstoleranz aufzubringen mit der komplizierte, mehrdeutige Situationen bewältigt werden können. Es ist falsch, auf solche Situationen resigniert oder aggressiv zu reagieren und populistischen Lösungsansätzen anheim zu fallen.
Es geht nicht um Schulformen, es geht um die Art und Weise, wie Wissen in der Schule vermittelt wird, um die Qualität des Unterrichts, aber auch, wie Haltungen, Werte und Einstellungen im Elternhaus vorgelebt werden. Es geht um basale Fertigkeiten, die Lehrer und Eltern fördern müssen. Sie erfordern Lehrerpersönlichkeiten und ein Mindestmaß an Mitgift des Elternhauses für die Zivilisiertheit der eigenen Kinder. Die Schule kommt in vielen Fällen zu spät. „Die erste Unterrichtsstunde ist die Stunde der Geburt“. (Pestalozzi) Jeder sollte doch wissen, dass jeder, der sein Hemd am obersten Knopf nicht richtig zuknöpft auch unten nicht klarkommt.
Wir sollten uns umschauen. Die skandinavischen Länder, bei denen alle erreichbaren Studien zeigen, dass Bildungserfolg und soziale Herkunft nicht so hochgradig ausschlaggebend sind wie in Deutschland, haben Bildungspolitik viel stärker zu einem integralen Bestandteil ihrer Politik zur sozialen Sicherheit gemacht. „Ihre Tradition ist darauf ausgerichtet, sowohl in die individuelle Bildung als auch in die Absicherung gegen Risiken im Lebenslauf zu investieren“ (Hurrelmann). Sie sehen die Notwendigkeit, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein starkes Potenzial für die Entfaltung eigener Möglichkeiten zu geben. Für den Statuserwerb sozusagen und gleichzeitig ein hohes Niveau garantierter Lebensqualität über eine Statussicherung zu gewährleisten.
Verglichen mit dieser Grundeinstellung unseres europäischen Nachbarn Skandinavien pflegt Deutschland den Schwerpunkt eindeutig in der sozialen Sicherung zu setzen. Damit herrscht hierzulande ein Ungleichgewicht zwischen Statuserwerb und Statussicherung. Das ist keine besonders „innovationsfreundliche Wohlfahrtsauffassung“ (Hurrelmann).
Die neuen sozialen Fragen sind eher Kulturfragen, es geht ganz einfach um neue Sozial- und Bildungspolitik, die Teilhabe ermöglicht. Chancen sind aber noch keine Garantien, da sie erst durch individuelle Anstrengungen zu konkret gelebten Biografien werden. Und diese sind wiederum von Fähigkeiten abhängig, die sogar beim Verstand, bei dem doch alle glauben, dass sie genügend davon mitbekommen hätten, ungleich verteilt sind. Der Zufall, der bei der Kombination unserer Erbanlagen waltet, macht die Menschen zwar alle einzigartig, aber eben auch einzigartig unterschiedlich in ihren Stärken und Schwächen und Fähigkeiten. Es ist dringend notwendig, Gerechtigkeitsrhetorikern entgegenzutreten, die Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechseln.
Lebenserfolg ist nicht berechenbar, er ist auch nicht politisch herstellbar. Das Eingeständnis dieser Tatsache wäre heilsam für unser politisches Denken. Gleichheit ist nicht gerecht und Gerechtigkeit kann nicht Gleichmacherei sein, solange sich Menschen unterscheiden. Es gibt eben Menschen, denen es an Eigeninitiative mangelt, die auch Angebote und Hilfe bekommen, die aber mit Chancen buchstäblich nichts anzufangen wissen. Und es gibt Menschen, die eigeninitiativ handeln und auch deshalb erfolgreich sind. Leistung ist keine Körperverletzung, sie ist der eigentliche Kern der Solidarität.
Nicht jeder Fähigkeitsunterschied hat seine Quelle in sozialer Benachteiligung. Die sozialpolitische Kompetenz einer Gesellschaft und einer Politik muss sich in einem ernsthaften Bemühen um Benachteiligte und Schwächere zeigen. Sie muss dabei allerdings den Eindruck vermeiden, als sei die Moral eher bei den Schwachen und der Ellbogen mehr bei den Starken. Moral ist im Übrigen weder automatisch unter noch automatisch über einer Einkommensgrenze anzutreffen.
Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten, Deutschland aber besitzt im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten, schrieb Heinrich Heine.
Deutschland muss sich dringend in Wirklichkeiten üben. Das fällt ihm erkennbar schwer, denn es hat sich in seiner ganzen Geschichte an Wirklichkeiten nur sehr ungern orientiert. Auch heute noch werden von Parteistrategen mit verkniffenen Gesichtern meist in fensterlosen Räumen geduldige Papiere beschrieben in der Hoffnung, dass bloß der Gedanke Recht behält. Nicht aber solche Papiertiger sind Gradmesser für die Qualität eines Programms, sondern die Wirklichkeit. Entscheidend ist, um es in der Fußballersprache zu sagen, auf´m Platz.
Es ist alles so kompliziert und wir hätten es gerne einfach. Die Welt ist aber nicht einfach und sie war es auch noch nie. Deshalb sollten sich Liberale nicht dafür entschuldigen, dass sie keine Patentrezepte anbieten. Linke wie Rechte versuchen sich an dieser Aufgabe. Linke wollen eine Verbesserung der Verhältnisse durch Abschaffung des Marktes. Auf der rechten Seite glaubt man, den Beschleunigungsverhältnissen der Zeit durch ethnisch-kulturelle Abschottung zu entkommen. Die Ergebnisse solcher Politik können weltweit beobachtet werden. Entweder enden sie in Armut oder in Unterdrückung und in manchen Fällen führen sie zu beidem. Liberale sind Gegner der Entwicklung von solchen Fluchtburgen gegenüber komplexen Herausforderungen, auf deren Mauern Kurzsichtige Wache halten.
Der Wettbewerb politischer Parteien leben nicht allein vom richtigen Argument, auch nicht von der Kenntnis von Sachverhalten oder Kompetenz. Es zählt oft sehr viel stärker das prägen von Begriffen, Bilder, die Empfindung, die Anmutung, die Wirkung und in nicht wenigen Fällen die Selbstinszenierung.
Eine Partei wird für das Alltagsgeschäft in vielen Bereichen die Fragen beantworten, die beantwortet werden müssen, um Sozialpolitik, Bildungspolitik, Umweltpolitik, Wirtschaftspolitik und Außenpolitik interessierten Mitbürgern fachlich-sachlich erläutern zu können. All das unterliegt aber einer gewissen Materialermüdung und hat auch Verfallsdaten. Was und wie sollen die Bürger von uns denken, worauf wollen wir hinaus, in welcher Gesellschaft wollen wir leben, diese Fragen gilt es zu beantworten. Auf die Frage nach der entscheidenden Bedeutung des Grundgesetzes hat Theodor Heuss geantwortet, dass diese in der Versöhnung der deutschen politischen Eliten mit dem parlamentarischen System des Westens zu finden sei. Sie gründet in und aus einer tiefen Erfahrung der Weimarer Republik, in der eine deutsche Gesellschaft nicht willens und nicht in der Lage war, die erste deutsche Demokratie vor dem Scheitern zu bewahren und den Versuchungen der Unfreiheit schließlich erlag. Was ist Wissen, was ist Gerechtigkeit? Wie kann man verhindern, dass sich Autorität in totalitäres verwandelt, wie kann man totalitäre Tendenzen überhaupt rechtzeitig erkennen? Denn Menschen, die Autoritäten immer bewundern, werden in erschreckendem Maß hilflos, wenn Autoritäten autoritär werden, gerade auch in Deutschland.
Das von Freien Demokraten maßgeblich mitgestaltete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland war nach dem großen Abweichen vom Pfad der Zivilisation der Ausdruck eigener Selbstvergewisserung und des Suchens um neue Anerkennung in der Welt. Dieses Mal zivil und human und nicht aggressiv und imperial.
Es gibt die nötige kraftspendende Identität, die jede Gesellschaft braucht. Es erwartet den Staatsbürger und nicht den Staatskunden. Es hat die unveräußerlichen Rechte, die sich mit der Würde des Menschen verbinden am Beginn in einem unveränderten Grundrechtskatalog normiert.
Es hat eine freie Gesellschaft grundgelegt, die sich, so beschrieb sie Joachim Fest, nicht zuletzt auch auf eine Reihe von Voraussetzungen und ein System von Vorkehrungen gründen muss, die strenggenommen in dem einen oder anderen Fall gegen die menschliche Natur gerichtet sind. Seine Regeln und Normen, seine Schranken verlangen Sorgfalt im Umgang mit der Freiheit. Auch eine Mehrheit darf nicht alles. Ich bin das Volk, meine Wille geschehe, ist totalitär.
Das Grundgesetz hat ein Gespür dafür, dass Demokratie zerbrechlich ist, und dass Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf. Es sichert zivilisatorische Bestände, die nicht dem Amüsierbetrieb preisgegeben werden dürfen. Es hat sich bewährt, es hat sich durchgesetzt, im Übrigen auch durch eine kluge Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das es selbst an die Spitze der dritten Gewalt gesetzt hat.
Es hat für all das eine kluge Verfassung und Fassung gegeben, was sich anschließend in der Geschichte unseres dann schließlich vereinigten Landes entwickelt hat. Für die notwendige Integration in Europa, für die Zusammenarbeit im Transatlantischen Bündnis, für die Verträge mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn. Es war auch gewappnet gegen den Versuch der Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit, der in einer bestimmten Phase die Bundesrepublik heimsuchte.
Es hat weitsichtig die Wiedervereinigung immer offengehalten. Der Brief Walter Scheels zur deutschen Einheit als Bestandteil des Moskauer Vertrages hat gezeigt, dass dies nicht nur ein Lippenbekenntnis war. Das Grundgesetz hat eine Einladung an achtzehn Millionen Deutsche immer ausgesprochen und diese habe die Einladung schließlich auch mit dem Eindrücken der Mauer vom Osten her und mit einer ersten erfolgreichen friedlichen Revolution in Deutschland angenommen. Das Grundgesetz ist niemanden übergestülpt worden, es war die immer ausgestreckte Hand. Das Grundgesetz bleibt, was es war und was es ist: ein stabiler und überzeugender Kompass für eine freie Gesellschaft. Nach zwei verlorenen Weltkriegen. Nach Vertreibung der eigenen Eliten, nach Verlust von einem Drittel des eigenen Territoriums, nach so vielen Versuchen, sich selbst zu ruinieren. Es ist das Beste, was wir haben. Ein bisschen mehr Freude über das Erreichte, so sagt der große Historiker Fritz Stern, täte uns gut.
Die FDP sollte dieser Anregung folgen. Sie ist für die Pflege der eigenen Marke wichtig, denn es gibt zu viele Kurzdenker. Die FDP ist die einzige Partei in Deutschland, die uneingeschränkt für die entscheidenden Erfolgsgesichtspunkte unseres Landes gestanden und sie mitbestimmt hat. Als die SPD noch Adenauer als Kanzler der Alliierten titulierte, hat sich die FDP für die Westbindung entschieden. Sie hat sich für den Eintritt in die NATO entschieden.
Die FDP war die einzige Partei, die uneingeschränkt Ludwig Erhard in seiner marktwirtschaftlichen Politik unterstützt hat. Nicht die CDU/CSU und schon gar nicht die SPD haben den Weg in die soziale Marktwirtschaft so überzeugend unterstützt, wie sie. Als die Bundesrepublik Deutschland etwas schläfrig wurde in den sechziger Jahren, hat sie – und das ist der bleibende Verdienst von Ralf Dahrendorf – mit dem Bürgerrecht auf Bildung und klarem Willen zu Veränderung und Innovation und einer neuen Deutschlandpolitik unter Einsatz unserer eigenen Existenz die politische Landschaft verändert.
Die Koalition Brand/Scheel hat dann unter heftiger Kritik der CDU/CSU die Verträge mit unseren östlichen Nachbarn verhandelt. Ein festes Standbein im Westen, eine freiheitliche Verfassung, aber gute Nachbarschaft – das war das Programm der FDP. Als schließlich die SPD Helmut Schmidt in der Haushaltskonsolidierung nicht mehr folgen wollte, hat die FDP das mit der CDU/CSU gemacht und stabile Finanzen gesichert, die bei der Vereinigung unseres Landes finanzielle Handlungsfähigkeit ermöglichten.
Am Ende eines langen Bohrens dicker Bretter stand der 2+4 Vertrag. In 392 Tagen verhandelt, eine politische wie diplomatische Meisterleistung. Die einstmals sowjetischen Soldaten zogen ab, ohne dass ein Schuss fiel. Seit dem Parteitag der FDP 1967 in Hannover ins Auge gefasst, vollendet durch Hans-Dietrich Genscher, begonnen mit Hans Wolfgang Rubin und Wolfgang Mischnick, beide Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung. Die kleine, oft gescholtene FDP hat bei entscheidenden Herausforderungen in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Politik und der deutschen Gesellschaft über Tabuzonen hinweggeholfen, sagte Walter Scheel in seiner bemerkenswerten Rede anlässlich des Misstrauensvotums gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt, mit dem die CDU/CSU genau das verhindern wollte, was gerade notwendig war: Vertrauensbildung - auch nach Osten - ohne die die Wiedervereinigung nicht möglich geworden wäre.
Freiheit bringt Probleme mit sich. Sie können aber nur in Freiheit gelöst werden. Liberalismus ist kein Parteiprogramm, sondern eine Haltung, die weiß, dass Demokratie zerbrechlich ist und dass das Leben seit der Vertreibung aus dem Paradies mit Anstrengung verbunden ist. Liberale müssen Kulturen der Unbedingtheit entgegentreten, dem vermeintlich Einfachen widerstehen, Komplexität begreifen, sich um selbstbestimmte Lebensführung bemühen, Bescheidenheit mit Selbstvertrauen verbinden und zu Durchhaltefähigkeit bei Herausforderungen fähig sein. Sie müssen Menschen immer zuhören. Aber sie dürfen ihnen auch sagen, was sie ganz einfach wissen müssen. Sie selbst müssen allerdings dabei überzeugend sein. „Sie müssen das, was sie denken, auch sagen. Und sie müssen das, was sie sagen, dann auch tun und sie müssen das, was sie tun, dann auch sein“ (Herrhausen).
Es geht um argumentative Qualität und erkennbare Haltung.
Es kann dabei nicht jeder der oder die Beste sein. Aber jeder muss sein und jede ihr Bestes geben.
Da ist noch Luft nach oben.
Zu der neuen Folge unseres Podcasts Streitbar extra mit Wolfgang Gerhardt:
Streitbar Extra – Große Aufgaben für Liberale: Warum „einfach" gefährlich ist
"Warum liberal?" hat Dr. Wolfgang Gerhardt seine neueste Intervention überschrieben. Was auf den ersten Blick so banal scheint, ist es auf den zweiten Blick leider nicht. Denn die Deutschen üben nicht den Aufbruch, sondern pochen auf "Nichtverschlechterungsgarantien", während die Welt zunehmend in Unordnung gerät. Von wo drohen die größten Gefahren für die liberale Idee? Wie kann gegengesteuert werden? Darüber diskutiert der ehemalige Vorstandsvorsitzender der Stiftung in einer neuen Folge Streitbar.