Migrationspolitik
Widersprüche im Senegal
Herr Oetjen, Sie haben vor Kurzem den Senegal besucht, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Senegal gilt seit Jahren als der Absprunghafen für illegale Migration aus Afrika über die sogenannte atlantische Route. Zugleich gilt Senegal als stabile afrikanische Demokratie mit prosperierender Wirtschaft. Ein Land, das in der internationalen Entwicklungspolitik oftmals eine Vorzeigerolle einnimmt. Wie beurteilen Sie diese doch sehr widersprüchliche Situation?
In der Tat ist der Senegal eine stabile Demokratie. Und auf dem afrikanischen Kontinent eines der Länder, in denen es eine positive wirtschaftliche Entwicklung gibt. Diese ist natürlich auch eine Folge der stabilen Verhältnisse in dem Land. Dennoch gibt es im Senegal auch die Situation, dass trotz eines hohen Wirtschaftswachstums weniger Arbeitsplätze geschaffen werden als Menschen neu auf den Arbeitsmarkt dazukommen. Das führt dazu, dass es eine gefühlte Perspektivlosigkeit gerade bei jungen Menschen gibt. Diese hoffen, in Europa ein besseres Leben zu finden. Insofern gibt es zwar auf der einen Seite positives Wirtschaftswachstum, eine stabile Demokratie und auch grundsätzliche Achtung von Menschenrechten – auf der anderen Seite aber diese ökonomische Schere zwischen denen, die die Chance haben, am Arbeitsmarkt im Senegal zu partizipieren und denjenigen, denen genau dies verwehrt bleibt.
Deshalb wird aus meiner Sicht die Zahl der Menschen, die sich aus dem Senegal oder aus den umliegenden Ländern über den Senegal auf die gefährliche Migrationsroute nach Europa begeben, nicht abnehmen, sondern auch in Zukunft hoch bleiben.
Was hat Sie bei ihrem Besuch und Ihren Gesprächen im Senegal im positiven wie auch im negativen Sinne am meisten beeindruckt?
Ich war am meisten beeindruckt von den starken und beeindruckenden Geschichten vieler junger Menschen. Viele, die sich auf einem Boot auf den Weg nach Europa gemacht und die Fahrt überlebt haben, sind zwar in Europa angekommen, haben aber aufgrund fehlender Asylgründe keinen Aufenthaltsstatus bekommen und mussten deshalb zurückgebracht werden. Ich war fast schon schockiert, wie bereit diese Menschen waren, sich wieder in ein Boot zu setzen und diese Überfahrt erneut zu wagen, obwohl viele ihrer Bekannten und Mitfahrer auf der ersten Reise ihr Leben verloren haben. Das zeigt für mich, wie groß die Verzweiflung dieser Menschen ist und wie schwierig es ist, in ihrer Heimat eine positive Perspektive zu entwickeln.
Gleichzeitig haben wir ganz beeindruckende Projekte gesehen, die den Menschen genau diese positiven Perspektiven geben. Zum Beispiel in der Landwirtschaft durch die Kooperation mit europäischen Partnern. Investitionen und Kooperationen haben dazu geführt, dass in der landwirtschaftlichen Produktion die Erträge gesteigert wurden und dadurch das Einkommen für Familien und sogar für ganze Dörfer stark angestiegen sind. Die Auswirkung der Einkommenssteigerung war vor Ort sehr gut zu erkennen. Es war beeindruckend, wie Perspektiven geschaffen werden, wenn man die Entwicklungskooperation besser gestaltet. Das war ein sehr schönes Beispiel, dass beide Situationen in einem Land koexistieren können.
Was nehmen Sie als europäischer Parlamentarier mit aus diesem Besuch für Ihre politische Arbeit? Gibt es liberale Lösungsansätze und wie müssten diese aussehen?
Was ich für mich als Parlamentarier mitnehme ist, dass es so viele positive Beispiele für gute Entwicklungskooperationen gibt. Diese sind beispielsweise verbunden mit Investitionen in Infrastruktur. Auch damit, dass man Menschen die Möglichkeit gibt, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Insofern gibt es natürlich für die politische Arbeit eine ganze Reihe von Eindrücken und Themen, die ich für mich und meine Arbeit mitnehme. Ich selbst arbeite schwerpunktmäßig im Bereich der Migration. Die Reise hat deutlich gemacht, dass man Migration nicht stoppen kann, sondern dass es einen menschlichen Antrieb für Migration und für ein besseres Leben gibt. Das ist schon seit Bestehen der Menschheit so. Migration wird man nicht verhindern können. Diese Menschen, die sich erneut ins Boot setzen, sind ein Zeichen dafür, dass Migration immer weiter geht.
Für mich ist eine der zentralen Fragen, über die wir uns Gedanken machen müssen: Ist es nicht besser, statt Migration stoppen zu wollen, diese in andere Bahnen zu lenken?
Ist die Politik der EU zur Eindämmung illegaler Migration aus Afrika wirksam? Ist beispielsweise die FRONTEX-Mission noch das richtige Instrument? Was wären Alternativen?
Natürlich ist die irreguläre Migration ein Problem. Und in den Gesprächen mit den Migranten und potenziellen Migranten ist deutlich geworden, dass sie sehr wenig darüber wissen, was sie in Europa erwartet. Welche Rechte sie haben, welche Möglichkeiten sie haben. Es herrscht ein Bild von Menschen vor, die nach Europa fliegen und nach einigen Jahren mit wirtschaftlicher Stabilität und Wohlstand zurückkehren. Das ist für viele attraktiv zur Nachahmung. Viele Menschen wissen nicht, dass nach ihrer Ankunft in Europa für sie gar nicht die Möglichkeit besteht, zu arbeiten. Dass es Asylverfahren gibt und dass Länder für die Einreise besondere Regeln haben. Insofern glaube ich, dass man stärker informieren muss. Was ist in Europa möglich? Und was ist in Europa nicht möglich?
Gleichzeitig glaube ich, dass wir bessere Regeln dafür brauchen, wie man nach Europa kommen kann, um Arbeit aufzunehmen. Denn wir brauchen Einwanderung nach Europa, wenn wir unseren Wohlstand halten wollen. Wir brauchen Einwanderung sowohl von qualifizierten Fachkräften, aber wir brauchen auch Einwanderung in die Ausbildung und das Studium. Und wir brauchen die Einwanderung von weniger qualifizierten Menschen. Dieser Bedarf ist in den Ländern Europas unterschiedlich stark ausgeprägt. Deswegen schlagen wir als Liberale vor, nach dem kanadischen Vorbild einen Talentpool einzurichten, auf den man sich schon aus dem Herkunftsland heraus bewerben kann. Damit bekommt man die Chance, auf einem sicheren Weg nach Europa zu kommen. Ich bin mir sicher, dass wir die Zahl der irregulären Migranten nur verringern können, indem wir die Zahl der regulären Migranten erhöhen. Das ist zum einen über den Bereich Arbeitsmarkt und zum anderen über den Bereich Resettlement möglich. Dabei geht es darum, den Schwächsten der Schwachen zu helfen und ihnen den Weg nach Europa zu ermöglichen.
Die EU ist in vielen der ärmsten Länder Afrikas einer der größten Geber – mit steigender Tendenz. Auf die Migrationsströme scheint die europäische Entwicklungszusammenarbeit jedoch keinen Einfluss zu haben. Ist die Wirksamkeit der EU-Fördergelder wirklich gegeben? Wo liegen die Schwachstellen? Wie müsste die europäische EZ Ihrer Meinung nach gestaltet werden?
Das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten mit Partnern auf dem afrikanischen Kontinent ist es, Chancen vor Ort zu entwickeln, Prosperität zu ermöglichen und damit Arbeitsplätze und Einkommensverbesserungen zu schaffen. In der Folge sollen Stabilität und Demokratie entstehen, in denen Grundrechte geachtet werden. All diese Ziele verfolgt die EU in ihrer Entwicklungszusammenarbeit. Trotzdem kann diese keine Wunder bewirken. Es bleibt ein großer Unterschied zwischen dem Lebensstandard in der EU und den afrikanischen Staaten. Und dieser wirkt anziehend auf Menschen in Afrika, die für sich oder ihre Familie ein besseres Leben suchen. Diese Anziehung wird bleiben. Insofern ist die Entwicklungszusammenarbeit nur ein Baustein, aber sicher keine alleinige Antwort auf die Herausforderungen der Migrationspolitik. Diese Entwicklungspolitik wird auch nicht wegen der Migrationssituation so gestaltet, sondern weil es das Ziel der EU ist, Länder auf ihrem Weg hin zu Stabilität und Prosperität zu begleiten und zu unterstützen. Wir haben globale Herausforderungen, die wir gemeinsam angehen müssen. Außerdem hat Europa eine besondere historische Verantwortung gegenüber dem afrikanischen Kontinent.
Ich bin überzeugt, dass wir uns in der Entwicklungszusammenarbeit von alten Konzepten verabschieden und die Zusammenarbeit mit dem afrikanischen Kontinent neu denken müssen. Wir brauchen eine Zusammenarbeit auf echter Augenhöhe und wir müssen uns fragen, was unsere afrikanischen Partner denn eigentlich von uns erwarten. Was bedeutet wirtschaftliche Zusammenarbeit und echte Kooperation? Zusammenarbeit bedeutet nicht nur, dass es Investitionen von europäischen Firmen gibt. Echte Kooperation bedeutet auch, dass wir helfen, Infrastruktur in unseren Partnerstaaten zu entwickeln, die zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und damit langfristig zu einer Verbesserung der Einnahmen für Familien in Afrika führt.
Das heißt, dass wir von dem Ansatz wegmüssen, behaupten zu wissen, was die afrikanischen Partner brauchen. Wir müssen fragen, was sie selbst brauchen und wollen. Und wenn sie ihre Wünsche geäußert haben, müssen wir uns fragen, ob wir bereit sind, das zu geben und mit ihnen zu kooperieren. Ziel muss es immer sein, eine Win-Win-Situation für beide Seiten herzustellen.
In den letzten Jahren wird immer mehr der Klimawandel als Ursache für die starken Migrationsströme aus Afrika nach Europa genannt. Wie beurteilen Sie diese Auffassung?
Der Klimawandel hat sicherlich eine Auswirkung auf die Migrationsströme. Allerdings wirkt er sich mehr auf die Binnenmigration und Migration in Nachbarstaaten aus als auf Migration nach Europa. Mehr als 80 Prozent der Geflüchteten sind auf dem Weg in Nachbarländer und nicht in die weit entfernten Länder der EU. Und der Landwirt, der aufgrund des Klimawandels Probleme beim Bestellen seiner Felder hat, wird nicht nach Europa migrieren, sondern in die nächstgelegene Stadt gehen, um dort nach neuer Arbeit zu suchen. Der Klimawandel wird hauptsächlich dazu führen, dass Menschen innerhalb ihrer Heimatländer umsiedeln. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass die nach Europa auswandernden Menschen eher der besser ausgebildeten Mittelschicht afrikanischer Länder angehören. Schon der Schritt vom Land in die Stadt ist für viele Menschen schmerzhaft und schwierig. Der große Schritt nach Europa ist für viele noch unvorstellbar.
Jan Christoph Oetjen war von 2003-2019 für die FDP Mitglied des niedersächsischen Landtages. Seit 2019 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört dort der liberalen Fraktion Renew Europe an. Er wurde von der Fraktion in den Ausschuss TRAN (Verkehr und Tourismus), stellvertretend in den Entwicklungsausschuss (DEVE) und den Unterausschuss für Menschenrechte (DROI) sowie stellvertretend in den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) entsandt. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich auch mit dem Thema Migration. Im Rahmen einer „Fact Finding Mission“ der „Migration Policy Group“ des EU-Mittelmeer Dialogprogramms der Friedrich-Naumann-Stiftung besuchte er kürzlich den Senegal als einer der Hauptursprungsorte für die irreguläre Migration von Afrika nach Europa.