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Slowakei
Zugespitzter Wahlkampf: Muss Europa einen slowakischen Orbán befürchten?

Slowakei

Nach Monaten politischer Instabilität finden am 30. September in der Slowakei vorgezogene Parlamentswahlen statt. 

© picture alliance / EPA | JAKUB GAVLAK

Gewalt, Hate Speech und Prügeleien begleiten die letzte Phase des Wahlkampfes der vorgezogenen Parlamentswahlen in der Slowakei. Im Vordergrund des Wahlkampfes stehen die angeblich größten Bedrohungen für die Slowakei: Progressivismus, Liberalismus, LGBT- und Gender-Ideologie, illegale Migration, die USA, Brüssel, Soros NGOs, Medien und so weiter.  Vorbilder sucht man in Polen, in Ungarn und sogar in Russland. Wird die Slowakei am Ende ihren prowestlichen Kurs fortsetzen oder Populismus und prorussischer Propaganda verfallen? Aktuell sieht es so aus, als würden die noch unentschlossenen Wähler in der letzten Minute die Karten neu mischen, denn laut Umfragen haben sich mehr als 30% der Wähler noch nicht festgelegt.

Chaos, Enttäuschung und Angst

Nach der Ermordung des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová im Jahr 2018 kamen viele der korrupten Affären der lange regierenden SMER-SD Partei („Richtung - Sozialdemokratie“) ans Licht. Nach großen Protesten gewann die liberale Zuzana Čaputová die Präsidentschaftswahlen 2019. Ein Jahr später gewannen Igor Matovič und seine rechtskonservative Bewegung Oľano („Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten“) die Parlamentswahlen. Diese Wahlergebnisse sind ein Symbol des Kampfes gegen Korruption sowie ein Zeichen der Slowaken, das Schicksal ihres Landes zu ändern. Die rechts-konservative Viererkoalition unter Matovičs Führung hatte jedoch unmittelbar nach den Wahlen mit heftigen inneren Streitereien zu kämpfen. Auch der Wechsel des Premierministers brachte keine Besserung. Die Koalition zerbrach schließlich nach zweieinhalb Jahren, als das Parlament der Regierung von Eduard Heger (Oľano) im Dezember 2022 das Misstrauen aussprach. Das Kabinett regierte auf Antrag der Präsidentin mit eingeschränkten Befugnissen weiter, bis Heger im Mai 2023 endgültig aufgab und Čaputová gezwungen war, eine parteilose Beamtenregierung einzusetzen.

Die Slowakei hatte seit dem Jahr 2018, als Kuciak ermordert wurde und es landesweit zu Protesten kam, fünf Premierminister. Noch bevor die Slowaken den Mord an dem Journalisten und die Korruptionsskandale verarbeiten konnten, wurde die Welt und somit auch die Slowakei von der Covid-19-Pandemie und der darauffolgenden Wirtschaftskrise erschüttert. Als man wieder frei und ohne Masken atmen konnten, fiel Russland in die Ukraine ein, was eine hohe Inflation, steigende Preise, Angst um das Überleben in den Wintermonaten sowie allgemeine Zukunftssorgen auslöste. In einer Zeit, in der sich die Krisen überlappen, scheinen die Fehler der Vorgängerregierung in Vergessenheit zu geraten. Die Korruptionsfälle der SMER-SD-Partei sind angesichts des Wunsches der slowakischen Bürgerinnen und Bürger nach mehr „Ordnung“ offenbar belanglos geworden. Immer weniger Menschen in der Slowakei verbinden Robert Fico, den Parteischef von SMER, heute mit dem Mord an dem Journalisten. Stattdessen wird er mit einer Zeit assoziiert, in der Ordnung und Ruhe im Lande herrschten.

Das Chaos der letzten Jahre und die Spannung um den Krieg in der Ukraine trugen dazu bei, dass die SMER-SD in den Wahlumfragen seit Monaten führt, aktuell mit 19,4%. Zur Erklärung muss man die prorussischen Desinformationskampagnen in der Slowakei heranziehen, die sehr stark im öffentlichen Narrativ präsent sind und von den Anti-System-Parteien wie der SMER-SD, aber auch der rechtsextremen Republika weiterverbreitet werden. Sie haben die slowakische Bevölkerung inzwischen extrem beeinflusst und polarisiert. Das spiegelt sich auch in den aktuellen Wahlumfragen wider. In den letzten Wochen sitzt Robert Fico jedoch ein unerwarteter Gegner im Nacken, die liberale Partei Progresívne Slovensko („Progressive Slowakei“ - PS) mit 18,2%. Die Slowakei teilt sich derzeit in zwei Lager auf: populistische und pro-russische Sozialdemokraten und progressive Liberale.

Die Wahl zwischen Liberalismus und Populismus

Die Slowakei ist keinesfalls ein traditionell liberales Land und auch in Zukunft wird es wohl nicht liberal geprägt sein. Das Land hat eine lange christliche Tradition mit einer immer noch einflussreichen Rolle der Kirche. Die Gesellschaft ist überwiegend konservativ, was sich auch in der slowakischen Politik und Führung des Landes widerspiegelt (die Situation der LGBT-Gemeinschaft ist im europäischen Vergleich verheerend). Die liberalste Gesellschaftsgruppe, bei der die Progressive Slowakei Stimmen gewinnen kann, sind Jugendliche, die aber den geringsten Anteil der slowakischen Wählerschaft darstellen. Die Liberalen können aber noch mit anderen Argumenten punkten. So stellt die PS für viele eine Alternative dar, da sie als relativ neue Partei noch keine Gelegenheit hatte, zu regieren oder im Parlament zu sitzen. Das bedeutet auch, dass sie noch keine Affären oder Fehler begangen hat, die man ihr anlasten könnte. Außerdem gilt die PS als eine Partei, die eine sehr hochwertige Kandidatenliste voller Experten aufstellte, die zudem zu mehr als 50 % aus Frauen besteht. Und nicht zuletzt sieht es in den letzten Wochen vor den Wahlen so aus, dass es sich bei der PS um eine der wenigen Parteien handelt, die sich konsequent gegen Robert Fico‘s SMER positioniert und gleichzeitig die einzige Partei ist, die eine Chance hat, SMER in den Wahlen zu schlagen.

Die Tatsache, dass die PS eine künftige Koalition mit SMER entschieden ablehnt, könnte die unentschlossenen Wähler beeinflussen: Denn die Partei, mit der die PS in verschiedenen Umfragen abwechselnd den zweiten Platz belegt, ist  aktuell mit 15,1% die HLAS-SD („Die Stimme – Sozialdemokratie“). HLAS, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Peter Pellegrini angeführt wird, spaltete sich 2020 als gemäßigterer Flügel von der SMER ab. Eine Zusammenarbeit mit SMER nach den Wahlen wurde nicht eindeutig abgelehnt, ebenso wenig wie eine Zusammenarbeit mit der PS. Die Experten sagen, dass die Zukunft der Slowakei also in den Händen von Peter Pellegrini liegen könnte.

Die „Gefahr“ des Liberalismus vereint die um den Einzug kämpfenden Kleinparteien

Der Aufstieg der Liberalen beunruhigte vor allem auch die Parteien, die in diesen Wahlen um die 5-Prozent-Hürde kämpfen. Je näher der Wahltermin rückt, desto mehr verstärken sie ihre anti-liberale Rhetorik.

Große Angriffsfläche bietet das Wahlprogramm der PS: Kostenlose Verhütungsmittel, die vollständige Trennung von Kirche und Staat, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, ein progressiver Ansatz in Bezug auf Abtreibung, und Menstruationsurlaub für Frauen gehören für die konservativen Parteien zu den umstrittensten Punkten im Wahlprogramm der PS.

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine baute SMER seinen Wahlkampf darauf auf, Angst und Hass auf die Politik und die Werte des Westens zu schüren. Robert Fico macht nicht nur den Westen für den Krieg in der Ukraine verantwortlich, sondern erklärte schon seit Langem, dass er, sollte er an der Regierung beteiligt sein, jegliche slowakische Hilfe für die Ukraine einstellen werde. Rund um den Krieg in der Ukraine verbreiten Fico und seine Parteigänger prorussische Narrative und feiern nationale Feiertage in Anwesenheit von Vertretern der russischen und belarussischen Botschaften. Gleichzeitig betonen sie, dass es die Sowjetunion war, von der immer die Freiheit ausging, wie im Falle der Befreiung des slowakischen Territoriums aus den Händen der Nazis, während der Westen nur die nationalen Interessen und die Identität der Slowakei bedrohe. Zu diesen Bedrohungen gehören nach Ansicht vieler slowakischer Populisten, nicht nur Ficos, der Liberalismus als solcher und die Verbreitung der so genannten LGBT- und Gender-Ideologie sowie Nichtregierungsorganisationen, die angeblich von den USA und George Soros finanziert seien und ihrer Meinung nach Umfragen und auch Wahlen manipulieren würden.

Die Anhänger des pro-westlichen Kurses sind in den Augen slowakischer Populisten „liberale Faschisten“. Die konservative SNS („Slowakische nationale Partei“), die aktuell in Umfragen um 6% liegt, geht mit dem Slogan „Gemeinsam werden wir den Liberalismus stoppen!“ in den Wahlkampf. Die rechtsextreme Partei Republika, die aktuell auf 5,2% in den Umfragen gesunken ist, aber über ein höheres Potenzial verfügt und auf deren Kandidatenliste strafrechtlich verfolgte Personen und überzeugte Neonazis stehen, vertritt genau die gleichen Narrative wie SMER und SNS. Sollte SMER die Wahlen gewinnen, ist eine Koalition aus diesen drei Parteien gut möglich. Der Parteichef von SNS, Andrej Danko, kündigte in einer Diskussion bereits an, dass er einen starken rechtskonservativen Block nach dem Vorbild der polnischen PiS und der ungarischen Fidesz bilden möchte.

Auch die katholische Partei KDH („Christliche demokratische Bewegung“), die  aktuell bei 6% steht, reüssierte mit vulgärer  Anti-LGBT-Rhetorik. So bezeichnete ihr Vorsitzender Milan Majerský während einer live übertragenen Debatte die LGBT-Gemeinschaft als Plage. Der selbsternannte Verfechter traditioneller Werte, Boris Kollár, Vorsitzender der Partei SME-Rodina („Wir sind eine Familie“, aktueller Umfragewert 5,3%,), der 13 Kinder mit 11 Frauen hat, äußerte sich ebenfalls mit moralisierenden Äußerungen zu diesem Thema. Und jüngst schließen sich auch die slowakische katholische und die evangelische Kirche dem Kampf gegen Liberale und eine fortschrittliche Politik gegenüber der LGBT-Gemeinschaft an. Die Bischöfe veröffentlichten eine offizielle Erklärung, und die Priester in den Kirchen fordern die Menschen auf, keine Parteien zu wählen, die die sogenannte Gender-Ideologie und gleichgeschlechtliche Partnerschaften unterstützten.

Die einzige andere Partei mit liberalen Wurzeln, die der PS nahesteht, ist die SaS („Freiheit und Solidarität"), aktuell mit 7,4%. Obwohl die SaS in vielen Punkten mit der PS übereinstimmt, einschließlich ihrer Position zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, gibt es auch Punkte, in denen sich die beiden liberalen Parteien unterscheiden. Der Vorsitzende der SaS, Richard Sulík, macht dies klar und deutlich, denn er ist sich bewusst, dass es die PS ist, mit der er um Wähler kämpft. Besonders scharf kritisiert Sulík die Wirtschaftpolitik der PS, die tatsächlich eher linksorientiert ist.

Der ehemalige Ministerpräsident und selbsternannte Kämpfer gegen die Mafia und Korruption, Igor Matovič (OĽaNO), prügelte sich jüngst mit seinen Gegnern auf der Straße. Nur wenige nehmen ihn ernst, und da seine Umfragewerte (derzeit ca. 7-Prozent für seine Koalition) sinken, ist es durchaus möglich, dass der Wahlsieger der letzten Wahl es dieses Mal nicht einmal ins Parlament schaffen wird.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Zukunft der Slowakei ausgesprochen ungewiss und von vielen unberechenbaren Faktoren abhängig ist. Besorgniserregend ist jedoch der Aufstieg der antiliberalen Kräfte in der Slowakei und das äußerst begrenzte Koalitionspotenzial der Progressiven Slowakei. Doch wie es in der Slowakei üblich ist, werden viele Wähler in letzter Minute wählen und ihre Entscheidung auf der Grundlage der letzten emotionalen Botschaft treffen, die sie aus dem Wahlkampf der Parteien mitnehmen. 

Barbora Krempaská ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.