China Spektrum
„Autonome Beschränkung“
Was ist passiert?
Die Chinesische Akademie für Geschichte (中国历史研究院), ein dem Staatsrat unterstelltes Forschungsinstitut, veröffentlichte am 24. August einen Artikel mit dem Titel „Eine Neubewertung der Abschottungspolitik in den Ming- und Qing-Dynastien“. Der Begriff „Abschottungspolitik“ (闭关锁国), oder wörtlich übersetzt die „Beschränkung des Zollraums und Abriegelung des Landes“, beschreibt in der chinesischen Geschichtswissenschaft eine Reihe zusammenhängender Maßnahmen vom 15. bis ins 17. Jahrhundert. Dazu zählten unter anderem die Einschränkung des nicht-staatlichen Seehandels und der Besiedlung der Küstengebiete. Diese Politik der Abschottung nach außen wurde in der chinesischen Geschichtsschreibung lange als ein Hauptgrund für Chinas „Jahrhundert der Demütigung“, also die wirtschaftliche Rückständigkeit und Fremdbestimmung durch koloniale Mächte seit der späten Qing Dynastie, ausgemacht.
Der Artikel plädierte dagegen für eine Neubewertung:
- Der Begriff „Abschottungspolitik“ sei von einer westlichen Perspektive geprägt und eine eurozentrische Beschreibung der Außenpolitik der Ming- und Qing-Dynastien.
- Der Begriff „autonome Beschränkung des Zollraums“ (自主限关) sei passender. Er erkenne die Bemühungen der chinesischen Herrscher zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und zum Schutz vor der Aggression westlicher Kolonialmächte an.
Verfasst hat den Artikel eine Forschungsgruppe der 2019 gegründeten Akademie. Deren Leiter Gao Xiang (高翔) ist nicht nur studierter Historiker, er hat auch in der Kommunistischen Partei Karriere gemacht und war Vize-Direktor der chinesischen Cyber-Verwaltung (Cyberspace Administration of China, kurz CAC). Dieser obersten Aufsichtsbehörde zur Regulierung des chinesischen Internets kommt eine wichtige Rolle bei Zensur und Propaganda zu.
Weil Gao Xiang ein ranghoher Parteifunktionär und die Akademie eng mit parteistaatlichen Institutionen verflochten ist, wirft der Artikel die Frage auf, ob China sich weiter von der Reform- und Öffnungspolitik der vergangenen Jahrzehnte abwenden wird.
Die chinesische Führung hat dazu unterschiedliche Signale gesendet. So sagte der scheidende Premierminister Li Keqiang bei einem Besuch in der Metropole Shenzhen – eines der bedeutendsten Wirtschaftszentren Chinas und oft Vorreiter bei wirtschaftlichen Reformen – die Öffnung Chinas gegenüber dem Ausland sei „eine Tür der Möglichkeiten, die wir niemals schließen dürfen“. Die Rede war jedoch in China nicht zugänglich. Staats- und Parteichef Xi betonte dagegen im August bei einem Besuch der nordostchinesischen Provinz Liaoning, in der vorwiegend Staatsunternehmen angesiedelt sind, China müsse „auf sich selbst vertrauen“ und sich aus „eigener Kraft entwickeln“. Eine Botschaft, die auch auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei im Oktober bekräftigt wurde.
Was sagen chinesische Netzbürgerinnen und Netzbürger?
Für einen geschichtswissenschaftlichen Artikel schlug der Beitrag hohe Wellen auf chinesischen Diskussionsplattformen. Er erhielt zeitweise mehr Aufmerksamkeit als beispielsweise die Nachricht vom Tod des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow oder die jüngste Weltraummission des Landes. Die Kommentare zum Thema wurden teils stark zensiert, vermutlich auch deshalb, weil die es hier um die offizielle Geschichtsdeutung und indirekte Infragestellung aktueller Politik geht. Trotzdem sind auf Weibo unter dem Suchwort „autonome Beschränkung des Zollraums“ 126 Beiträge auffindbar, die vom 24. August bis 30. September veröffentlicht wurden und unterschiedliche Meinungen zum Thema widerspiegeln.
Nur etwa zehn Prozent der Beiträge sprechen sich für die Begriffsänderung aus. Sie führen unter anderem folgende Argumente an:
China solle die Diskursmacht über die eigene Geschichtsschreibung zurückerlangen.
„Ob ‚Abschottungspolitik‘ oder ‚autonome Zollbeschränkung‘ – im Kern geht es um einen Kampf über die Deutungshoheit. Es wird lange dauern, das westliche Diskurssystem zu dekonstruieren und etwas Neues aufzubauen.“
Der Ansatz der „autonomen Beschränkung“ sei auch heute noch von Relevanz, sogar mit Blick auf die Aktivitäten chinesischer Unternehmen. Ein beispielhafter Nutzer führt den Fahrtdienstvermittler Didi als Beispiel an:
„[…] Wir müssen bei der Öffnung vorsichtig sein. Zum Beispiel können wir [den Markt] nicht offen halten für Unternehmen wie Didi, das ohne Rücksicht auf die nationale Sicherheit einen Börsengang in den USA angestrebt hat.“
Eine große Mehrheit (90 Prozent) der untersuchten Beiträge lehnt die Grundaussage des Artikels ab. Sie argumentieren, die Isolation Chinas könne zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rückschritten führen. Ein Nutzer verweist auf Nordkorea:
"Ein sehr aktuelles Beispiel sind unsere Nachbarn unter Kim [in Nordkorea]: Wenn Sie glauben, dass es den Menschen dort gut geht, dann ist es gut, das Land abzuschotten. Wenn nicht, dann ist es wohl nicht gut."
Weitere Nutzer argumentieren, Isolation schütze die Interessen der Herrschenden, nicht die der Bevölkerung.
"Letztlich geht es um die Öffnung des Marktes und der Kapitalflüsse! (…) Und genau das haben die aufeinanderfolgenden Herrscher-Dynastien in unserer Geschichte nur widerwillig getan. Weil es um ihre grundlegenden Interessen ging!"
Was bedeutet das?
Die Debatte im chinesischen Netz spiegelt die Besorgnis der Nutzer:innen wider, dass der Artikel ein richtungsweisendes Indiz für die Abkehr von der Öffnungspolitik der vergangenen Jahrzehnte ist. In den letzten Jahren hat die Partei- und Staatsführung unter Xi immer stärker die Notwendigkeit der Autonomie Chinas betont. An oberster Stelle steht dabei die Produktion von zentralen Technologien und die Absicherung von Lieferketten, oft mit Verweis auf die politischen Spannungen mit den USA. Die Binnenwirtschaft zu stärken und Chinas Beteiligung am internationalen Handel in diesem Sinne zu gestalten ist Teil der von Xi verkündeten Strategie der „Zwei Kreisläufe“ in der Wirtschaftspolitik.
Die Diskussion über die Abschottungspolitik der Ming- und Qing-Dynastien dreht sich letztlich um die Frage, wie sehr sich China international integrieren oder stärker „autonom beschränken“ soll. Die Umdeutung historischer Ereignisse im Sinne einer nationalistischen, auf Eigenständigkeit bedachten Auslegung soll eine Kontinuität des Handelns der Partei aufzeigen und dieses legitimieren. Der Artikel dieser parteistaatlichen Institution untermauert dabei den Anspruch der KPC auf die Deutungshoheit über die chinesische Geschichte – und darauf, den zukünftigen Kurs des Landes zu bestimmen.
Angesichts zunehmender Werte- und Interessenkonflikte mit westlichen Staaten erschwert Chinas ideologische Abschottung durch Zensur und Internetsperren, aber auch die Bemühungen einer wirtschaftlichen Entflechtung den politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Austausch. Gleichzeitig wird chinesischen Akteuren im Ausland mit mehr Skepsis begegnet. Auch „autonome Beschränkung“ hat unerwünschte Folgen.
Dies ist ein Auszug aus dem aktuellen China Spektrum, welches in Kooperation mit dem Mercator Institute for China Studies (MERICS) und dem China-Instituts der Universität
Trier (CIUT) erarbeitet wurde.